Brisantes Leak: Wollte Ursula von der Leyen Bulgarien in die Eurozone schleusen?

Spielt bei der Krise in Bulgarien eine Rolle: Ursula von der Leyen. Bild: European Parliament, CC BY 2.0

Trotz Regierungsbildung: Politische Konfrontation eskaliert. Eine Rolle spielt dabei die Präsidentin der EU-Kommission. Wie der Mitschnitt einer Parteisitzung die Krise befeuert.

Um zwölf Uhr mittags eines jeden 2. Junis heulen in Sofia und den Städten der bulgarischen Provinz die Sirenen. Der Autoverkehr kommt für eine Minute zum Erliegen und die Bulgaren und Bulgarinnen treten aus ihren Wohnungen und Büros auf die Balkone, um dem Poeten und Revolutionär Hristo Botev zu gedenken.

Im Jahre 1876 ist er von den türkischen Besatzern erschossen worden. Zu Ehren der für die Freiheit und Unabhängigkeit Bulgariens Gefallenen wird am Botev-Tag für gewöhnlich die nationale Einheit beschworen, in diesem Jahr ist aber alles anders.

Das liegt auch an der deutschen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Vor einer guten Woche wurde eine Abhöraufnahme publik, der zufolge sich die Christdemokratin in Bulgariens innerpolitischer Auseinandersetzung klar positioniert hat. Von der Leyen soll dem Ex-Ministerpräsidenten Kiril Petkov Kreativität bei der Interpretation Euro-Kriterien zugesagt haben, um Bulgarien den Weg in die Eurozone zu ebnen.

"Ich werde versuchen Dir zu helfen,", soll sie Petkov am 21. Mai versprochen haben. Petkov ist Vorsitzender der liberalen Partei "Wir setzen den Wandel fort" (PP). Gleichzeitig habe sie ihn gebeten, sie mit den entsprechenden Aussagen nicht zu zitieren.

Der Leak hat die Zwietracht in dem Land befeuert. Nach einem politisch turbulenten Mai scheint es aus seiner Phase gesellschaftlicher Stagnation in offene politische Konfrontation zu stürzen. In der 49. Bulgarischen Volksversammlung gehen die russophilen Nationalisten und die Euro-Atlantiker mit Fäusten aufeinander los und im öffentlichen Diskurs kursieren Schlagworte wie "Volksverrat", "Diktatur" und "Bürgerkrieg".

In den vergangenen vier Wochen wurden in Bulgarien ehern geglaubte Strukturen erschüttert, Bündnisse zerbrachen und aus Kontrahenten wurden Komplizen. Den Auftakt zu einem Dominoeffekt an Skandalen, Affären und überraschenden Entwicklungen gab am Mittag des Tags der Arbeit ein Bombenattentat auf die Limousine von Generalstaatsanwalt Ivan Geschev.

Eine knappe Woche danach hatte die EU-Kommissarin für Innovation, Forschung, Kultur, Bildung und Jugend Maria Gabriel ihren Auftritt auf Sofias politischer Bühne. Für die als Wahlsiegerin aus den Parlamentswahlen Anfang April 2023 hervorgegangene rechtsgerichtete Partei "Bürger für eine Europäische Entwicklung Bulgariens" (Gerb) beanspruchte Gabriel das Amt der Ministerpräsidentin.

Bei der Vorstellung ihres vorläufigen Regierungsprogramms machte sie eine spektakuläre Ankündigung. "Der Justizminister meiner Regierung wird als erste Amtshandlung beim Obersten Gerichtsrat die Abberufung von Generalstaatsanwalt Geschev wegen Unterminierung des Prestiges des Rechtswesens fordern", sprach die EU-Kommissarin.

Ungewöhnliches und labiles Parteienbündnis

Sie löste damit ein Pingpong aus gegenseitigen Schuldvorwürfen und Drohungen zwischen Politik und Staatsanwaltschaft aus. Zuletzt forderte Bulgariens in Ungnade gefallener Oberster Ankläger Geschev die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Gerb-Führer und Langzeit-Ministerpräsident Boiko Borissov wegen des Vorwurfs der Geldwäsche.

