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Böller-Exzesse: Patriarchatskritik statt Ethnisierung!

Peter Nowak

Unbewusster Klassenfrust? Foto: Till_Frers_Photography auf Pixabay (Public Domain)

Debatte um Böllerverbot könnte Dauerthema um Silvester werden. Rechte, die ein Verbot ablehnen, schieben das Fehlverhalten auf Migranten. Dabei fĂ€llt vor allem der ĂŒbergroße MĂ€nneranteil auf. Hinzu kommt ein Klassenaspekt.

Am Jahresanfang ist noch wenig los, schlechte Zeit also fĂŒr Medien, könnte man denken. Doch nun könnte die Böllerdebatte etwas Leben in die winterliche Sauregurkenzeit bringen. Jetzt wird Anfang Januar in verschiedenen Zeitungen ĂŒber das Pro und Kontra eines Böllerverbots diskutiert, im Deutschlandfunk spielte das Thema in der Sendung "Kontrovers" eine wichtige Rolle.

Anlass waren Angriff auf Einsatz- und RettungskrÀfte mit Pyrotechnik in der Silvesternacht [1]. In einer zweiten Pressemitteilung [2] ging die Berliner Polizei noch einmal auf die VorfÀlle ein.

Schnell zeichnete sich ab, dass daraus eine Law-and-Order-Debatte wird. Das wurde bei der Kontrovers-Debatte im Deutschlandfunk am 2. Januar deutlich [3]. Dort sollte es zunĂ€chst um die allgemeine Frage gehen "2023 – Was kommt auf Deutschland zu?" Die Böllerdebatte wurde dann aus aktuellen Anlass eingeschoben. Schnell hatte man den Eindruck, das hier ein Teil der eingeladenen GĂ€ste, aber auch viele Hörerinnen und Hörer einen Diskurs pflegten, der auch an die AfD anschlussfĂ€hig ist.

Da wurde lamentiert, dass man in Deutschland die NationalitĂ€t der Beschuldigten nicht mehr sagen könne, dass oft weggeschaut werde, wenn Migranten an Straftaten beteiligt seien – und dass wieder einmal Deutsche, die nur friedlich feiern wollen, die Leidtragenden seien, wenn es dann zum Böllerverbot komme.

Erst "deutsches Brauchtum", dann "neudeutsche" Unsitte?

Das ist auch die Argumentation von AfD und anderer rechter Gruppen, die von einer "neudeutschen JahresbegrĂŒĂŸung" [4] sprachen. Sie nahmen damit die ĂŒbliche Ethnisierung vor, um Menschen, die ĂŒberwiegend in Deutschland geboren wurden und oft auch die deutsche StaatsbĂŒrgerschaft besitzen, aus dem Land auszugrenzen.

Dabei hatte gerade die AfD betont, dass Böllern zum "deutschen Brauchtum" [5] gehöre, als es Ende 2021 unterbunden werden sollte, um die Kliniken zu entlasten. Sobald es nicht zuletzt alkoholbedingt aus dem Ruder lÀuft, will man dann aber nichts mehr damit zu tun haben.

Nun wird ein mögliches Böllerverbot als zusĂ€tzliche Bestrafung der "Altdeutschen" skandalisiert, um die Ethnisierung noch weiter voranzutreiben. Auch Unionspolitiker haben sich in diesem Sinne geĂ€ußert. Kritikerinnen und Kritiker, die die Debatte darauf zu lenken versuchen, dass an den Bölleraktionen in der großen Mehrheit MĂ€nner beteiligt sind, haben es schwer, gehört zu werden. Unter den 103 TatverdĂ€chtigen, die in der Silvesternacht in Berlin vor allem wegen Angriffen mit Pyrotechnik festgenommen wurden, waren nur fĂŒnf Frauen.

Die Debatte erinnert an eine Ă€hnliche Ethnisierung, die nach der berĂŒhmt-berĂŒchtigten Kölner Silvesternacht 2016 erfolgte und wesentlich zum Aufstieg der AfD beigetragen hat. Damals hatte es eine feministische Kritik schwer, die betonte, dass bei der Gewalt gegen Frauen MĂ€nner die TĂ€ter sind, unabhĂ€ngig von ihrer NationalitĂ€t. Aktuell versuchen auch linke und feministische Kreise, den Aspekt des klassischen "Mackerverhaltens" beim exzessiven Böllern zu thematisieren.

Die NationalitĂ€t ist nicht das entschiedene Kriterium. Viele setzen sich daher auch fĂŒr ein generelles Verbot des Böllerns ein, was Union und AfD ablehnen. Sie haben es leicht, die GrĂŒnen vorzufĂŒhren, weil die ja bereits vor Monaten ein Böllerverbot vor Silvester gefordert hatten, damals aus Umwelt- und GesundheitsgrĂŒnden.

