Bühnen, Netze, Ströme
Ein Versuch über Weltmetaphern
Der permanente Wandel der Wirklichkeit gehört zu den feststehenden Gewissheiten der Gegenwart. Um die Welt zu begreifen, bieten sich verschiedene universale Formeln an. Leben wir in einer Aufführung, einem Flechtwerk, einer Stromschnelle?
Mit Blick auf den damaligen Weltzustand sprach Karl Jaspers bereits um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts von der "Verkehrseinheit der Menschheit". Infolge einer vierhundertjährigen europäischen Expansion sei ein Stadium der Lebensweise erreicht worden, das vor allem in seinem technischen Charakter fassbar werde.
Mit diesem Befund schien eine Hoffnung des 19. Jahrhunderts in Erfüllung zu gehen, dass nämlich das humane Erdenreich sich unter dem Einfluss moderner Wissenschaft und Technik zur einheitlichen Weltzivilisation entwickeln werde.
Weiträumige Partizipation am wissenschaftlich-rationalen Denken und Aufstiege in die Liga der technischen High Performer sind seitdem eingetreten. Eine planetarische Gemeinschaft, die über die Nutzung kompatibler technischer Strukturen hinaus durch eine gemeinsame sittliche Idee – die auch Jaspers aufzugeben sich weigerte – verbunden wäre, ist hingegen kaum in Sicht.
Den Fragenkreisen der Ethik, in denen auf globaler Ebene eine große Vielfalt existiert, stehen unsere anschlussfähigen Konstruktionen weitestgehend indifferent gegenüber. Sofern von einer Weltzivilisation die Rede sein kann, ist ihre Matrix vor allem technischer Natur.
Die "Verkehrseinheit" bleibt ein abstraktes Funktionsgebilde. Wir steigen in Züge, überfliegen Metropolen am Bildschirm, stehen am Flussufer und sehen den Schiffen zu – erfahrbare Ausschnitte, in denen wir leben. Was aber ist die Gesamtheit dessen, was wir – im kulturellen Sinne – "unsere Welt" nennen? Wo die Wahrnehmung versagt, springt die Metapher ein mit dem Versuch, den Mangel an Anschaulichkeit zu kompensieren, um uns das ungesehene Ganze vor Augen zu führen.
Als basal orientierendes Sprachbild bietet sie einen Ordnungsentwurf für unsere Weltbewältigungs- und Verstehensbemühungen. Ihre Analyse verspricht eine doppelte Auskunft: über unsere Sicht auf die Wirklichkeit und über deren Beschaffenheit, da ohne angemessenen Sachbezug kaum eine Metapher sich in der Sprachpraxis wird einrichten können.
Bretter, die die Welt bedeuten
Seit der Entstehung des antiken Theaters bietet die Bühne ein erfolgreiches Modell für die metaphorische Deutung der Menschenwelt. Und die Idee, dass das Weltenspiel der Geschichte einem verborgenen Aufführungsplan gehorche, hat für manche bis heute ihren Reiz. Doch die Schaustätte ist in die Jahre gekommen. Das Bühnenbild scheint seiner welterschließenden Aufgabe immer weniger gerecht werden zu können, es verliert seine Stimmigkeit.
Gegen die Statik seiner klar umrissenen räumlichen Struktur, seine althergebrachte Zuweisung eindeutiger Funktionsbereiche und die damit einhergehende Unvermeidbarkeit subtiler Hierarchien etablieren sich andere Metaphern von vergleichbarem Leistungsumfang, um dem Bedürfnis nach Zurechtfindung im globalen Technotop Rechnung zu tragen.
Im Wandel dieser Orientierungsgewohnheiten und der damit einhergehenden Abkehr von einem Bildprogramm, das auf strenge Stufenordnungen festgelegt ist, erscheint gegenwärtig besonders das "Netz" als umfängliche Deutungshilfe, die traditionelle Systeme der Über- und Unterordnung verwirft. Auch die vom Motiv des Aufstiegs nicht zu trennende Lichtmetaphorik, die spätestens seit den Anfängen europäischer Überlieferungsgeschichte ihren Platz in unseren Sprach- und Denkgewohnheiten hat, ist mit den eher anarchischen Prinzipien zuneigenden Strukturen solcher Geflechte schwerlich vereinbar.
