Blockade von Leningrad: "Der Tod haust in der Stadt. Menschen sterben wie die Fliegen"

Hungertote werden auf dem Leningrader Wolkowo-Friedhof begraben. Bild: RIA Novosti Archiv, Bild #216 / Boris Kudoyarov / CC-BY-SA 3.0

Kriegsverbrechen: Opfer und Überlebende berichten in Tagebüchern und Gedichten über ihr Leben und Sterben. Der geplante Hungertod von Millionen (Teil 2).

Der erste Teil der Artikelserie zeigte das Ausmaß der Blockade von Leningrad und den deutschen Entschluss eine Kapitulation, falls diese erfolgen sollte, nicht anzunehmen.

Was in Leningrad geschah

In der Erinnerung an das Grauen der Blockade von Leningrad soll hier nun nach allen notwendigen Zitaten, die den abgrundtiefen menschenverachtenden Zynismus der Deutschen im Zweiten Weltkrieg belegen, und den Zahlen, die das Ausmaß des Schreckens erkennen lassen, auch die Opfer selber zu Wort kommen: Die Menschen, die durch "eine wissenschaftlich begründete Methode vernichtet werden" sollten.

Eine Warnung an sensible Leserinnen und Leser ist an dieser Stelle angebracht: Diese Texte gehen an die Grenze des Erträglichen.

Ein anderer Zugang zur Blockade von Leningrad ist die siebte Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch. Sie wurde von Schostakowitsch im Angesicht der Blockade komponiert, dort am 9. August 1942 aufgeführt und im Radio in die ganze Sowjetunion übertragen (hier die Originalaufnahme).

Wer lieber Texte hören möchte, sei auf dieses Hörspiel verwiesen, das ausschließlich mit authentischen Texten arbeitet.

Olga Bergholz, Schriftstellerin und "Stimme Leningrads":

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Hier liegen Leningrader.
Hier liegen Bürger – Männer, Frauen und Kinder.
Neben ihnen Soldaten der Roten Armee.
Mit ihrem Leben
Verteidigten sie Dich, Leningrad,
Die Wiege der Revolution.
Nicht alle ihre edlen Namen können wir hier nennen,
So viele sind es unter dem ewigen Schutz von Granit.
Aber wisse, der du diese Steine betrachtest:
Niemand ist vergessen und nichts wird vergessen.

(Dieses Gedicht ist auf eine Granitmauer eingemeißelt, die den Piskarjowskoje-Gedenkfriedhof abschließt. Eine Massenbegräbnisstätte von Opfern der Blockade und Teilnehmern an der Verteidigung Leningrads).

Lidia Ginsburg, Schriftstellerin:

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Weshalb war der Hunger (die Deutschen hatten das begriffen) der stärkste Gegner? Weil Hunger permanent gegenwärtig ist, sich nicht abstellen lässt. Er ist überall anwesend und macht sich unaufhörlich bemerkbar; am qualvollsten, am schlimmsten ist er während des Essens, wenn sich das Essen mit entsetzlicher Geschwindigkeit dem Ende nähert, ohne den Hunger zu stillen. (…)

Mit dem entfremdeten Körper geschehen abscheuliche Dinge: Er degeneriert, schrumpft, schwillt an, und das gleicht keiner guten alten Krankheit, weil die Veränderungen sich wie an toter Materie vollziehen. Manche nimmt der Betroffene nicht einmal wahr. "Er ist doch schon ganz aufgedunsen", sagt man von ihm, während er noch nichts davon ahnt.

Die Menschen wussten lange nicht, ob sie aufgedunsen waren oder zugenommen hatten. Plötzlich begreift der Mensch, dass sein Zahnfleisch anschwillt. Entsetzt berührt er es mit der Zunge, betastet es mit dem Finger. Vor allem nachts kann er lange nicht damit aufhören. Er liegt da und befühlt konzentriert etwas Taubes und Schleimiges, das gerade wegen seiner Unempfindlichkeit schrecklich ist: In seinem Mund ist eine Schicht toter Materie.

