Booster für die Artenvielfalt: Rettet die Streuobstwiesen!

Susanne Aigner

Die Streuobstwiese Weppachtal in der Schwäbischen Alb. Foto: Ustill / CC-BY-SA-3.0-DE

Jedes Jahr im Herbst werfen alte Bäume tausende Tonnen Äpfel, Birnen und Zwetschgen ab. Anstatt das Obst zu nutzen, verrottet es auf den Wiesen. Lokale Initiativen wollen das ändern und alte Streuobstbestände besser nutzen.

Mehr als 6000 Obstsorten gibt es hierzulande - rund 2700 Apfel- und 800 Birnensorten, darunter schmackhafte Tafeläpfel wie Brettacher oder Goldparmäne, lang haltbare Sorten wie Ontario oder Rheinischer Bohnapfel und besonders frühreife wie der Klarapfel. Streuobstwiesen brauchen weder Dünger noch Pestizide, selten eine Mahd. Der Mix aus diversen Bäumen unterschiedlichen Alters, Hecken, Trockenmauern, abgestorbenen Ästen und Stämmen bietet zahlreichen Arten Lebensraum:

In den Baumhöhlen nisten häufig Steinkäuze, Stare, Siebenschläfer und Fledermäuse. Aber auch Spechte wie der seltene Wendehals und Halsbandschnäpper finden Nahrung und Brutplätze, ebenso wie Heuschrecken, Wildbienen und Hornissen. Sie liefern Nahrungsmittel und Weidegründe, nicht zuletzt sind sie auch Naherholungsgebiet. Ob Gelbmöstler, Palmischbirne oder Welsche Bratbirne - alte Birnenbäume können bis zu 300 Jahre alt und 15 bis 30 Meter hoch werden.

Bei so genannten Hochstämmen tragen die untersten Äste erst ab 1,80 Meter Höhe, optimal, um die darunter liegenden Wiese zu bewirtschaften, sei es durch Beweidung oder Gartenbau. Streuobstbestände ergänzen die menschliche Nahrung mit gesundem Obst. Ein einziger Birnbaum kann bis zu einer Tonne Birnen tragen. Auf der Suche nach alten Sorten durchstreifen Pomologen seit 2015 die oberbayerische Landschaften. Im Rahmen des Obstprojektes Apfel-Birne-Berge halten sie Ausschau nach alten vergessenen Obstbaumsorten.

Dabei sind Bäume, die absichtlich weiter vermehrt wurden, für sie interessanter als Sämlinge, die sich zufällig verbreiteten. Auf einer verlassenen Streuobstwiesen finden sich zwei Bäume mit schorffreien hellgelben Äpfeln mit säuerlich-saftigem Geschmack - der Zitronenapfel.

Im Landratsamt in Rosenheim untersuchen Pomologen die unbekannten Obstsorten. Im vorigen Herbst waren es allein 164 alte Birnen- und Apfelsorten. Keine leichte Aufgabe: Viele der Früchte können selbst von namhaften deutschen Sortenkundlern nicht bestimmt werden.

Auch der Zitronenapfel wird hier bewertet. Warum neue Zutaten von außen zukaufen, wenn geeignetes Obst vor der Haustür liegt, sagt sich Maximilian Müller. Der Drei-Sterne-Koch will sich die Säure des hellgelben Apfels in seiner Küche in der neu eröffneten Berghütte zu nutze machen. So sollen die Apfelscheiben die geräucherten Saiblingfilets mit Wiesenkräutern an gebratenem Radicchio garnieren.

Hans-Joachim Bannier kennt eigenen Angaben zufolge rund 500 Apfelsorten. Häufig wird er angerufen, um einen unbekannten Apfel auf einer entlegenen Streuobstwiese zu bestimmen, zum Beispiel auf einer Wiese im Hochsauerland. Ein Blick ins Apfelregister hilft: Es ist der große Borsdorfer. Die Sorte habe ein gesundes Wuchsverhalten und sei extrem langlebig, schwärmt der Pomologe. Das gebe es im modernen Apfelanbau kaum noch.

Auf dem Fundort stehen die letzten zwei alten Bäume dieser Art in Nordrhein-Wesfalen. Werden sie gefällt, verschwindet auch die Sorte. Zwar finanziert die Regierung die Erhaltung der Streuobstwiesen. Doch zusätzlich braucht es Menschen, die sie weiterzüchten, um sie für nachfolgende Generationen zu erhalten. Vom Borsdorfer Apfels zogen engagierte Züchter einzelne Triebe im eigenen Garten an, die später als kleine Bäumchen auf der alten Streuobstwiese eingepflanzt werden. Wenn alles gut läuft, tragen sie später auch noch Äpfel, wenn der Herbstwind die alten Bäume längst umgeworfen hat.