Netze im Strom
Nach einer langen, ebenfalls bis in antike Zeiten zurückreichenden Karriere erlangen "Netze" im späten 20. Jahrhundert den Status eines kulturellen Paradigmas. Dabei ist es vor allem dem Gang der Computertechnik und deren Fusion im World Wide Web geschuldet, dass diese Denkfigur Theorie und Praxis – von den Alltagswelten bis in die Bereiche entrückten Spezialistentums – maßgeblich umorientiert.
Auf derselben Ebene ragt außerdem der "Strom" hervor. Ihm gelingt es, kulturelle Bewegungsphänomene als Teil eines erdumfassenden Fließgeschehens verständlich zu machen.
Im "Raum der Ströme" (Manuel Castells) findet das fluide Moment der Moderne einen sinnbildlichen Ort, der vom "Netz" in dieser Weise nicht hätte gestiftet werden können. Hier tritt die eigentümliche ikonologische Konkurrenz zutage, die das Verhältnis von "Netzen" und "Strömen" als Weltformeln kennzeichnet.
Während der "Strom" geradezu exemplarisch für die ungehemmte Großbewegung steht, deren ursprüngliche Gewalt bei allen Anstrengungen letztlich nicht zu bändigen ist, figuriert das "Netz" ein Objekt, das – nach altbewährter Verwendungsweise – in die Verlaufsrichtung dieses Flusses widerständig eingesenkt ist und damit der Eigenschaft permanenter Veränderung entgegensteht.
Vor diesem Hintergrund gegensätzlicher Bildlogiken ist bemerkenswert, dass beide Ausdrücke heute nahezu beliebig austauschbar dazu dienen, anthropogene Strukturen und Prozesse nahezu jeglicher Größenordnungen zu veranschaulichen: Die brachialhumanisierte Welt des 21. Jahrhunderts wird uns als das wachsende Werk vielfältiger Vernetzungsagenten vorgestellt, und zugleich als jene weitschweifig und grenzenlos durchströmte Sphäre, in der Stillstand nur als Störfall gelten kann.
Indem der doppelte Rückgriff auf die Potentiale dieser Metaphern widerstreitende Entwürfe kombiniert ins Bild setzt, drängen sich die Fragen auf, wie diese Vereinbarkeit überhaupt zustande kommt und ob sie womöglich als Indiz dafür genommen werden kann, dass diese Leitmetaphern in ihrer ordnenden und orientierenden Funktion nicht doch vor dem versagen, was sie uns veranschaulichen und begreiflich machen sollen?
Ströme im Netz
Vermutlich hat diese Seltsamkeit sich im 19. Jahrhundert mit dem Ausbau technischer Infrastrukturen einzuschleichen begonnen. Jedenfalls kommt es in Zusammenhang mit der fortschreitenden industriellen Revolution zur Bildung eines erstaunlichen Ausdrucks: Das "Stromnetz" führt die konträren Elemente von Bewegung und Starre auf Wortebene zusammen.
Während im Kontext beginnender Elektrifizierung die sprachliche Verwendung des "Stromes" der Vorstellung einer fließenden Elektrizität geschuldet ist und damit der hergebrachten Semantik treu bleibt, erfährt das "Netz" eine entscheidende Neuerung: Neben den Aspekt der Mobilitätsunterbindung tritt das disparate Verständnis von einem Leitungssystem zur Verteilung von Elektrizität, Wasser oder Gas, später auch von Waren, Informationen und Menschen.
Die Metaphorik ändert ihre Referenz; das "Netz" wird von einer Art Falle zur konnektiven Prozessgestalt, die laufende Flüsse aufnimmt, um den Fortgang und die kontinuierliche Veränderung zu gewährleisten. Im "Stromnetz" sehen wir das Resultat von Verkehrung und Absorption: Hingen Netze einst im Strom, fließen Ströme nun im Netz.
Als Flechtwerk, Gewebe und Textur stehen Netze alten Typs in enger Verwandtschaft zu Instrumenten wie dem Sieb oder dem Filter. Ihre vorrangige Funktion ist die Selektion mittels kalkulierter Durchlässigkeit. Wenn heute große Teile unserer materiellen Einrichtungen – Versorgungsleitungen, Verkehrswege, Kommunikationskanäle – als "Netze" bezeichnet werden, dann sind es vornehmlich deren Formen, die die Verwendung jenes Sprachbildes noch immer plausibel machen.
