Bürgerkrieg in Äthiopien: Anfang vom Ende?

Ein Mann passiert einen zerstörten Panzer auf der Hauptstraße von Edaga Hamus, in der Region Tigray, Äthiopien, am 5. Juni 2021. Bild: Yan Boechat, VOA, gemeinfrei.

Zentralregierung erklärte Waffenstillstand für umkämpftes Bundesland Tigray. Doch ist dem Frieden zu trauen?

Acht Monate nachdem die äthiopische Zentralregierung, der eritreische Diktator Isaias Aferwerki und amharische Milizen in Tigray einmarschiert sind, hat der Bürgerkrieg in dem nördlichsten Bundesland Äthiopiens Ende Juni eine überraschende Wendung genommen.

Die äthiopische Regierung unter Abiy Ahmed Ali erklärte einen einseitigen Waffenstillstand, zog aus Mekelle - der Hauptstadt Tigrays - ab und Verbände der Tigray Defense Force (TDF) rückten in die Stadt ein.

Für viele Beobachter des Konfliktes kam diese Entwicklung unerwartet. Einige hatten die Regierung des Bundeslandes Tigray unter Führung der TPLF (Tigray Peoples Liberation Front) und ihre Streitkräfte Tigray Defense Force (TDF) schon für besiegt erklärt. Schließlich hatte der regierende Staatschef Äthiopiens, Abiy Ahmed Ali, eine mächtige Allianz gegen die TPLF geschmiedet.

Bereits kurz nach seinem Amtsantritt schloss er ein Bündnis mit dem ehemaligen Erzfeind Äthiopiens, Eritrea. Verkauft wurde dies als "Friedensvereinbarung" und Abiy Ahmed Ali bekam dafür den Friedensnobelpreis. Mittlerweile kann davon ausgegangen werden, dass dieser Vertrag - dessen Inhalt bis heute unter Verschluss gehalten wird - weniger ein Friedensvertrag war, sondern vor allem der Kriegsvorbereitung gegen die Regionalregierung Tigrays und die TPLF diente.

Die TPLF stellte lange Zeit die dominierende Kraft in der Zentralregierung, hat weiterhin den Rückhalt der Bevölkerung im Bundesland Tigray und wird von dem zunehmend autokratischer agierenden Premier Abiy Ahmed Ali somit als eine Hauptbedrohung für seine Macht angesehen.

Militäroperation wurde beinahe zum Desaster für äthiopische Armee

Am 4. November letzten Jahres waren Truppen der äthiopischen Zentralregierung, eritreische Verbände und amharische Milizen in Tigray einmarschiert. Unterstützt wurden sie dabei von massiven Drohnenangriffen der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), die von eritreischem Boden aus Ziele der Tigray Defense Force (TDF) zerstörten. Abiy Ahmed Ali deklarierte den Krieg als zeitlich befristete "law enforcement operation", leugnete monatelang die Beteiligung eritreischer Truppen und prognostizierte einen vollständigen Sieg seiner Armee innerhalb von drei Tagen.

Anfangs sah es tatsächlich nach einem schnellen Sieg aus.

Tatsächlich gelang es der äthiopischen Armee recht schnell, die Hauptstadt Mekelle unter Kontrolle zu bringen. Eritreische Truppen marschierten von Norden und Osten und amharische Milizen von Süden und Westen in Tigray ein. In Mekelle wurde von Abiy Ahmed Ali eine provisorische Übergangsregierung eingesetzt.

Amharische Nationalisten nutzten die Gunst der Stunde, vertrieben tigrayische Bauern und erklärten weite Teile Tigrays zu Amharenland. Die Streitkräfte Tigrays zogen sich in das gebirgige Hochland zurück und begannen einen Guerillakampf. Sie konnten dabei auf die Unterstützung der Bevölkerung zählen, die die Kräfte der Kriegskoalition des Friedensnobelpreisträgers als Invasoren betrachtete.

Der Krieg entwickelte sich in den kommenden Monaten zunehmend zu einem Vernichtungsfeldzug gegen die Zivilbevölkerung.

