Blogs hinken Nachrichtenmedien 2,5 Stunden hinterher
Trotzdem sind nach einer umfrangreichen Studie von US-Wissenschaftlern einige politische Blogs schneller als die Nachrichtenmedien beim Aufgreifen von News
Traditionelle Medien haben den Ruf langsam zu sein. Das trifft zu bei den Nachrichten, die in Printmedien veröffentlicht werden. Sie sind immer zu spät dran gegenüber dem Internet oder anderen 24-Stunden-Medien wie dem Radio oder dem Fernsehen. Aber wenn es darum geht, wer schneller ist, dann siegen weiterhin wenig erstaunlich die Online-Redaktionen der traditionellen Medien über die Blogger. Normalerweise haben sie, so eine Studie von Jure Leskovec, Lars Backstrom und Jon Kleinberg von der Cornell bzw. Stanford University über die letzten drei Monate der US-Präsidentschaftswahl vom 1. August bis zum 31. Oktober 2008, einen Vorsprung von 2,5 Stunden.
Angeblich handelt es sich um die erste Studie, die anhand einer riesigen Datenmenge genau analysiert, wo welche Nachrichten online zuerst veröffentlicht worden sind, wie sie sich verbreiten und wann sie wieder im digitalen Nirwana verschwinden. Analysiert wurden 20.000 Websites von Online-Medien, die in Google News vertreten sind, und 1,6 Millionen Blogs sowie 90 Millionen Texte, um bestimmte Formulierungen und kurze Sätze sowie ihre Abwandlungen zu verfolgen. Ausgewählt wurden bestimmten Menschen zugeordnete Zitate, die sich gut verfolgen lassen und sich auch nach und nach verändern. Die Variationen seien sogar sehr hoch, sagen die Wissenschaftler. Längere Textabschnitte oder ganze Artikel lassen sich hingegen noch nicht wirklich nachverfolgen, da die Komplexität hier immens ansteigt.
Die Analyse dieses 350 Gigabyte großen Datensets mit ausgefeilten Algorithmen verstehen die Wissenschaftler, wie sie in ihrer Studie "Meme-tracking and the Dynamics of the News Cycle" daher auch als einen Beitrag zur Mem-Forschung, also wie sich Informationseinheiten, die mit Genen analog gesetzt werden, global und lokal ausbreiten, welche Mutationen oder Variationen sie mit der Ausbreitung von einem Wirt bzw. Medium zum anderen durchlaufen, welche zeitlichen Muster der Verbreitung sich erkennen lassen, welche Meme miteinander konkurrieren und welche Variationsmuster über die Zeit entstehen. Meme tauchen als Neuigkeiten auf, konkurrieren um die Aufmerksamkeit der Leser und werden schließlich von neuen Memen in Nachrichten verdrängt. Dazu siehe auch die Darstellung auf memetracker.org.
Einer der viel zitierten Sätze stammte etwa von der Vizepräsidentschaftskandidatin der Republikaner, Sarah Palin: "“Our opponent is someone who sees America, it seems, as being so imperfect, imperfect enough that he’s palling around with terrorists who would target their own country.” Der Satz lässt sich in zahlreiche Zitatsplitter zerlegen, die in den Medien weitergereicht und von den Wissenschaftlern verfolgt wurden. Einfacher sind natürlich prägnante und kurze Sätze, die kaum variiert werden. Der Ausdruck, der die größte Aufmerksamkeit gefunden hatte, stammte von Barack Obama und war auf Sarah Palin gemünzt: "lipstick on a pig". Gefolgt wurde dieser Satz durch den zu Beginn der Finanzkrise geäußerten: "our entire economy is in danger".
112 Millionen solcher Sätze und Äußerungen wurden in den Daten gefunden, aus denen all die ausgeschlossen wurden, die weniger als vier Wörter hatten und weniger als 10 Mal auftauchten. Das ergab immer noch 47 Millionen Sätze, von denen schließlich 22 Millionen unterschiedlich waren, deren Varianten dann in den Nachrichtenmedien und Blogs gesucht wurden.
Nach der Analyse kommt der Aufmerksamkeitsgipfel eines Satzes in den Nachrichtenmedien durchschnittlich 2,5 Stunden vor dem in der Blogosphäre. Während einiger Stunden nach dem ersten Gipfel stelle sich eine Art Herzrhythmus der Erwähnungen ein, in denen die Äußerung zwischen den Nachrichtenmedien und den Blogs hin und her schwingen. Um diesen charakteristischen Rhythmus mit einem deutlichen wöchentlichen Muster zu erzeugen, seien als Verhaltensmechanismen nur Imitation und Bezugnahme auf Neuigkeiten erforderlich, durch die alte Nachrichten verdrängt werden.
Die zeitliche Variation ist nicht abhängig davon, wie viele Sätze zirkulieren, die Menge ist in etwa immer dieselbe über die drei Monate gewesen, sondern wie stark die Aufmerksamkeit schwankt. Allerdings gehören zu den schnellsten Medien, gemessen am Beginn von tausend Threads, einige politische Blogs wie Hot Air, Talking Points Memo, Huffingtonpost.com, Digg.com oder dailykos.com, die schnellsten Nachrichtenmedien hinken hinter diesen Blogs und unabhängigen Medien hinterher: blogs.abcnews.com, uk.reuters.com, cnn.com, washingtonpost.com, online.wsj.com und ap.org.
3,5 Prozent der Nachrichtenthreads kamen aus Blogs und wurden erst dann von "normalen" Nachrichtenmedien aufgegriffen. Und auch wenn Blogs die Neuigkeiten normalerweise später aufgreifen, verlängern sie auch entsprechend die Aufmerksamkeitsspanne. Zeitlich versetzt gleichen sich die Aufmerksamkeitskurven, wobei der "Verfall" der Aufmerksamkeit in den Nachrichtenmedien schneller vor sich geht, als der Aufbau. Bei den Blogs ist das übrigens nicht der Fall, hier werden Nachrichten offenbar länger diskutiert und weniger schnell durch neue verdrängt. Die Rolle von Twitter ging in die Studie nicht ein.
Den Nachrichtenzyklus könne man mit natürlichen Prozessen vergleichen. Als Beispiel führen die Wissenschaftler die Interaktionen von Arten in einem Ökosystem an. Die Nachrichtenthreads würde hier die Rolle der Arten einnehmen, die um Ressourcen, hier die mediale Aufmerksamkeit, konkurrieren und sich selektiv reproduzieren, also sich in weiteren Artikeln oder Blogs fortschreiben. Der Unterschied zu natürlichen Systemen liege freilich darin, dass konstant Neues in den Nachrichtenzyklus einfließt und um Ressourcen konkurriere.