Das heißt nicht, dass die Funktion als Fangwerkzeug und filternde Barriere gänzlich verschwunden wäre. Ein euphorischer Vernetzungsfuror, dem der Sinn für die tückische Ambivalenz dieser Gespinste bisweilen abhandengekommen war, scheint seine Hochphase allerdings hinter sich zu haben.
Vorbehalte artikulieren sich inzwischen nicht mehr vornehmlich in kritischen Kommentaren zur Internetkultur. Auch eine "Soziologie der Entnetzung" (Urs Stäheli) zeigt nunmehr gesteigertes Interesse an einem grundsätzlichen "Unbehagen am Netzwerken" sowie an "Praktiken der Entnetzung".
Subversive Botanik
Gegenwärtige "Netze" werden in erster Linie als Garanten für flächige Beweglichkeit mit der Tendenz zur Synchronität aufgefasst. Zur entscheidenden Volte in die Tiefen der dritten Dimension ist eine florale Variation behilflich, verbunden mit einem heimlichen Bildwechsel vom planvollen "Weben" zum kopflosen "Wachsen".
Das "Rhizom" spannt eine labyrinthische Struktur auf, die klassische, sonnenzugewandte Ordnungen zersetzt und sich durch Prinzipien wie Vielheit, Konnektivität, Unstetigkeit, Dezentralität, Unschärfe und Heterogenität auszeichnet.
Was Gilles Deleuze und Félix Guattari in einer feixenden Enthauptungsphantasie als anticäsarischen Fließraum mit verschlungener Topologie skizzierten, war das rebellische Idealbild einer völligen Abkehr von Konzepten wie "Vertikalität" und "Genealogie". Die Proklamation der freien Zirkulation und der absoluten Bindungslosigkeit musste daher zum Sturmlauf gegen alte Bilder und damit verbundene Auffassungen geraten1:
Wir sind des Baumes müde. Wir dürfen nicht mehr an die Bäume glauben, an große und kleine Wurzeln, wir haben genug darunter gelitten. Die ganze Baumkultur ist auf ihnen errichtet, von der Biologie bis zur Linguistik. Nur unterirdische Sprößlinge und Luftwurzeln, Wildwuchs und das Rhizom sind schön, politisch und verlieben sich.
Gilles Deleuze, Félix Guattari, 1977
Der Überdruss am Entfaltungsprinzip aszendenter Linien deutete in den 1970er Jahren auf einen durchgreifenden Wandel der Orientierungspraxis hin. Es ging dabei nicht allein um ein neues Muster der Weltbeschreibung.
Die "Rhizomatik" bot vor allem ein metaphorisches Ordnungsmodell für moderne bzw. postmoderne Wissensorganisation und präsentierte sich damit als angemessenes Korrelat zu einer Wirklichkeit, die mehr als verflochtenes System denn als klare Gliederung fassbar war. Rund vier Jahrzehnte später findet diese Entwicklung auch bei Wolfram Hogrebe ihre generelle Bestätigung2:
Wenn man die erkenntnistheoretische Situation der Philosophie am Anfang des 21. Jahrhunderts aus der Erfahrung des vergangenen Jahrhunderts bündig kennzeichnen will, wird man an der Konfession nicht vorbeikommen, daß die Architektur des Wissens keinem hierarchischen Design mehr folgen kann. […] Wir stehen, wenn man sich nichts vormacht, vor einem Wechsel der Bildlichkeit, an der wir uns orientieren: die Pyramide weicht dem Kontrolleur der Arbeiten vor Ort.
Noch bis tief ins 20. Jahrhundert war die Orientierung an der Pyramide wie selbstverständlich Leitbild eines axiomatischen Gesamtaufbaus z.B. der Mathematik. Dieses Pathos scheint heute vollständig verschwunden zu sein.