Streuobstwiesen mussten intensivem Obstbau weichen

Die ersten Streuobstwiesen wurden im 19. Jahrhundert wie ein Gürtel um Dörfer angelegt. Teils durch Zufallskeimlinge, die von den Bauern und Bäuerinnen weiter kultiviert wurden, teils durch Züchtung wuchs die Anzahl der Sorten. In den 1960er Jahren erhielten sie nicht nur Konkurrenz durch den intensiven Obstanbau. Sie mussten auch Einkaufszentren, Industrie- und Neubaugebieten weichen.

Plantagenäpfel konkurrierten seitdem zunehmend mit den Äpfeln aus Kleingärten. Der ertragreiche Intensivobstbau, der nur wenige marktfähige Sorten kultiviert, wurde in Gunstlagen stark subventioniert. Die alten Obstbäume, die bei der maschinellen Bewirtschaftung im Weg standen, wurden abgeschlagen. Dafür gab es sogar Geld von der Regierung.

Von den knapp 18 Millionen Streuobstbäumen, die es noch 1965 in Baden-Württemberg gab, sind schätzungsweise sieben Millionen übrig. Man findet sie auf der Schwäbischen Alb und am Neckar, in den tieferen Lagen des Schwarzwalds oder im Odenwald. Ausgedehnte Obstwiesen gibt es auch im Alpenvorland, in Mainfranken oder in der Rhön.

Die Bäume überaltern, immer mehr Flächen gehen verloren. Vor allem mangelt es an der nötigen Pflege. Wiesen müssen gemäht oder beweidet, Bäume geschnitten werden. Ohne regelmäßigen Baumschnitt brechen voll beladene Äste leichter ab. Über die Wunden dringen Pilze in den Baum ein, die Bäume sterben deutlich früher. Zudem setzen Mistel, Rindenbrandpilz und Klimawandel den Bäumen zu - insbesondere die trockenen Sommer seit 2018.

Äpfel und Birnen lassen sich vielfältig verarbeiten

Auf einer Wiese vor dem Haus von Familie Fuchsreiter im Berchtesgadener Land steht ein 200 Jahre alter Birnbaum. Seit Jahrzehnten verarbeitete die Familie tausende Zentner Birnen, Äpfel und Zwetschgen. Inzwischen experimentiert sie auch mit anderen Sorten, wie etwa dem Spitzling vom Irschenberg aus Miesbach. Die Äpfel, die sich besonders gut zum Dörren eignen, stammen von einem 150 Jahre alten Baum, der auf der Wiese vor dem Haus steht.

Der saure, schmackhafte Herbstapfel soll in der Gegend schon vor 100 Jahren gedörrt worden sein. Dörren, Entsaften, Vermusen oder Backen - alte Apfel- und Birnensorten sind vielseitig verwendbar. Bei Familie Fuchsreiter werden Birnen, Äpfel und Zwetschen sogar im Brot aus Hefe-Sauerteig zu einem süßlich schmeckendes Dörrobst-Brot verbacken.

Ob Apfelwein, Cider, Most oder als Zutat in der Küche – Obst lässt sich in vielen Varianten verarbeiten. In der Schnapsbrennerei wird typischerweise die Williamsbirne zu Schnaps gebrannt. Andere Sorten bieten andere geschmackliche Nuancen - so wie die unbekannten alten Birnen von einem 150 Jahre alten Baum, die in einer oberbayerischen Schnapsbrennerei getestet werden. Sollte sie sich für den Birnenbrand eignen, steigen die Chancen, dass sie von den Züchtern weiter vermehrt wird. Immerhin: Bei der Verkostung punktet der Birnenschaps von der Streuobstwiese mit süßem, fruchtigem Geschmack mit Zitrusnote

Hochwertige Apfelprodukte zu fairen Preisen vermarkten

Kostete der Doppelzentner um 1900 am Stuttgarter Großmarkt noch umgerechnet 120 bis 150 Euro, werden heute gerade mal acht Euro gezahlt. Beim manuellen Auflesen des Obstes braucht man etwa eine Stunde pro Doppelzentner, erklärt Klaus Schmieder, Professor am Institut für Landschafts- und Pflanzenökologie der Universität Hohenheim. Der Stundenlohn muss zudem für den Baumschnitt und die Wiesenmahd reichen.

Ginge es nach ihm, soll für hochwertige Produkte von faire Preise gezahlt werden. Denn werden die Streuobstwiesen nicht angemessen genutzt, werden sie spätesten bis 2050 in weiten Teilen verschwunden sein, befürchtet der Experte, der mit einer Arbeitsgruppe von der Universität Hohenheim die Streuobstbestände in Baden-Württemberg erfasst.