Die PP und ihr konservativer Bündnispartner Demokratisches Bulgarien (DB) sowie Gerb verstehen sich als euro-atlantisch orientierte Parteien. Sie vertreten in wesentlichen Fragen vereinbare Positionen, befürworten militärische Unterstützung der Ukraine und erachten Bulgariens Beitritte zu Eurozone und Schengenraum Abkommen für prioritär. Innenpolitisch standen sie sich in den vergangenen Jahren aber als politische Gegner unversöhnlich gegenüber.

Das PP-DB-Bündnis erklärte Borissovs Partei Gerb stets zu Hauptverantwortlichen für den ihrer Ansicht nach mafiös-oligarchischen Status quo im Land. Im Sommer 2020 demonstrierten ihre Parteigänger und Sympathisanten monatelang auf Sofias Straßen für den Rücktritt von Regierungschef Borissov und von Generalstaatsanwalt Geschev.

Am 18. März dieses Jahres nahm das Innenministerium der kurzlebigen PP-DB-Regierung Borissov gar unter dem Vorwurf der Korruption für vierundzwanzig Stunden in Gewahrsam.

Doch um den Bulgaren und Bulgarinnen die sechsten Parlamentswahlen in knapp zweieinhalb Jahren zu ersparen, von ihnen würde voraussichtlich allein die radikal-nationalistische Partei "Vazrazhdane" (Wiedergeburt) profitieren, haben sich PP, DB und Gerb trotz allem zur Bildung einer für Bulgarien präzedenzlosen Rotationsregierung mit einem Zeithorizont von eineinhalb Jahren durchgerungen.

Die zweitstärkste parlamentarische Fraktion aus PP und DB setzte dabei durch, dass sie zunächst mit dem Naturwissenschaftler Nikolai Denkov den Regierungschef für die kommenden neun Monate stellen wird, danach soll die bisherige EU-Kommissarin Maria Gabriel für Gerb die Regierungsgeschäfte übernehmen.

Sozialisten und Nationalisten halten das geplante Regierungsbündnis aufgrund der langen Unversöhnlichkeit der zukünftigen Koalitionäre für gewissenlos. Ihre besondere Empörung aber erregten die publik gewordenen Äußerungen von PP-Chef Kiril Petkovs während einer Sitzung des Nationalen Rats seiner Partei PP. Ihrer Ansicht nach spricht aus ihnen die Absicht zum Landesverrat.

Parteichef Petkov: Aufnahme zu von der Leyen "Werk der Geheimdienste"

Am Abend des 25. Mai 2023 war PP-Chef Petkov vor die Kameras getreten, um eine schriftliche Erklärung zu verlesen. Ein "emotional instabiler Kollege", so hieß es in ihr, beabsichtige, die PP-DB-Fraktion aus Protest gegen die angestrebte Regierung mit Gerb zu verlassen und bereite die Veröffentlichung von Kompromaten vor, "manipulierte Aufnahmen aus parteiinternen Sitzungen zum Zwecke der Anschwärzung und Nötigung".

Bei der Aktion handle sich um das "Werk der Geheimdienste und des Deep State mit dem Ziel der Destabilisierung und des Scheiterns der Regierungsbildung", insinuierte Petkov, "denn die Dienste wissen, dass wir ihre Führung auswechseln werden".

Tatsächlich präsentierte Petkovs früherer Sportminister Radostin Vassilev am folgenden Vormittag einen von ihm erstellten fünfminütigen Zusammenschnitt einer knapp fünfstündigen Online-Sitzung des Nationalen Rats von PP am 21. Mai 2023.

In ihm war Kiril Petkovs Stimme zu vernehmen, mit Aussagen wie:

Wir setzen auf Maria Gabriel, die davon träumt, Premierministerin zu werden. Durch diese Variante wird Borissow reingewaschen, das steht außer Zweifel. Es sieht nach einer Koalition aus, aber wir werden sagen, dass es nur Maria Gabriel ist.

Maria Gabriel, so referierte Petkov weiter, sei "nur die Frau ihres Mannes", habe kein eigenes Gewicht und sei "eine politische Gefangene". In Reaktion darauf erklärte Gabriels Partei Verhandlungen zur Regierungsbildung für bis auf weiteres eingefroren.

Für besondere öffentliche Erregung sorgten Passagen, in denen ausländische Faktoren zur Sprache kamen, weckten sie doch nicht nur Zweifel an der Prinzipientreue von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen, sondern auch an Bulgariens Unabhängigkeit gegenüber Einflüssen fremder Mächte.