Jura Rjabinkin:

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1. und 2. Oktober (...) Ich bin sechzehn Jahre alt, aber ich habe die Gesundheit eines Sechzigjährigen. Ich hoffe, dass mein Tod bald eintritt. Ich hoffe, dass meine Krankheit meiner Mutter nicht zu sehr zur Last fallen wird. Mir gehen ständig die verrücktesten Gedanken durch den Kopf. Eines Tages werde ich, oder jemand anderes, diese Zeilen vielleicht mit einem verächtlichen Lächeln lesen (zumindest).

Aber im Moment ist mir das egal. Seit ich denken kann, habe ich einen Traum: ein Seemann zu sein. Nun hat sich dieser Traum in Rauch aufgelöst. Was war also der Sinn meines Lebens? Wenn ich nicht auf die Marinespezialschule gehe, werde ich Partisan oder so, Hauptsache, ich sterbe nicht umsonst. Wenn ich sterbe, dann will ich im Kampf für mein Land sterben ...

Juri Uthekin, elf Jahre, Tagebuch:

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22. Januar.
Frühstück – wie gestern, Butter (5 Gramm).
Mittagessen – ein Stück Brot, Nudelsuppe (7 Nudeln), Hirsebrei (2 Esslöffel).
Abendessen – wie gestern, eine Brotkante erwischt.
22. Januar – heute wurde Onkel Sascha beerdigt. (...)

28. Januar.
Frühstück – ein Stück Brot ohne Butter und süßer Tee.
Mittagessen – ein Stück Brot, Nudelsuppe mit Kaulbarsch, Nudeln.
Abendessen – ein Stück Brot, eineinhalb Eierkuchen, eine Schokopraline, eine große Tasse Tee.

29. Januar.
Frühstück – ein Stück Brot ohne Butter, eine große Tasse gesüßten Tee.
Mittagessen – ein Stück Brot, Nudelsuppe, eineinhalb Esslöffel Nudeln.
Abendessen – ein Stück Brot, saurer Kissel (fingerdick).

Seit wir hier sind, sind schon neun Leute gestorben. (...)

Marija Dmitrijewa:

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Sie saß auf einem Sofa neben einem Kanonenofen. In einem Arm hielt sie einen kleinen Säugling, er war etwa drei Monate alt, vielleicht auch jünger. Und in ihrem anderen Arm quer zu ihren Beinen lag ein Junge, etwa vier Jahre alt. Ich trat näher heran, schaute sie an und fing an zu fragen, es war ja halbdunkel, das Licht war zu schwach. Ich beleuchtete sie mit meiner Taschenlampe.

Da sah ich, daß der halbe Kopf der Frau von einem Splitter abgerissen worden war. So furchtbar sah alles aus. Sie war tot. Und das kleine Baby, das erst zwei oder drei Monate alt war, war noch lebendig und unversehrt.

Wie war das nur möglich! Und der Junge, der der Frau auf den Knien lag (er war schon ziemlich groß für seine drei oder vier Jahre). Er war am Kreuz und an beiden Beinchen schwer getroffen.

Jura Rjabinkin:

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10.November: Noch eine Woche, eine Dekade, ein Monat, und wenn ich bis Silvester nicht bei Bombenangriffen umkomme, werde ich komplett angeschwollen sein. Ich sitze hier und weine... Ich bin doch erst sechzehn! Schweinehunde, wer diesen ganzen Krieg angezettelt hat. (...)

Lebt wohl, meine Kinderträume! Ihr werdet nie wieder zu mir zurückkehren. Die ganze Vergangenheit sollte einfach ausgelöscht werden, dann wüsste ich auch nicht, was Brot ist, was Wurst ist! Und könnte mich auch nicht an den Gedanken an das frühere Glück berauschen! (…)

Spätestens um 5 Uhr morgens muss ich unbedingt schon in der Schlange stehen. Wir sind alle äußerst angespannt. Von Mama höre ich seit langem kein ruhiges Wort mehr. Egal worum es im Gespräch geht – nichts außer Schimpftiraden, Geschrei, Hysterie und dergleichen. Der Grund... Es gibt viele Gründe – Hunger, die ständige Angst vor Artilleriebeschuss und Luftangriffen. In unserer Familie – die ja nur aus drei Personen besteht – herrscht ständiger Zwist, großer Streit... Mama teilt etwas, Ira und ich schauen genau hin, dass es ja genau geteilt ist.