Massaker, Massenvergewaltigungen und Hunger wurden als Waffe eingesetzt. Der einst als Hoffnungsträger und Friedensbringer hofierte Abiy Ahmed Ali entpuppte sich in atemberaubender Geschwindigkeit als machtbesessener Autokrat und Kriegsverbrecher.

Besonders die eritreischen Truppen taten sich durch Exekutionen, brutale Vergewaltigungen und Plünderungen hervor. Der internationale Druck auf Abiy Ahmed Ali nahm zu, es wurde der Abzug der eritreischen Truppen und ein Zugang für humanitäre Hilfslieferungen gefordert.

Trotz Ankündigung von Abiy Ahmed Ali kam es bis heute nicht zu einem Rückzug der eritreischen Truppen aus Tigray. Nach Einschätzung vieler Beobachter hätte die äthiopische Zentralarmee ohne die Eritreer kaum eine Chance gegen die TDF.

Nicht nur eine gute Ausbildung und eine hohe Disziplin kommen der TDF zugute. Die außergewöhnliche Brutalität mit der das äthiopische Regime im Verbund mit eritreischen Söldnern und amharischen Nationalisten gegen die Zivilbevölkerung vorging, bewegte junge Tigrayaner dazu, sich scharenweise dem bewaffneten Kampf anzuschließen.

Die Verluste der Ethiopian National Defense Force (ENDF), der Eritreer und der Amharen nahmen zu. Zunehmend erfolgreicher gelang es der TDF wichtige Nachschublinien zu unterbrechen, immer mehr Soldaten der äthiopischen Zentralstreitkräfte ergaben sich oder ergriffen die Flucht.

Am 18. Juni startete die TDF eine Gegenoffensive unter dem Namen Operation Alula (Ras Alula Aba Nega war ein tigrayanischer General, der maßgeblich am Sieg gegen italienische Invasoren beteiligt war).

Die TDF konzentrierte sich mit ihrer Offensive auf die Streitkräfte der ENDF, große Teile der äthiopischen Armee wurden innerhalb kurzer Zeit besiegt, und Kriegsgerät wurde in nennenswertem Umfang erbeutet. Das Tempo, in dem die militärische Stärke der Zentralstreitkräfte erodierte, erstaunte dabei nicht nur internationale Beobachter, sondern auch die Führung der tigrayischen Verbände.

Nachdem die Hauptstadt Mekelle immer mehr in Bedrängnis geraten war, entschied sich die äthiopische Regierung notgedrungen zu einem Kurswechsel. Hals über Kopf flüchteten Militärs und Regierungsbeamte aus Mekelle. Dabei wurden Lebensmittel, das Geld der Banken und technisches Gerät geplündert und mitgenommen. Auch von Hilfsorganisationen wurden Kommunikationseinrichtungen gestohlen oder zerstört.

Truppen der TDF rückten unter dem Jubel der Bevölkerung in die Stadt ein. Am 28. Juni verkündete Abiy Ahmed Ali einen einseitigen Waffenstillstand. Er begründete dies damit, dass die von ihm eingesetzte provisorische Interimsregierung Tigrays ihn darum gebeten habe. Öffentlichkeitswirksam wird als weitere Begründung angeführt, dass Bauern die Gelegenheit bekommen sollten, ihr Land zu bestellen.

Tatsächlich dürfte der militärische Erfolg der TDF für das scheinbare Einlenken der Zentralregierung verantwortlich sein.

Ist der Waffenstillstand der Einstieg in ernsthafte Friedensgespräche? Kann jetzt mit einem baldigen Ende des Bürgerkrieges gerechnet werden?

Ein Ende des Konfliktes in Tigray ist mit der Rückeroberung Mekelles durch Truppen der TDF und der Erklärung eines befristeten, einseitigen Waffenstillstandes durch Abiy Ahmed Ali nicht in Sicht. Vielmehr sieht es danach aus, dass der Krieg gegen Tigray mit anderen Mitteln fortgeführt wird.

Während einerseits versucht wird, den Waffenstillstand propagandistisch zu nutzen, wird andererseits daran gearbeitet, Tigray von allen Seiten einzuschnüren und eine unabhängige Versorgung unmöglich zu machen. Gleichzeitig wird die bevorstehende Regenzeit genutzt, um Truppen und Ausrüstung aufzufrischen.

