Brauchen wir den öffentlich-rechtlichen Rundfunk noch?

Seite 2: Fernsehen wie vor 50 Jahren

Was dem ÖRR fehlt, das sind neue Ideen, die früher in den dritten Programmen von ARD zu finden waren. Im Grunde wird heute inhaltlich Fernsehen gemacht wie vor 50 Jahren, allerdings ist die Bildqualität deutlich besser geworden. So ist es dem ÖRR auch nicht gelungen, eine eigene Bildsprache für bestimmte Sendeformate zu entwickeln, die sich von den üblichen Nachrichtenschnitten abheben würden.

Das Politmagazin ZAK (1988-1996), hat versucht, bildsprachlich neues Terrain zu finden; ZAK kam aus dem dritten Programm und landete dann im Ersten. Das Experimentierfeld der Dritten gibt es nicht mehr.

Heute stellt sich die Frage, ob das Fernsehen - und da ist vor allem der ÖRR gefragt, da er wesentlich unabhängig von Werbeeinnahmen Programm machen kann - mit seinen altbekannten Formaten die heutige komplexe Welt überhaupt einfangen kann. Auch stellt sich die Frage, ob das Nachrichtenschema immer noch in der Intensität tragfähig ist, da Nachrichten immer das hervorheben, was als aktuell gesehen wird. Nun gibt es aber Themen, die ständig auf der Agenda bleiben, die aber nur dann in die Sendung kommen, wenn irgendetwas besonders geschieht. Danach ist das Thema für einige Monate wieder verschwunden.

Aber diese wichtigen Themen müssten durch eine Sendung ständig "warm" gehalten werden, damit der Zuschauer oder auch Radiohörer das Bewusstsein hat, dass dies ein wichtiges Thema ist. So sind die Probleme der Krankenpfleger wiederholt angesprochen worden, aber eben dann, wenn es wieder einen Skandal gab. So fragte der Krankenpfleger Alexander Jorde die Kanzlerin in einer Wahlarena in Lübeck 2017, warum sie zwölf Jahre nichts gegen den Missstand diesbezüglich getan habe.

Das Thema war präsent und danach über Monate wieder aus den Medien verschwunden, bis die Krankenpflege in der Covid-Krise eine brisante Aktualität bekommen hat. Es gibt eben Themen, die dauerhaft journalistisch bearbeitet werden müssten, ohne dass auf einen neuen Wirbel oder Skandal gewartet werden sollte. Andere Themen sind die Digitalisierung, Rentenpolitik und das Klima.

Nachrichten stellen Zusammenhänge nicht dar, das weiß man schon seit Jahrzehnten mit Versuchen an Zuschauern. Die meisten Zuschauer können die Bedeutung von Nachrichten nicht einordnen, weil ihnen häufig die Zusammenhänge fehlen, die komplex sind. Durch Dauerberieselung mit Nachrichten wird der Zuschauer eher verwirrt als informiert und schon gar nicht mit Wissen versorgt, ähnlich auch bei den Polit-Talks. Der französische Mathematiker Henri Poincaré (1854-1912) meinte: "Wissenschaft besteht aus Fakten wie ein Haus aus Backsteinen, aber eine Anhäufung von Fakten ist genauso wenig Wissenschaft, wie ein Stapel Backsteine ein Haus ist."

In der heutigen komplexen Welt braucht es Redakteure, die Statistik und Mathematik nicht als beiläufig begreifen oder nur als Domäne der sogenannten Experten, sondern als Grundlage, bestimmte Sachverhalte überhaupt selbst zu verstehen und kritisieren zu können.

In der Corona-Krise hätten diese Kenntnisse helfen können, Meinungen und Projektionen besser zu beurteilen und eventuell andere Methoden als den Dauerlockdown zu erfinden. Auch in der Ökonomie sind Statistiken und Mathematik wichtig, vor allem die Modelle der Wissenschaftler, die leider nicht immer, wie Max Weber in seiner Vorlesung "Wissenschaft als Beruf" forderte, Politik und Meinung gänzlich aus ihren Konzepten heraushalten.

Gute Journalisten verlassen den ÖRR

Dem ÖRR stehen schwerere Zeiten bevor. Denn interessant ist, dass immer wieder gute Journalisten ein neues Betätigungsfeld bei den Privaten sehen, wie Jan Hofer, Pinar Atalay oder Charlotte Maihoff, alle RTL. Das Geld allein wird es nicht sein für diese Wechsel, da auch ARD- und ZDF-Redakteure anständig bezahlt werden.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 18. Juli 2018 auf Folgendes hingewiesen:

Sind Angebote zum größten Teil werbefinanziert, fördern sie den publizistischen Wettbewerb nicht unbedingt… Hinzu kommt die Gefahr, dass - auch mit Hilfe von Algorithmen - Inhalte gezielt auf Interessen und Neigungen der Nutzerinnen und Nutzer zugeschnitten werden, was wiederum zur Verstärkung gleichgerichteter Meinungen führt. Solche Angebote sind nicht auf Meinungsvielfalt gerichtet, sondern werden durch einseitige Interessen oder die wirtschaftliche Rationalität eines Geschäftsmodells bestimmt, nämlich die Verweildauer der Nutzer auf den Seiten möglichst zu maximieren und dadurch den Werbewert der Plattform für die Kunden zu erhöhen... Angesichts dieser Entwicklung wächst die Bedeutung der dem beitragsfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk obliegenden Aufgabe, durch authentische, sorgfältig recherchierte Informationen, die Fakten und Meinungen auseinanderhalten, die Wirklichkeit nicht verzerrt darzustellen und das Sensationelle nicht in den Vordergrund zu rücken, vielmehr ein vielfaltssicherndes und Orientierungshilfe bietendes Gegengewicht zu bilden… In der Möglichkeit, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in dieser Funktion zu nutzen, liegt der die Erhebung des Rundfunkbeitrags rechtfertigende individuelle Vorteil.

Wenn die privaten Fernsehanstalten immer häufiger auch die Formate etablieren, die eigentlich die Domäne des ÖRR sind, dann könnte dieser rechtfertigende Grund fallen. Natürlich gibt es immer noch gute Fernsehspiele, auch Krimis wie gute Dokumentationen, die sich qualitativ von den Privaten noch abheben, aber nur deshalb, weil der ÖRR nicht den Zwang der Werbeeinnahmen durch möglichst viele Zuschauer in allen Programmen haben muss.

Der schon erwähnte bedeutende Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas verweigerte sich den Polittalks im Fernsehen, da sie ihm offenbar zu oberflächlich sind, zu salopp, was nicht von der Hand zu weisen ist, sobald es in Details geht, denen zu wenig Raum gegeben wird, besonders auch in ökonomischen Sachverhalten. Gerade aber diese sind für Zuschauer oftmals besonders erhellend und wichtig. Auch ist zu fragen, ob Politik-Moderatorinnen- und -Moderatoren bei ein und demselben Format so lange auf Sendung bleiben sollten, wie Angela Merkel regiert hat.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss klären, wofür er inhaltlich wirklich steht, was sein Alleinstellungsmerkmal ist, was seine Qualität ausmacht, seine unverzichtbare Notwendigkeit, die die Gebühren rechtfertigen. Nicht zuletzt muss er die Frage beantworten, warum Jugendliche und junge Erwachsene in ihm nicht ihre Präferenz sehen.