Slavoj Zizek auf der Buchmesse: Wenn schon eine Frage zu Palästinensern für Tumult sorgt

Zizek auf einer anderen Buchmesse (Leipzig 2015). Archivbild: Amrei-Marie / CC BY-SA 4.0 Deed

Erst spricht der Philosoph von einem Analyseverbot. Dann wird ihm Relativierung von Kriegsverbrechen vorgeworfen. Ist er naiv – oder seine Kritiker?

Die Freiheit des Denkens, die Vielfalt der Bücher und Perspektiven, all das brauche man in diesen "dunklen Stunden", sagte Kulturstaatsministerin Claudia Roth zur Eröffnung der Buchmesse.

Dann kam der weltberühmte (SZ) Philosoph aus dem Gastland Slowenien, Slavoj Zizek, und testete die Grenzen der Freiheit und der Vielfalt genau an dem Konfliktstoff aus, der derzeit jedem die Sprache raubt, der sich mit Vorgefasstem nicht zufrieden geben kann: Israel und Palästina.

Seine Rede löste einen Tumult aus, so die dpa-Meldung. In einigen Feuilletons rauchen offenbar noch die Köpfe, so begnügte sich der Spiegel und die Zeit am heutigen Vormittag noch mit bearbeiteten Versionen der dpa-Wiedergabe der Rede und des Eklats, den sie auslöste.

Die Reaktionen sind ebenso wichtig wie die Rede selbst, weil Slavoj Zizek von Anfang an auf den schwarzen Punkt zusteuerte: Wie kann man nach den Massenmorden, die nicht nur die Hamas, sondern "praktisch jede bewaffnete Gruppe, die im Gaza-Streifen präsent ist" (Guy Van Vlierden) gegen jüdische Familien und Festivalbesucher und andere unschuldige Zivilisten anrichteten, noch über die Palästinenserfrage reden?

Konfrontative Rede

Diese Debatte, zu der eben auch die Reaktionen gehören, um ein Selbstverständnis zu ermitteln, stieß Zizek schon mit den ersten Sätzen an. Dass es konfrontativ werden würde, machte er schon am Anfang klar, als er voraussagte, dass es am Ende vielleicht nicht mehr den Beifall geben würde, der ihn am Anfang begrüßte.

Der Inhalt seiner Rede ist nicht leicht wiederzugeben. Für Interessierte ist sie auf YouTube zu sehen (in englischer Sprache: von Minute 01:35:52, wo er die Bühne betritt, bis zu 1:58:59, wo er die Bühne verlässt - in deutscher Sprache und kürzer hier). Am Ende gab starken Applaus und Buhrufe und dazwischen erregte Proteste.

Kernaussagen

Zu den Kernaussagen Zizeks gehört, dass die Palästinenser aus der Analyse ausgespart werden. Der Rahmen der Buchmesse sei aber doch Vielfalt und Inklusion. Mehrmals machte er deutlich, dass die Terroranschläge ein schreckliches, brutales Verbrechen seien und er betonte, dass Israel jedes Recht habe, sich zu verteidigen.

Doch gab es ein "aber": Um zu verstehen, was dort geschehe, müsse man den Hintergrund miteinbeziehen: die Palästinenser, wobei auffallend war, dass Zizek in diesem Zusammenhang oft auf Palästinenser, die im Westjordanland leben, Bezug nahm, wohl um einer rhetorischen Gleichsetzung mit der Hamas zu entgehen. Sehr schnell steuerte Zizek auf einen neuralgischen Punkt zu:

Aber ich habe etwas Merkwürdiges festgestellt: Sobald man anfängt, den komplexen Hintergrund der Situation zu analysieren, wird man verdächtigt, den Terrorismus der Hamas zu unterstützen oder zu rechtfertigen. Ist uns klar, wie merkwürdig dieses Analyseverbot ist? In welche Gesellschaft gehört ein solches Verbot?

Slavoj Zizek

Die Palästinenser werden ausschließlich als Problem betrachtet.

Später erweiterte der gelernte Psychoanalytiker seine Aussagen noch um eine seelische Dimension:

In dem Moment, in dem man akzeptiere, dass man nicht gleichzeitig für beide Seiten kämpfen kann - in dem Moment hat man seine Seele verloren.

Slavoj Zizek

Bothsidesism, falsche Ausgewogenheit, heißt der Vorwurf, der hier schlummert. Aber viel wuchtiger ist der andere, der ihm gemacht wurde: Relativierung, wozu auch der Vorwurf der Kontextualisierung gehört. Den Vorwurf machte ihm Uwe Becker (CDU), Antisemitismusbeauftragter des Landes Hessen.

Der Philosoph musste ihn öfter hören und wie es eine sehr genau beobachtende Kritik in der Süddeutschen Zeitung beschreibt, Zizek wurde sehr erregt und nervös, er verlor zwischenzeitlich die Fassung.

Mehrmals betonte er, dass er nicht relativiere. An einer Stelle holte er sich eine Aussage des US-Außenministers zur Hilfe.

Als er die Fassung halbwegs zurückgewonnen hat, sagt er: "Natürlich kann man die Gewaltakte nicht vergleichen. Der Angriff der Hamas war natürlich rücksichtslos und brutalstmöglich, völlig klar." Er stimme aber zum Beispiel dem amerikanischen Außenminister Anthony Blinken zu, der gesagt habe, Israel habe das volle Recht zurückzuschlagen, "aber wie es das tut, geht uns alle an."

SZ

Die Rede sparte nicht mit Zuspitzungen. An den Antisemitismus-Beauftragten Becker gewandt, sagte Zizek: "Ich relativiere nicht. Ich sage nur, dass sie, so wie Sie jetzt reden, Millionen Palästinenser in eine unmögliche Situation bringen - und dass das zum Wachstum von Antisemitismus führen wird."

Als ob es so einfach zurechtzuschneidern wäre.

Ratlosigkeit

Für die Präsentatoren der Veranstaltung war die Sache schwierig, die Ratlosigkeit ist ihnen anzumerken. Aber, so sagte der Leiter der Buchmesse, Juergen Boos, am Ende:

Es ist die Freiheit des Wortes. Und die müssen wir hier stehen lassen, das ist mir wichtig.

Es müsse auch möglich sein, eine Rede zu unterbrechen, so Boos.

Als Fazit kann man feststellen, dass sich gezeigt hat, dass sich der Meinungskorridor bei dieser Veranstaltung als größer darstellt, als man es dem Diskurs an anderen Stellen unterstellt ("Darf man das noch sagen?").

Doch bleibt vieles unsagbar, aber das hat Gründe, die nicht einfach auf die simple Formel Meinungsunterdrückung zu bringen sind. Das Gelände ist schwierig.

Überdeutlich war damit bis zum Schluss, dass es trotz der vielen Worte (derzeit) keine Sprache für den Konflikt gibt, mit der man ihn präziser fassen kann, als es Bekenntnisse für die eine oder die andere Seite zulassen.

Jens-Christain Rabe, SZ