Kriminalisiert ein Böllerverbot die Armen?

Auch in linken und linksliberalen Kreisen wird ein Böllerverbot seit Jahren kontrovers diskutiert. Das außerparlamentarische linke Netzwerk A3w Saar hat sich immer mit guten Argumenten gegen die christliche "Kampagne Brot statt Böller" gewandt [6]. Sie sahen darin eine genuss- und lustfeindliche Verzichtskampagne [7].

Dabei sieht Alex Feuerherdt von A3WSaar auch eine Klassenkomponente:

Der Verbots - Aufruf misst mit doppelten Standards, da er zwischen guten und bösen Feuerwerken unterscheidet. Die Kritik am Feuerwerk setzt erst dann ein, wenn ‚die breite Masse‘ an Silvester Raketen zĂŒndet", so Feuerherdt. Nicht kritisiert werden die Feuerwerke der Besserbetuchten, beispielsweise nach Klassik-Open-Air-Konzerten oder das Feuerwerk bei der offiziellen Feier am Vorabend des Jahrestages der französischen Revolution in SaarbrĂŒcken. Dort und bei gestalteten Feuerwerken wie "Rhein in Flammen" und der Heidelberger Schloss.


Alex Feuerherdt, A3 W Saar

Böllerverbot als Klassenfrage

Auch der Publizist Oliver David sieht in einem Essay in der taz in der Diskussion um das Böllerverbot eine Klassenfrage [8]. Die AttraktivitĂ€t des Böllerns fĂŒr arme Menschen erklĂ€rt sich David so:

Das Geld langt vorne und hinten nicht, aber wenigstens an ein oder zwei Tagen im Jahr möchte ich die RealitÀt, in der ich als Verlierer gebrandmarkt werde, vergessen und so feiern, als wÀre ich der König der Welt.


Oliver David, taz

Der Autor kritisiert die VerbotsbefĂŒrworter scharf:

So hehr die Absichten hinter linksliberaler Kumpanei mit der Polizeigewerkschaft auch sein mögen: Wer ein Böllerverbot fordert, der ruft nach Kriminalisierung. Denn wo etwas verboten wird, da muss das Verbot umgesetzt werden. ZustĂ€ndig dafĂŒr ist die Polizei, die genau dazu gegrĂŒndet wurde – zur Sanktionierung armer Menschen. In Hamburg und Berlin (dort in Koalition mit der Linken) wird diese KontinuitĂ€t unter rot-grĂŒnen Landesregierungen auch diesen Silvester fortgesetzt, wenn migrantische Jugendliche durch ihre Viertel gejagt werden. Das ist weder progressiv noch links.


Oliver David, taz

Oliver Davids Text war vor der aktuellen Verbotsdebatte fertig. Es wird sich zeigen, wie lange sie sich hĂ€lt. Doch klar ist, dass sie wohl kĂŒnftig den Jahreswechsel begleiten wird. Es wird wohl auf VerschĂ€rfungen hinauslaufen, aber sicher nicht sofort zu einen Totalverbot kommen. Wahrscheinlich werden die Verbotszonen in den GroßstĂ€dten ausgeweitet, die ja in Berlin schon in einigen Berichten existieren und laut Polizeibericht auch eingehalten wurden [9].


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7446568

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.berlin.de/polizei/polizeimeldungen/2023/pressemitteilung.1279521.php
[2] https://www.berlin.de/polizei/polizeimeldungen/2022/pressemitteilung.1278446.php
[3] https://www.deutschlandfunk.de/kontrovers-02-januar-2023-was-kommt-auf-deutschland-zu-dlf-cb1ea605-100.html
[4] https://www.pi-news.net/2023/01/das-neue-jahr-wurde-neudeutsch-begruesst/
[5] https://www.welt.de/regionales/nrw/article235793702/AFD-Boeller-an-Silvester-gehoeren-zum-deutschen-Brauchtum.html
[6] https://a3wsaar.de/agrar-ernaehrung/artikel/interview-zum-appell-brot-statt-boeller
[7] https://a3wsaar.de/weltladen-und-fairer-handel/artikel/richtig-wegen-corona-wieder-auf-silvesterfeuerwerk-zu-verzichten-sich-und-seine-mitmenschen-schuetzen-1
[8] https://taz.de/Boellerverbote-als-Klassenfrage/!5901656/
[9] https://www.berlin.de/polizei/polizeimeldungen/2023/pressemitteilung.1279521.php