Wolfram Hogrebe, 2013
Maritimes Flair
Die sprachbildgestützte Weltauffassung treibt damit fort von den Bäumen, Bühnen und Sonnen, entlang untergründiger Wucherungen, hinein in die Verflüssigungszonen maritimer Bildfelder. Auch der flüchtige Blick auf diese Drift kommt an Peter Sloterdijk kaum vorbei, der mit seiner Vorstellung der gegenwärtigen Welt als "Mündungsgebiet" eine Bildlichkeit des Übergangs entwirft3:
In den Verästelungen und Biegungen des Delta-Universums werden die anarcho-fluidistischen Vorstellungen der Rhizom-Verfasser gegenstandslos. Alles fließt, indem alles stagniert. Ob sie in Jahrhunderten gewachsen sind oder gestern improvisiert wurden: die Einzelkulturen im Delta werden wahrnehmbar als mehr oder weniger träge Nebenflüsse, die kurz davor stehen, sich in den Ozean der homogenisiert-diversifizierten Weltzivilisation zu ergießen. Aufgrund des Übermaßes an Zuflüssen gerinnt der Ozean zu einer undurchdringlichen Mauer. Delta und Ozean sind ununterscheidbar geworden, Strom und stehendes Gewässer ein und dasselbe.
Peter Sloterdijk, 2014
Seine Monstrosität verdankt diese Komposition auch ihrem Spiel mit dem Widersinn. Bewegung und Stagnation, Grenze und Entgrenzung rücken zusammen, heben sich auf und führen die Szenerie als einstweilige Endgestalt vor.
Im letzten fluiden Exzess wechselt der Aggregatzustand zu umfassender Starre. Man ist allerdings gut beraten, sich vor der dynamischen Verführungskraft zu hüten, die das Aufgebot von Gewässersystematiken entfaltet. Denn den Tatsachen der Erfahrungswelt schwimmen wir mit dieser Bildgruppe mitunter rasch davon.
So hilfreich die Metapher als Zugriffsmittel und erzählerisches Element auch sein mag, die Sache selbst ist sie nicht. Es darf daher zweifelhaft bleiben, ob die heraufziehende Wirklichkeit in einem verlorenen Ozean jenseits aller Küstenlinien und ohne stabile Gestalten ein angemessenes Bild finden könnte.
Rückkehr zum Ufer
Über Karrieren von Ordnungsentwürfen, wie Sprachbilder sie darstellen, lassen sich schwerlich Prognosen erstellen. Welche es in Zukunft sein werden, die die Entlastungs- und Orientierungsbemühungen von Bevölkerungen stützen, die sich nervös, überreizt, müde, ängstlich und aggressiv am Leben halten, ist ganz unklar.
Eine solidere Bildsprache könnte neuen Auftrieb erhalten, wenn es künftig zu taxieren gilt, wie hoch der Preis für Auflösung und ungehemmtes Fließgeschehen in einer auch an Bedrohungen unüberschaubar vielfältigen Welt ist.
Es ist ein Spruch des Heraklit, der gern herangezogen wird, um den Vorrang des Bewegungsprinzips plausibel zu machen und vermeintliche Stabilitäten als Täuschungen zu entlarven. Denn dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen könne, ist ein eingängiges wie überzeugendes Bild.
Die genauere Betrachtung dieser Metapher relativiert jedoch gerade den absoluten Anspruch, der mit ihrer rhetorischen Inszenierung erhoben wird. Denn auch das Fließen ist auf seinen Widerpart angewiesen. So mag der Strom, in den man abermals steigt, nicht derselbe sein,4
aber man kehrt an dasselbe Ufer zurück, und dies sogar dann, wenn man sich im Fluß, um mit ihm als demselben wenigstens für eine Zeit eins zu bleiben, hat treiben lassen. Ist man an das Ufer zurückgekehrt, ist es dasselbe, an welcher seiner Stellen auch immer. Da schert es einen nicht mehr, daß es nicht mehr derselbe Fluß ist, in den man ein weiteres Mal steigen würde.
Hans Blumenberg, 2012
Fußnoten
[1] Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Rhizom. Berlin 1977, S. 26
[2] Hogrebe, Wolfram: Der implizite Mensch. Berlin 2013, S. 118
[3] Sloterdijk, Peter: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne, Berlin 2014, S. 483
[4] Blumenberg, Hans: Quellen, Ströme, Eisberge. Hrsg. von Ulrich von Bülow und Dorit Krusche, Berlin 2012, S. 103.