Bruder Wolf, der verfolgte Verfolger

Wolf in West Yellowstone, Montana. Bild: Ellie Attebery / CC-BY-2.0

Die jüngste Rechtsprechung macht dem Wolf das Leben schwerer. Besser wäre eine Verhandlungslösung aller Beteiligten. Fragen an eine Wolfsexpertin

Der Wolf, obwohl von Natur aus ein Langstreckenläufer, ist zwischen die Fronten geraten. Jagd- und Bauernlobby auf der einen und Naturschutzverbände auf der anderen Seite beanspruchen die Deutungshoheit über das Wolfsgebaren. Sie greifen in die Mottenkiste der Klischees und Mythen, um diese mit Zahlen und Fakten zu vermengen. Heraus kommt ein frisiertes Bild der Realität. Das heißt, jede Gruppe präsentiert ihr eigenes Bild. Der Wolf könnte als Symbol dafür stehen, wie Öffentlichkeitsarbeit heute funktioniert.

Inzwischen haben die "aufgeklärteren" unter den Kontrahenten erkannt, wie dem Streit die Spitze zu nehmen ist: durch Dialog. Im Dialog lässt sich herausfinden, wie weit die Koexistenz des Menschen mit dem Wolf reichen kann und wie weit nicht. Schäden, die der Wolf vor allem an Weidetieren verursacht, sollten nicht bagatellisiert werden. Die Debatte sollte aber auch zur Entdramatisierung der Frage beitragen, wie gefährlich der Wolf für den Menschen ist.

Auch der "Naturschutzbund Deutschland" (NABU) plädiert heute für Pragmatismus und eine Versachlichung der Debatte. In diesem Sinne stellte sich Marie Neuwald den Fragen von Telepolis. Neuwald ist Referentin für Wölfe und Beweidung beim NABU.

Ein Potsdamer Gericht sprach kürzlich einen Jäger frei, der einen Wolf mit der Begründung erschossen hatte, er habe Jagdhunde verletzt. Der Abschuss widerspricht dem Naturschutzgesetz. Wird der strenge Naturschutz für Wölfe durchlöchert?

Marie Neuwald. Bild: NABU/Klemens Karkow

Marie Neuwald: Nein, das glaube ich nicht. In Ausnahmefällen ist auch bei Tieren, die nach dem Bundesnaturschutzgesetz geschützt sind, die Entnahme, d.h. die Tötung, mit behördlicher Genehmigung möglich. Dafür müssen triftige Gründe vorliegen, wie z.B. das auffällige Verhalten eines Wolfes gegenüber Menschen, oder das wiederholte Reißen von Weidetieren, trotz angemessenen Herdenschutzes.

Der oben genannte Fall ist brisant, weil direkt, ohne Genehmigung, gehandelt wurde. Jedoch, so das Gericht, ist dies zulässig in Situationen des sogenannten "Notstands". Essentiell ist jedoch, dass vorher mildere Mittel versucht werden müssen, wie z.B. Rufen oder ein Warnschuss. Es würde mich sehr wundern, wenn aufgrund dieses Urteils nun vermehrt Wölfe geschossen werden. Angriffe von Wölfen auf (Jagd-)Hunde sind extrem selten. Zudem hat die Staatsanwaltschaft Berufung beantragt.

Trägt die neue "Lex lupus" zur Aufweichung des Naturschutzes für Wölfe bei?

Marie Neuwald: 2020 wurde das Bundesnaturschutzgesetz um den Paragrafen §45a ergänzt. Ursprünglich sollte so die Tötung von auffälligen Wölfen juristisch abgesichert werden - völlig überflüssig, weil die sogenannte Entnahme auch vorher schon möglich war. Wir haben die Änderung an sich stark kritisiert, weil es statt einer Gesetzesnovelle klar verständlicher, wissenschaftlich basierter Definitionen von auffälligem Wolfsverhalten und zumutbarem Herdenschutz bedurft hätte. Zumindest konnte durch starke Proteste aus der Bevölkerung die ursprünglich radikale Form der Gesetzesänderung abgemildert werden. Trotz alledem: Wölfe sind streng geschützt, daran ändert auch der neue Paragraf nichts.

Ist ein umfassender Herdenschutz, das heißt Elektronetze und auch Herdenschutzhunde, ein angemessenes Mittel, um die Akzeptanz der Wölfe in der Öffentlichkeit zu erhöhen?

Marie Neuwald: Die Zahl der gerissenen Weidetiere ist der Knackpunkt in der Akzeptanz für Wölfe. Herdenschutz ist das einzige effiziente Mittel, um Weidetiere vor Wölfen zu sichern. Einen hundertprozentigen Schutz wird es leider nicht geben - es kann immer der Strom ausfallen, ein Ast auf den Zaun fallen, oder Schwachstellen von Wölfen gefunden werden. Trotzdem minimiert der heute gängige Herdenschutz deutlich die Risszahlen dort, wo er angewandt wird. Die Art des Herdenschutzes, z.B. welcher Zauntyp, oder ob Herdenschutzhunde die richtige Wahl sind, muss für jeden Betrieb und jede Weide individuell entschieden werden. Und nicht vergessen werden darf: Herdenschutz bedeutet Mehraufwand. Neben Material sollte also auch dieser subventioniert werden.

