Braucht der menschliche Hippokampus neue Nervenzellen?
Seite 2: Geht es ohne neue Zellen?
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Gewiss sollte man andererseits die Studie von Álvarez-Buylla nicht voreilig als letztes Wort nehmen. Etliche andere Untersuchungen haben in den letzten zwanzig Jahren Neuronenneubildung im Hippokampus erwachsener Menschen gezeigt, mit Methoden, die Álvarez-Buylla für potentiell fehlerhaft hält.
Eine weitere Studie erschien nur wenige Wochen nach seiner aufsehenerregenden Arbeit im angesehenen Journal Cell Stem Cell, ebenfalls unter Beteiligung von Wissenschaftlern, denen man unterstellt, dass sie wissen, was sie tun. Maura Boldrini und ihre Kollegen färbten ebenfalls Hippokampi von frisch verstorbenen Menschen, allerdings erst ab einem Alter von 14 Jahren - also zufällig exakt ab der Schwelle, ab der Álvarez-Buylla keine neuen Neuronen mehr finden konnte.
Boldrini und Kollegen aber - unter Verwendung genau derselben Markermoleküle - fanden anhaltend hohe Neuronenneubildung im menschlichen Hippokampus. Während sie Álvarez-Buylla und seinem Team methodische Fehler unterstellen, sieht dieser die Diskrepanz als eine Frage der Interpretation: "Wir haben in unserem post-mortem-Material dieselben Zellen gesehen wie sie, aber wir halten sie einfach nicht für junge Neuronen."
Die Frage ist also noch völlig offen, und es scheint durchaus möglich, dass Álvarez-Buylla bald einen Fehler eingestehen muss. Trotzdem drängt sich die Frage auf: Was, wenn nicht? Würde das für unser Verständnis des Hippokampus eine nennenswerte Rolle spielen?
Man muss sich erinnern, dass es erstaunlich lange unklar geblieben war, wozu der Austausch von Neuronen überhaupt gut sein könnte. Die Theorie neuronaler Netze sah keinen Bedarf für diesen Vorgang (Neuronales Upgrade). Und auch im Tierversuch war es durchaus nicht einfach, die Funktion der neuen Neuronen herauszukitzeln (Warum erzeugt das Gehirn neue Neuronen?).
Der erste Versuch mit einer vermutlich nebenwirkungsfreien Methode brachte keinerlei Unterschiede im räumlichen Lernen, aber eine leicht verbesserte Fähigkeit, zwischen neuen und bekannten Umgebungen unterscheiden zu können. Dieser Vorgang, Mustertrennung oder pattern separation genannt, kristallisierte sich schließlich als wichtigste kognitive Funktion der Neurogenese im Hippokampus heraus: Tiere ohne Neurogenese können es schlechter, solche mit künstlich verstärkter Neurogenese können es besser, und wenn man die Lernfähigkeit der neuen Nervenzellen verhindert, geht es auch nicht so gut. Aber der Effekt ist in keiner der Studien umwerfend stark, und stets gleichen sich die Versuchsgruppen nach ein paar Tagen an.
Im Tierversuch haben die neuen Zellen noch einen ganz anderen, und sogar sehr starken Effekt: Sie vermitteln die Wirkung von Antidepressiva. Antidepressiva erhöhen die Zellneubildungsrate. Unterbindet man die Neurogenese, wirken bei Mäusen auch die Antidepressiva nicht. Aber: Mit Blick auf den Menschen drängt sich die aktuelle Diskussion ins Bewusstsein, ob Antidepressiva bei unsereinem überhaupt wirken ("Größtenteils nutzlos und potenziell schädlich"). Letztlich könnten die Ergebnisse zusammenpassen - nur anders als zunächst gedacht.
Eine Lanze für den Kolben
Vielleicht stellt sich in einigen Jahren heraus, dass die Entstehung neuer Nervenzellen für den erwachsenen Hippokampus gar nicht so wichtig ist - und dass die Evolution sich das auch gedacht hat. Es bliebe damit ja immer noch der kindliche Hippokampus, in welchem die reichlich hinzukommenden neuen Zellen tatsächlich erstaunliche Wirkungen zeitigen.
Und es bliebe der Riechkolben. Laut Álvarez-Buylla erhält dieser wirklich zeitlebens neue Neuronen. Vielleicht werden wir aufhören, ihn so unsexy zu finden.