Noch überwiegt in den Supermarktregalen Plantagenobst vom Bodensee, aus dem Alten Land im Norden, aus Polen, Südtirol oder auch Chile, Südafrika und Neuseeland. Obst von Streuobstwiesen kann zwar die benötigten großen Mengen in genormter Qualität nicht decken. Auf Bauernmärkten, Hofläden, Bioläden und lokalen Supermärkten wird es jedoch immer öfter angeboten.

Der Verein "Schwäbisches Streuobstparadies" etwa konnte im vergangenen Herbst über sieben Tonnen Tafelobst von 32 unterschiedlichen Apfelsorten in der Region Neckar-Alb vermarkten. Nach Angaben des Verbands der deutschen Fruchtsaftindustrie schwankt der Streuobstwiesenanteil bei Direktsaft jährlich zwischen 10 und 50 Prozent. Die Nachfrage liegt momentan bei rund der Hälfte des in Deutschland produzierten Apfelsafts.

Zwar bringen die niedrigwüchsigen, eng stehenden Spalierbäume der Obstplantagen mehr Obstertrag pro Fläche. Allerdings fließen die Mehrkosten durch Pestizide und Dünger im Obstanbau ebenso wenig in die Verbraucherpreise ein der Mehrwert von Artenvielfalt, Erholung und Kulturerbe von Streuobstwiesen. Bio-Obstbauern versuchen unterdessen einen Kompromiss: Sie stecken mehr Arbeit in den pestizidfreien, aber intensiven Anbau, während die Ernte in der Regel 20 bis 30 Prozent niedriger ausfällt.

Saft und Cider sind besser zu vermarkten

Inzwischen vermarkten einige regionale Produzenten die sauer-fruchtige Vielfalt der Obstwiesen als schwäbischen Cider oder prickelnden Secco. Denn größere Obstmengen erzielen nicht nur bessere Preise, auch können Geräte und Maschinen geteilt und Ideen gemeinsam umgesetzt werden. In einer Kletterhalle in Tübingen soll beispielsweise bald ein Energiegetränk aus lokalem Streuobst angeboten werden.

Auf der Obstwiese nebenan gibt es Kurse zu Artenvielfalt und nötigen Pflegemaßnahmen. Die Streuobstinitiative im Calw-Enz-Kreis zwischen Schwarzwald und Stuttgart etablierte mit "Schneewittchen" eine eigene Marke für Cider und Apfelsäfte. Die Erzeuger erhalten 13 Euro pro Doppelzentner statt acht Euro.

Am Rande der Schwäbischen Alb liegt frisches Obst von den Streuobstwiesen in Supermarktregalen. Der Verein Schwäbisches Streuobstparadies bietet Mostseminare an, betreibt ein Streuobst-Infozentrum und lädt zur Zeit der Obstblüte zum Schwäbischen Hanami ein.

Ob Verpachtung einzelner Obstbäume, Obstbaumschnittkurse, das Sammeln von Schnitt- und Mähgut, Verleihen von Dörrautomaten oder Börsen, die Obstwiesen an Interessenten vermitteln - es gibt zahlreiche Ideen, die Obstwiesen zu nutzen.

Immer mehr Initiativen wollen Streuobstwiesen erhalten

Von Niedersachsen bis ins Chiemgau, vom Odenwald bis nach Ostthüringen gründen sich Initiativen mit dem Ziel, die Streuobstbestände zu erhalten. Deutschlandweit organisieren sich lokale Netzwerke im Verein Hochstamm Deutschland e. V., der wiederum vernetzt sich mit Streuobstverbänden in Österreich, Großbritannien, Frankreich, Italien und Slowenien.

In den Netzwerken engagieren sich Konsumenten, wie auch Privatleute, die ihre Wiesen als Hobby oder nebenberuflich bewirtschaften, aber auch Produzenten, die größere Flächen bewirtschaften. Nur wenn es uns gelingt, über Vermarktungswege eine wirtschaftliche Grundlage für den Streuobstanbau zu schaffen, haben Streuobstwiesen mit ihren vielfältigen Lebensräumen und den kulinarischen Köstlichkeiten eine Zukunft.

Schon allein vor dem Hintergrund des fortschreitenden Klimawandels können wir es uns nicht leisten, die alten, langlebigen, widerstandsfähigen Sorten aussterben zu lassen, erklärt Hans-Joachim Bannier. Der Bielefelder Pomologe gründete das Erhalternetzwerk Obstsortenvielfalt um Wissen über alte Sorten in einer Datenbank zu bündeln und Edelreißer an Züchter zu vermitteln Denn alte Obstsorten haben nicht nur genetische, geschmackliche und optische Vielfalt zu bieten. Sie sind auch in Lage, sich ändernden Umwelt- und Klimabedingungen anzupassen.