Heute (21. Mai 2023) hatte ich ein Gespräch mit Ursula und stellte ihr folgende Frage: "Wenn es die Möglichkeit für solch eine Regierung gibt, versprichst Du uns, dass Du uns (in die Eurozone und den Schengenraum) hereinlässt?" Sie sagte: "Für Schengen habt Ihr eine große Chance, für die Eurozone müsst Ihr Euch etwas einfallen lassen, wie Ihr die Regeln umgehen könnt." Ich sagte: "Können wir überlegen, bei der Inflation den Ukraine-Effekt abzuziehen?" Und sie sagte: "Zitiere mich damit nicht, aber ich werde versuchen, Dir zu helfen."

Es sähe ganz so aus, kommentierte Petkov, "als finde sie die Idee nicht schlecht".

Der redselige Politiker zwang die EU-Kommission, zu bestätigen, dass "von der Leyen und Petkov für Bulgarien wichtige Themen erörtert haben, einschließlich der Eurozone und die Aufnahme in Schengen", um gleichzeitig zu beteuern: "Von der Leyens Position zu beiden Themen ist klar."

Brüssel zu Stellungnahme gezwungen

Später präzisierte der Sprecher der EU-Kommission, Eric Mamer, von der Leyen habe ihre Unterstützung für die Aufnahme des Landes in den Schengener Raum bekräftigt. Der Eingang in die Eurozone sei aber, "ein Prozess, dessen Anforderungen für alle Staaten gelten, bei dem alle Regeln eingehalten werden müssen".

Unter Berufung auf nicht näher benannte Kreise der EU-Kommission wussten bulgarische Medien zu berichten, die Präsidentin der EU-Kommission habe erzürnt auf die Indiskretion und Verwicklung ihres Namens in innenpolitische Auseinandersetzungen Bulgariens reagiert.

Als typisch für Bulgariens demokratische Kultur gilt insbesondere die Praxis, nach einer Übernahme der Regierungsgeschäfte Funktionsträger aus ihren Ämtern in der Staatsverwaltung hinauszukegeln, um eigene Leute auf ihre Posten zu ersetzen.

Aus der von Vassilev veröffentlichten Aufnahme scheint hervorzugehen, dass es die Absicht der als Reformpartei profilierten PP war, diese Tradition nahtlos fortzusetzen.

Nicht nur in den zivilen Institutionen werde man das Personal erneuern, sondern vor allem auch in den Repressionsorganen und Geheimdiensten, wo "die neuen Leute bereits mit der Botschaft abgestimmt" seien. "Ausländische Gesandte werden uns bei der Restrukturierung der Dienste helfen", so Petkov dazu.

In Reaktion darauf sah sich der US-Botschafter Kenneth H. Merten zum Dementi genötigt:

Wir haben keine Namen erörtert, mit niemandem, das ist nicht meine Arbeit, nicht meine professionelle Verpflichtung. Letzten Endes respektieren wir die Souveränität Bulgariens und diese Entscheidungen müssen von bulgarischen Bürgern getroffen werden, nicht von ausländischen Akteuren.

Als der von den Sozialisten nominierte Staatspräsident Rumen Radev am vergangenen Montag PP-Spitzenkandidat Nikolai Denkov das Mandat zur Regierungsbildung erteilte, erklärte er, die Verfassung verpflichte ihn dazu, allerdings erachte er das Mandat bereits für diskreditiert und könne seine Realisierung nicht empfehlen.

"Es ist unangemessen von mir, Ihnen nach den bekanntgewordenen Aufnahmen ein Mandat zu geben und das Schicksal Bulgariens in die Hände der Führer Ihrer Partei zu legen", sagte Radev. Zur Begründung führte er "die Torpedierung der Souveränität" Bulgariens, "geplante Säuberungen in den Diensten und der staatlichen Verwaltung" und die "Diskreditierung der Führer der europäischen Institutionen und des Namens Bulgariens" an.

"Ich denke, wir sind uns alle einig, dass Bulgarien eine stabile Regierung braucht", erwiderte Nikolai Denkov knapp.

Unter dem Motto "Hier ist nicht Moskau" versammelten sich am Dienstagabend tausende Befürworter der beabsichtigten Koalition vor dem Staatspräsidium und protestierten gegen die nach ihrem Dafürhalten übergriffige Anmaßung des Präsidenten, den zur Regierung entschlossenen Parlamentsparteien Belehrungen zu erteilen und forderten seine Amtsenthebung.

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