Wäre die Erlaubnis zu einer großflächigen Bejagung der Wölfe ein Beitrag zum Herdenschutz von Nutztieren wie Schafe und Ziegen?

Marie Neuwald: Aus meiner Sicht ein klares Nein. Tötet man aus einem Rudel von sagen wir acht Wölfen über eine Jagdquote zwei Tiere jährlich, bleiben dennoch sechs Wölfe übrig, die den Weidetieren in der Region gefährlich werden können. Natürlich haben mehr Wölfe auch einen höheren Fleischbedarf. Weidetiere machen jedoch nur ein bis zwei Prozent der Wolfsnahrung aus - somit ist klar, dass Wölfe nicht auf Weidetiere zum Überleben angewiesen sind sondern sich vorrangig von Wild ernähren.

Egal wie viele Wölfe es in einer Region gibt: an Herdenschutz mit Zäunen oder Hunden wird kein Weg vorbei führen. Selbst durchziehende Einzelwölfe können hohen Schaden anrichten. Bejagung kann hier, ganz abgesehen von ethischen Diskussionen, keinen praktischen Mehrwert für die Weidetierhaltenden bringen.

Was sind Problemwölfe?

Marie Neuwald: Problematisches Verhalten von Wölfen wird vor allem in zwei Kategorien eingeordnet: übermäßiges Interesse bis Aggression gegenüber Menschen oder Überwindung von gutem Herdenschutz. Beides kommt äußerst selten vor, erfordert aber die Aufmerksamkeit der zuständigen Stellen. Die Sicherheit des Menschen steht an erster Stelle. In Deutschland wurde bisher ein einziger Wolf aufgrund fehlenden Distanzverhaltens erschossen. Er hatte die Nähe von Menschen aktiv, aber ohne Aggression gesucht. Auffälliges Verhalten sollte immer gemeldet werden, damit bei Bedarf frühestmöglich gehandelt werden kann. Auffällig ist es übrigens nicht, wenn Wölfe gerade nachts mal in Siedlungen gesichtet werden: Sie meiden zwar Menschen, aber nicht deren Infrastruktur.

Gibt es typische Umstände der Kollisionen mit Menschen, und wie ist hier die Häufigkeit?

Marie Neuwald: Eine Begegnung von Wölfen und Menschen ist selten, weil Wölfe tendenziell auf Distanz bedacht sind. In Deutschland gab es seit der Rückkehr vor über 20 Jahren keinen einzigen Übergriff von Wölfen auf Menschen. Eine 2021 veröffentlichte norwegische Studie gibt an, dass es von 2002-2020 weltweit 489 Wolfsangriffe gab, von denen 26 tödlich endeten. Schwerpunktregionen sind der Iran, die Türkei und Indien.

Der Großteil der Angriffe hat mit 78 Prozent Tollwut als Ursache. Diese Krankheit ist in Deutschland seit 2008 ausgerottet, so wie im Großteil Europas und Nordamerikas. Das zeigt sich auch an den Fallzahlen: In Europa und Nordamerika fanden die Forschenden für den gleichen Zeitraum 14 Angriffe, bei denen zwei Menschen starben. Tollwut wurde nur in einem Fall nachgewiesen. Somit lässt sich feststellen: Ein Angriff durch einen Wolf, wie auch durch andere Wild-, Nutz- oder Haustiere, kann niemals völlig ausgeschlossen werden. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist jedoch äußerst gering.

Zur Frage der Akzeptanz der Wölfe in der Öffentlichkeit liegen unterschiedliche Befragungen mit unterschiedlichen Ergebnissen vor. Nach einer vom NABU in Auftrag gegebenen Erhebung nimmt die Mehrheit der Befragten die mit dem Vordringen des Wolfes einhergehenden Risiken in Kauf. Nach einer vom niedersächsischen Bauernverband veranlassten Studie befürwortet die Mehrheit wolfsfreie Gebiete zur Risikoeindämmung. Findet hier jeder heraus, was er herausfinden will?

Marie Neuwald: Die Umfrage der Niedersächsischen Verbände wird noch unter Verschluss gehalten und liegt mir somit auch nicht vor. Für die vom NABU beauftragte forsa-Umfrage kann ich versichern: Wir haben die Fragen formuliert, forsa hat befragt und ausgewertet. Darauf hatten wir keinen Einfluss, und ich hoffe doch inständig, dass dies beim Landvolk Niedersachsen genauso war. Unsere Interpretation der forsa-Ergebnisse sowie die komplette Studie ist zu finden unter www.nabu.de/tdw2021. Dort kann sich jeder ein eigenes Bild machen.

Wie hat sich die Wolfspopulation in Deutschland in den letzten Jahren entwickelt?