Alexander Schoschmin:

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Eine alte und schon total erschöpfte Frau, die lange angestanden hatte, rutschte plötzlich aus und stürzte. Die Untertasse fiel zu Boden, und die "Eier" gluckerten aufs Eis. Die Frau kroch kniend an den Unglücksort und wollte den vereisten Weg ablecken. Doch eine andere Frau war ihr zuvorgekommen und hatte die Sache schon so gut wie erledigt.

Zum ersten mal in meinem Leben hörte ich, daß ein Mensch im Wutanfall wie ein Hund knurren kann. Dann fiel die Frau langsam auf die Seite und blieb bewegungslos liegen. Der Verlust ihrer Eierration war für sie wohl unerträglich. Die tote Frau lag auch am nächsten Tag an gleicher Stelle mit lockerem Schnee bedeckt. Ihre leere Untertasse lag nach wie vor neben ihr.

Lidija Ochapkina:

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Insgeheim wünschte ich mir, zusammen mit den Kindern zu sterben, und lebte in panischer Angst, zum Beispiel auf der Straße getötet zu werden. Dann würden die Kinder schrecklich weinen, nach mir rufen und schließlich in dem kalten Zimmer verhungern.

Meine Ninotschka weinte ständig, lange und gedehnt und konnte nicht einschlafen. Ihr Weinen war wie ein Stöhnen und brachte mich schier um den Verstand. Damit sie einschlief, ließ ich sie mein Blut saugen. Längst hatte ich keine Milch mehr in der Brust, ja, ich hatte überhaupt keine Brüste mehr, sie waren verschwunden.

Deshalb stach ich mir mit einer Nadel über dem Ellenbogen in den Arm und legte die Kleine an diese Stelle. Sie saugte leise und schlief ein.

Wenn ich wegging, weinte meine Tochter immer. Um sie zu beruhigen, gab ich ihr immer einen kleinen Zwieback aus Roggenmehl, an dem sie dann lange lutschte. Auch diesmal hatte ich ihr einen gegeben. Aber schon beim Abschließen der Tür hatte ich gehört, wie sie anfing zu weinen. Tolik hatte ihr den Zwieback weggenommen, ich hatte ihm keinen gegeben, weil ich keinen mehr besaß.

Ich schlug ihn zum ersten Mal im Leben. Er weinte laut und tat mir sehr leid. Ich sagte: "Wenn du Ninotschka noch einmal etwas wegnimmst, werfe ich dich auf die Straße." Er antwortete: "Tu's nicht, Mama, ich mach's nicht wieder." Ich küsste ihn, hüllte ihn in die Decke und ging.

Jura Rjabinkin:

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15. Dezember: Jeder Tag hier in Leningrad bringt mich dem Selbstmord näher. Wieder keine Nachrichten über die Evakuierung. Mutter und Ira sind da. Ich kann ihnen kein Stück Brot wegnehmen. Ich kann nicht, weil ich weiß, was heute ein Krümchen Brot bedeutet.

Doch ich sehe, daß sie mir von sich abgeben, und ich, Gemeiner, klaue ihnen heimlich die letzten Krümchen. Und in welchem Zustand befinden sich beide, wenn Mutter mir gestern mit Tränen in den Augen sagte, sie wünschte, daß ich an dem Stück Brot von 10-15 Gramm, das ich ihr und Ira geklaut hatte, ersticken würde.

Vor zwei Tagen hat man mich geschickt, Bonbons zu holen. Ich habe anstatt Bonbons Kakao mit Zucker gekauft (ich wußte, daß Ira es nicht essen würde, dann wäre mein Teil größer).

Ich habe mir eine Geschichte ausgedacht, dass man mir drei Tafeln Kakao aus der Hand gerissen hätte, habe zu Hause eine Komödie unter Tränen vorgetragen, habe der Mutter mein Ehrenwort als Pionier gegeben, daß ich keine Tafel genommen hätte ... Und dann, mit meinem harten Herzen die Tränen der Mutter und ihren Kummer ansehend, weil sie ohne Süßigkeiten blieb, aß ich heimlich Kakao. (...)

Ich bin ein unwürdiger Sohn meiner Mutter und ein ehrloser Bruder meiner Schwester. Ich bin ein Egoist, ein Mensch, der in einer schweren Stunde alle seine Verwandten und Nächsten vergißt. Und ich tue so was in einer Zeit, da Mutter völlig erschöpft ist. Ich will nur zwei Dinge: Ich will selbst sterben, und meine Mutter soll dieses Tagebuch nach meinem Tod lesen.

