Braucht Europa die Bombe?
Nukleare Bewaffnung der EU wird vorangetrieben. Gründe liegen in Moskau und Washington. Welche Fragen die Apologeten einer EU-Atommacht fürchten.
Vertreter von Regierungsparteien treten mit zunehmender Vehemenz für die Idee einer "europäischen Atombombe" ein. Diese wird als unabdingbar und dringend notwendig gegenüber Russland dargestellt, dem alten und – seit 2022 – neuen Erzfeind. Moskau, so die Idee dahinter, muss man alles zutrauen – und daher auch für alles gewappnet sein.
Zudem überlasse der möglicherweise zurückkehrende US-Präsident Donald Trump diejenigen europäischen Nato-Staaten, die nicht bereit sind, die vereinbarten zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Militärausgaben zu zahlen, freimütig Russland. Schutz gebe es womöglich nur noch, wenn diese Nato-Mitgliedsländer US-Waffen kaufen.
Wortwörtlich gerüstet zu sein, wird in Brüssel und Berlin also als notwendig erachtet. Doch wenn man diese Argumentation konsequent zu Ende denkt, bleibt die Frage: Was wäre die Alternative zu einer europäischen Atommacht? Was würde ein solcher Schritt bedeuten?
Und würden die französischen sowie britischen Atomwaffen eine vergleichbare militärische Bedeutung erlangen wie der US-amerikanische "Atomwaffenschutzschirm"?
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Für das angestrebte Ziel kann man diese Frage eindeutig mit Nein beantworten. Für einen atomaren Schutzschild, der tatsächlich "wirksam" sein soll, wären mehr als ein paar Hundert Atomwaffen erforderlich.
Solch ein theoretischer Schutzschirm funktioniert zudem nur, wenn der Gegner damit rechnen muss, trotz vorhandener Abwehrfähigkeiten, wie einem Raketenschutzschild oder der Ausschaltung gegnerischer Trägersysteme, vernichtend zerstört zu werden. Ist dies nicht glaubhaft, verliert die "Abschreckung" ihre Wirksamkeit.
Überlegungen über solcher Szenarien machen deutlich: Wenn es zu einem Atomkrieg mit Russland käme, würde dieser in Europa stattfinden.
Wer würde die neuen Bomben herstellen?
Eine massive Aufrüstung der Waffenbestände wäre notwendig. Technisch ist dies machbar; jeder Staat mit ziviler Atom-Infrastruktur könnte dies umsetzen. Staaten wie Deutschland oder Japan könnten innerhalb von maximal sechs Monaten über eigene Bomben verfügen.
Wer würde die Kosten übernehmen?
Fast alle offiziellen Atomwaffenstaaten – USA, Frankreich, Großbritannien, Indien, vermutlich auch China – ermöglichen ihre Atomwaffen über die zivile Nutzung der Atomenergie. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat dies als erster demokratischer Präsident zugegeben.
Nur durch die Dual-Use-Methode für Waffenbau und Wiederaufarbeitung für Atomkraftwerke kann eine Atombewaffnung einigermaßen preiswert ermöglicht werden, es sei denn, eine Diktatur setzt entsprechend andere Prioritäten, Nordkorea ist ein solches Beispiel.
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Es wäre daher "sinnvoll", im Sinne einer EU-Atommacht, einen weitreichenden Wiedereinstieg in die zivile Nutzung der Atomenergie durch die beteiligten Staaten anzustreben, um so auch die militärischen Atompläne zu ermöglichen.
Jedenfalls würde der Aufbau einer EU-Atommacht bei den beteiligten Staaten Investitionen in mindestens zweistelliger Milliardenhöhe notwendig machen. Bereits jetzt werden Rüstungshaushalte auf Kosten der Sozialausgaben, des Klimaschutzes und anderer wichtiger Politikfelder immer weiter erhöht. Derzeit fordert Außenministerin Annalena Baerbock als grüne Außenministerin ein weiteres Sondervermögen für die Aufrüstung.
Wer hätte die Kontrolle über die Bomben?
Diese würde vermutlich weiterhin bei der französischen oder britischen Regierung liegen, es sei denn, die Bundesregierung entschiede sich für eigene Bomben. Das heißt, die anderen EU-Atomwaffenstaaten hätten nicht mitzureden, sondern nur mitzuzahlen.
Die Absprachen etwaiger Einsatzoptionen wären denkbar, ob diese jedoch hier funktionieren würde, ist fraglich. Bevor diese Frage nicht geklärt ist, ist eine Entscheidung zugunsten einer EU-Atommacht nicht umsetzbar.
Wenn schon Trump ein Problem ist, was wäre mit Le Pen?
Die Wahrscheinlichkeit, dass Marine Le Pen die nächste Präsidentenwahl in Frankreich gewinnt, wird als ähnlich hoch eingeschätzt wie bei Trump. Das Ergebnis wäre vermutlich dasselbe: "La France en premier". Die europäischen Nato-Staaten kämen vom Regen in die Traufe. Bei einem wiederkehrenden Boris Johnson oder Politikern ähnlicher Couleur in Großbritannien sähe es genauso aus. Eine dauerhafte Schutzgarantie ist also auch hier nicht sicher.