Marie Neuwald: In Deutschland lebten laut dem letzten offiziellen Bericht im Monitoringjahr 2019/20 128 Wolfsrudel, 39 Paare und 9 territoriale Einzelwölfe. Momentan werden die Ergebnisse aus 2020/21 ausgewertet. Das Wolfsvorkommen in Deutschland wächst jährlich, was auch völlig natürlich ist: Es gibt durch die hohen Wilddichten in ganz Deutschland genügend Nahrung, und Rückzugsgebiete finden Wölfe ebenfalls in weiten Teilen des Landes. Die letzten Jahre lag die Zuwachsrate bei ca. 30 Prozent jährlich, im letzten Monitoringjahr jedoch bedeutend weniger. Ob das nur ein einmaliger Einbruch war oder der Wachstumstrend generell abflacht, ist abzuwarten.

Es heißt: Der Wolf kehrt in eine ökologische Nische zurück. Was ist das für eine Nische? Entsteht daraus ein Nutzen?

Marie Neuwald: Die Frage ist doch, ein Nutzen für wen? Wölfe stehen mit anderen großen Beutegreifern an der Spitze der Nahrungskette im Ökosystem Wald. Sie sorgen dafür, dass die Population ihrer Beutetiere nicht überhandnimmt und dadurch die Vegetation wie junge Bäume auch eine Chance auf Wachstum hat. In einer vom Menschen durch Landwirtschaft und Jagd geprägten Kulturlandschaft können Wölfe jedoch diese Funktion nicht messbar erfüllen: Es gibt heutzutage einfach zu viel Wild, als dass Wölfe hier einen merklichen Effekt haben könnten.

Wölfe werden die Bejagung durch Menschen nicht ersetzen können. Jedenfalls nicht, solange das Wild in den (Mono-)Kulturen auf den Äckern weiterhin so ein reiches Mahl vorfindet und es immer weniger harte Winter gibt. Für den NABU muss eine Tierart keinen "Nutzen" für Menschen haben, um eine Daseinsberechtigung zu erhalten. Wölfe sind hier heimisch, selbstständig zurückgekehrt und finden gute Lebensgrundlagen vor - das ist für mich Begründung genug, sie hier zu dulden und mich für die Koexistenz von Menschen, Wölfe und Weidetieren zu engagieren.

In dem Maße, wie die soziale und wirtschaftliche Struktur der ländlichen Gebiete verödet, entsteht auf der anderen Seite eine neue Naturschutz-Ethik. Wird der Wolf zum Sinnbild für diesen Wertewandel? Wird er eingespannt in die Interessen der divergenten Verbände - teils als Sündenbock, teils als Idol? Handelt es sich in Wahrheit um soziale und Mentalitätskonflikte unter Menschen, um das Abstecken von Claims?

Marie Neuwald: Es gibt sicherlich Verbände, die das konträre Thema Wölfe für ihre polarisierenden Zwecke nutzen und damit die Emotionalität noch mehr anheizen. Mit bzw. gegen Wölfe wird teilweise äußerst reißerisch Wahlkampf betrieben, wobei die Sachlichkeit oft in den Hintergrund tritt. Wir als NABU beschäftigen uns seit den 90ern mit der Rückkehr von Wölfen. Auch wenn wir offensichtlich "pro Wolf" sind, war für uns in erster Linie immer wichtig, den Menschen sachliche Informationen zur Verfügung zu stellen, um sich selbst ein Bild vom Wildtier Wolf machen zu können. Der Unterschied zwischen Stadt und Land in der Akzeptanz von Wölfen ist laut der oben genannten forsa-Umfrage nur marginal. Somit denke ich, dass Wölfe eher nicht als Sinnbild für den Stadt-Land-Konflikt geeignet sind.

Wolfsforscher sagen, dass die Menschen sich in Wolfshasser und Wolfskuschler einteilen. Wie bekommt man diese unter einen Hut?

Marie Neuwald: Weidetierhaltende werden durch Wölfe vor Herausforderungen gestellt, Begeisterung kann hier verständlicherweise nicht erwartet werden. Sie per se als Wolfshasser zu bezeichnen, halte ich aber nicht für angebracht. Die meisten Menschen in Deutschland begrüßen die Rückkehr der Wölfe, interessieren sich jedoch nicht tiefergehend dafür. Dann gibt es natürlich Menschen, die eher fanatische Wolfsbefürworter sind und in den Tieren etwas Mystisches sehen.

Wir als NABU sehen Wölfe als Wildtiere, die hier ihre natürliche Daseinsberechtigung haben, und setzen uns für Lösungen im Zusammenleben ein. Das geht nicht ohne die Betroffenen. Deshalb ist es aus meiner Sicht der einzige gangbare Weg, dass Naturschutz und Landwirtschaft gemeinsam an Lösungen arbeiten. Komplett konfliktfrei wird die Koexistenz wahrscheinlich nie werden, aber konfliktarm - das ist erst einmal das Ziel. Völlig polarisierende, einseitige Ansichts- und Handlungsweisen, pro oder contra Wolf, helfen der Koexistenz definitiv nicht weiter.