Essen! Ich will essen!

Soja Reschetkina:

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Der letzte Dezembertag im ersten Kriegsjahr. Morgen beginnt das Neue Jahr. Was bringt es uns? Ich wünsche mir, dass der Krieg schneller zu Ende geht. Wann ist nur dieses unerträgliche Leid zu Ende? Wir saßen am Bett unseres völlig kraftlos gewordenen Vaters, ich, meine Mutter und mein Bruder Jakow.

Dabei aßen wir als Neujahrsgericht je ein Schälchen Sülze aus Tischlerleim. Dann bekam jeder noch ein kleines Bröckchen Brot, das wir zu diesem Fest sorgfältig gespart hatten. Wir spülten alles mit Wasser hinunter und gingen ins Bett. Ich liege im Bett, apathisch und kraftlos. Nein, ich muss aus dem Bett und durch das Zimmer wandern. Keinesfalls liegen bleiben. Sonst sterbe ich (...)

Der Tod! Welch ein schreckliches und unverständliches Wort. Und ich bin erst 18. Immer häufiger höre ich dieses Wort. Immer öfter haucht der Tod mir ins Genick. Gestern hat ein kleiner Junge den Brotladen betreten, er war schon einem Greis ähnlich. Er lehnte sich an die Wand und begann plötzlich ganz langsam zu Boden zu rutschen, setzte sich in einer ungewöhnlichen Pose (...)

Der Junge war tot. Der stechende Geruch des Brotes hat ihm den Rest gegeben.

Jelena Skrjabina:

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Der Tod haust in der Stadt. Menschen sterben wie die Fliegen. Als ich heute auf der Straße ging, tastete sich vor mir ein Mann entlang. Er konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Als ich ihn einholte, blickte ich unwillkürlich in sein unheimlich fahles Gesicht. Ich dachte bei mir: Er wird bestimmt bald sterben.

Hier konnte man wirklich sagen, daß der Tod dem Menschen ins Gesicht geschrieben war. Nach einigen Schritten drehte ich mich um, blieb stehen und beobachtete ihn aufmerksam. Er ließ sich auf den Prellstein nieder, verdrehte die Augen und glitt dann langsam auf die Erde. Als ich zu ihm hinkam, war er bereits tot.

Der Hunger hat die Menschen so sehr geschwächt, daß sie sich gegen den Tod gar nicht mehr wehren können. Sie sterben als schliefen sie ein. Und die sie umgebenden, halblebendigen Menschen nehmen sie überhaupt nicht zur Kenntnis.

Der Tod ist heute eine Erscheinung, die einen auf Schritt und Tritt verfolgt. Wir haben uns mit ihm abgefunden, es herrscht völlige Gleichgültigkeit – wenn nicht schon heute, morgen erwartet ein solches Schicksal bestimmt jeden von uns. Wenn man in der Frühe aus dem Haus geht, sieht man vor der Tür und auf der Straße Leichen liegen. Die Leichen bleiben lange liegen, weil niemand da ist, der sie wegbrächte.

Jura Rjabinkin:

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3. Januar: Das dürfte fast schon der letzte Eintrag ins Tagebuch sein. Ich fürchte, dass ich diesen... und dieses Tagebuch als solches nicht abschließen und auf der letzten Seite "Ende" werde schreiben können. Stattdessen wird jemand anders dort das Wort "Tod" eintragen. Dabei will ich doch so sehr leben, glauben, fühlen!

Aber... evakuiert wird erst im Frühjahr, wenn die Züge auf der Nordeisenbahn wieder rollen, und bis zum Frühjahr werde ich nicht überleben. Ich bin komplett angeschwollen, jede Zelle meines Körpers enthält zu viel Wasser. Mama und Ira haben mit mir gebrochen. Sie werden mich verlassen, Mamas Nerven sind in so einem Zustand, dass sie den Bezug zur Realität fast verloren hat, und...

Wie es schon vorgekommen ist, und wie sie es mir jeden Tag sagt, werden sie und Ira irgendwie hier wegkommen, ich aber nicht.