Ist eine deutsche Teilnahme an EU-Atombewaffnung möglich?
Das wäre das kleinste Problem: Deutschland hat zwar den völkerrechtlich bindenden Vertrag zur Nichtverbreitung von Atomwaffen (NVV) unterschrieben, auch wenn es mit der sogenannten nuklearen Teilhabe dagegen verstößt. Der NVV kann jedoch von jedem Unterzeichnerstaat jederzeit gekündigt werden. Nordkorea hat diesen Schritt formal korrekt bereits vollzogen.
Welche Folgen hätte ein erster Schlagabtausch?
Ein Schlagabtausch mit je 50 Atomwaffen mittlerer Größe würde auf der Nordhalbkugel zu einem nuklearen Winter von mehreren Jahren führen. Strahlenschäden würden weitere Regionen unbewohnbar machen; Trinkwasser wäre vielerorts auf Jahre nicht verfügbar.
Eine unvorstellbare Hungerkatastrophe würde Millionen von Menschenleben fordern; Verteilungskriege und die militärische Bekämpfung von Flüchtlingsströmen würden die ganze Erde erschüttern, auch auf der Südhalbkugel.
Welche Folgen hätte ein zweistufiger Atomkrieg?
Ein großer Atomkrieg würde unsere Zivilisation vermutlich völlig vernichten. Wer überlebt, findet sich schlagartig in einer völlig veränderten Welt wieder. Verstrahlte Luft, verstrahltes Wasser, auf Jahre keine Sonneneinstrahlung durch die in die Atmosphäre verdampfte und geschleuderten Materialmengen, in der Folge ein Zusammenbruch aller Infrastrukturen, ebenso der Nahrungsmittelversorgung, Verteilungskämpfe bis auf die unterste Ebene, hohe Zahlen an Todesopfer in den ersten Monaten, dazu ein Vielfaches an Verletzten und Erkrankten. Schätzungen gehen in diesem Fall von mehreren Milliarden Opfern aus.
Halten die Entscheidungsträger an den Plänen wirklich fest?
Die Abschreckung zu Ende gedacht bedeutet das: Auf einen russischen Angriff von mehreren Dutzend Atomraketen, vermutlich zunächst auf militärische (in Deutschland: Büchel, Spangdahlem, Ramstein) und politische Ziele (Regierungsviertel in Berlin) würde unsere Seite mit mehreren Hundert Raketen zurückschlagen.
Vermutlich würde dadurch eine zweite Angriffswelle der Gegenseite ausgelöst, mit vermutlich einem zweiten Gegenschlag. Dabei wären jetzt hauptsächlich die Zweitschlagkapazitäten (Bomberflotte, U-Boote) aktiv; die Raketenstellungen wären beim ersten Angriff weitgehend vernichtet worden.
Was jedoch, wenn ein Land, etwa im Baltikum, Finnland oder Deutschland, gezielt angegriffen wird? Schlägt die EU, schlagen die USA dann entsprechend zurück und riskieren ihre Gesamtvernichtung? (Die Frage stellt sich auch heute schon bezüglich eines Zweitschlags …)
Bevor in Deutschland eine Diskussion über eine atomare Bewaffnung (sei es nur für Deutschland oder für die EU mit Deutschland) geführt wird, sollten alle diese Fragen intensiv diskutiert und beantwortet werden.
Bezeichnend ist, dass die derzeit tonangebenden Politiker versuchen, dies auszuschließen: "Das Thema 'Atomar' gehört nicht in der Öffentlichkeit diskutiert", sagte die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), im Deutschlandfunk.
Und tatsächliche: Die ehrliche Beantwortung dieser Fragen kann nur zu einer Intensivierung der internationalen Bemühungen zur Unterzeichnung des Atomwaffenverbotsvertrags und zur nuklearen Abrüstung führen. Das setzt voraus, dass die verantwortlichen Politiker noch in der Lage und gewillt sind, logisch, vorausschauend und verantwortungsbewusst zu denken und zu entscheiden.
Derzeit existieren weltweit bereits mehr als 12.500 Atomwaffen, was für einen hundertfachen atomaren Overkill auf diesem Planeten ausreicht. Wir brauchen keine weiteren Atomsupermächte. Im Gegenteil: Abrüstung ist das Gebot der Stunde.
Karl-W. Koch, Dipl.-Ing. (FH. chem.) Gymnasiallehrer in den Fächern Chemie, Mathematik und Umwelttechnologie sowie Fachbuchautor ("Störfall Atomkraft"). Er ist Gründer des AK Atom bei B90/Die Grünen.
Klaus Moegling, Prof. Dr. i.R., Politikwissenschaftler und Soziologe, Autor u. a. von "Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich"
Bernhard Trautvetter, Studiendirektor a.D., Friedens- und Umweltaktivist, Publizist, Essener Friedensforum, Bundesausschuss Friedensratschlag.
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