Oh Gott, was soll ich bloß tun? Denn ich werde sterben, sterben, und dabei will ich so sehr leben, leben, leben! Aber vielleicht wird zumindest Ira überleben. Ich fühle mich so schrecklich... Mama ist jetzt so ausfallend, manchmal schlägt sie mich, und ständig schimpft sie herum. Aber ich nehme es ihr nicht übel – ich bin ein Parasit, ein Klotz am Bein für sie und Ira. Ja, der Tod liegt vor mir, der Tod. Und es gibt keine Hoffnung, nur noch die Angst, dass ich meine eigene Mutter und Schwester mit in den Tod reiße.

Vera Kostrowizkaja:

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Mit dem Rücken am Pfosten sitzt ein Mann im Schnee, in Lumpen gehüllt und mit einem Rucksack auf den Schultern ... Wahrscheinlich war er auf dem Weg zum Finnischen Bahnhof müde geworden und hatte sich zum Ausruhen hingesetzt. Zwei Wochen lang kam ich jeden Tag auf meinem Gang zum und vom Krankenhaus an ihm vorbei.

Er saß da: 1. Ohne seinen Rucksack, 2. ohne seine Lumpen, 3. in seiner Unterwäsche, 4. nackt, 5. als Skelett mit herausgerissenen Eingeweiden. Im Mai brachten sie ihn weg."

Jura Rjabinkin:

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6. Januar. Ich bin fast völlig unfähig zu gehen oder zu arbeiten. Ich habe fast überhaupt keine Kraft mehr. Auch Mutter kann kaum noch gehen. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie sie sich fortbewegen kann. Sie schlägt mich jetzt ständig, schimpft mit mir und schreit mich an.

Sie hat diese nervösen Wutanfälle, und dann kann sie meinen Anblick nicht ertragen, diese nutzlose Person, schwach vor Energiemangel, hungernd und leidend, kaum in der Lage, von einem Ort zum anderen zu schlurfen, immer im Weg und "vorgebend", krank und hilflos zu sein.

Aber diese Hilflosigkeit ist kein Schauspiel. Sie ist es nicht! Es ist keine Täuschung, meine ganze Kraft verlässt mich, schwindet, treibt davon. Und die Zeit dehnt sich aus, immer weiter, so lange, so lange... Oh Gott, was geschieht mit mir?

Juras Schwester Irina Ivanovna erinnert sich an die Evakuierung im Januar: "Ich schob den Schlitten. Jura blieb zu Hause, Mutter konnte ihn nicht mit aufladen, schaffte es einfach nicht, und er konnte nicht gehen. Wir konnten ihn offenbar nicht transportieren, ich weiß nicht. (…) Als wir zu zum Bahnhof gingen, wollte Mutter immer zurück und ihn holen: "Jura ist noch dort! Jura ist noch dort."

Olga Melnikowa-Pisarenko:

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Im Morgengrauen haben wir auf dem Eisspiegel (des Ladogasees) fünf bis sechs Kinderleichen gefunden. Sie lagen schon tot, und ihr Tod war darauf zurückzuführen, daß sie bei der Fahrt aus den Händen ihrer Mütter geschleudert wurden. Man kann sich die Situation leicht vorstellen. Da fährt der Wagen unerwartet über eine Eisscholle, es gibt einen Ruck, die Mutter hat keine Kraft, ihr Kind zu halten.

Tanja Savicheva, zwölf Jahre, Leningrad

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28. Dezember 1941 um 12.30 Uhr morgens – Schenja starb.
25. Januar 1942 um 3 Uhr nachmittags – Oma starb.
17. März um 5 Uhr morgens – Ljoka starb.
13. April um 2 Uhr morgens – Onkel Wasja starb.
11. Mai um 4 Uhr nachmittags – Onkel Joscha starb.
13. Mai um 7.30 Uhr morgens – Mama starb.
Die Savichevs sind tot. Alle sind tot. Allein Tanja ist noch übrig.

Tanja Savicheva starb zwei Jahre später und wurde nur 14 Jahre alt.

Im dritten und letzten Teil wird das deutsche Gedenken untersucht.

Quellen:

Ales Adamowitsch, Daniil Granin: Blockadebuch

Lidia Ginsburg: Aufzeichnungen eines Blockademenschen.

Walter Kempowski: Echolot. Barbarossa '41

Jelena Skrjabina: Leningrader Tagebuch.