Insbesondere im Westen und im Süden Tigrays sind massive Truppenverstärkungen durch amharische Milizen und äthiopische Regierungstruppen zu beobachten. Im Norden haben sich eritreische Verbände aus einigen Regionen - wie z.B. aus den Gebieten rund um die Städte Axum und Shire - zurückgezogen und verstärken gleichzeitig ihre Kräfte um die tigraiyische Stadt Bademe.

Akteure und Interessen im Krieg um Tigray: eine Übersicht

Andererseits versucht die TPLF die Belagerung Richtung Sudan zu durchbrechen, um eine Belieferung mit notwendigen Gütern - insbesondere auch humanitären Hilfsgütern - möglich zu machen. Die Interessen aller am Konflikt beteiligten Parteien stehen einem baldigen Frieden fundamental im Weg:

  • Regierung Tigrays,TPLF

Für die TPLF geht es darum, ganz Tigray von Invasionstruppen zu befreien. Von diesem Ziel ist man weit entfernt. Die äthiopische Zentralarmee, die durch die jüngste Offensive der TDF an den Rand des Zusammenbruchs gebracht wurde, ist in diesem Krieg eher der schwächste Akteur. Deutlich schwerer dürften die Streitkräfte des eritreischen Diktators zu besiegen sein, denn die eritreische Gesellschaft ist militarisiert, und alle Kraft geht in den Aufbau eines starken Militärs.

Auch amharische Milizen sind in der Lage, ihre Kräfte durch schier unendlichen Nachschub an Menschen immer wieder aufzufrischen. Amharen sind - nach den Oromo - die zahlenmäßig zweitstärkste Bevölkerungsgruppe in Äthiopien.

Die Regierung Tigrays ist zu einem Waffenstillstand und Friedensgesprächen bereit. Als Bedingung wird vor allem der vollständige Abzug aller fremden Truppen aus Tigray, eine unabhängige Untersuchung der Kriegsverbrechen sowie eine Wiederherstellung der Basis-Infrastruktur genannt.

Hinzu kommt, dass es für die Regierung Tigrays unabdingbar ist, dass die Region nicht für Hilfslieferungen, Wiederaufbau und wirtschaftliche Entwicklung durch Äthiopien und Eritrea blockiert wird. Nach jüngsten Meldungen werden etwa Lkw-Kolonnen mit Hilfslieferungen im Amharagebiet blockiert und mussten umkehren.

  • Äthiopische Regierung, Abiy Ahmed Ali

Abiy Ahmed Ali scheint im Moment in einer eher schwachen Position. Er hat einen Großteil seiner Truppen verloren und ist mehr denn je auf die Unterstützung und das Wohlwollen von Isaias Aferwerki und der amharischen Nationalisten angewiesen.

Daran ändern auch die jüngst stattgefundenen Wahlen nichts. Zwar hat Abiy Ahmed Alis Prosperity Party (PP) erwartungsgemäß die Wahlen mit ca. 96 Prozent der Stimmen gewonnen, jedoch taugen diese Wahlen kaum dazu, dem Regime einen demokratischen Anstrich zu verleihen.

In rund 20 Prozent der Wahlbezirke wurde überhaupt nicht gewählt, wichtige Oppositionsgruppen aus dem bevölkerungsreichen Bundesland Oromia boykottieren die Wahl, internationale Wahlbeobachter haben ihre Beteiligung zurückgezogen und die Repression durch Abiy Ahmed Ali gegenüber jeglicher Opposition sowie den Medien ist nicht geeignet, ein Klima für auch nur annährend demokratische Wahlen zu schaffen. Im Bundesland Tigray hat überhaupt keine Wahl stattgefunden. Über die Wahlbeteiligung gibt es bisher keine Angaben.

Es ist zu befürchten, dass Abiy Ahmed Ali den Waffenstillstand nur dazu nutzen will, stärker zu werden, sich neu mit den Verbündeten abzustimmen, um dann erneut gegen Tigray vorzugehen. Der einseitig erklärte Waffenstillstand ist ausdrücklich nur bis September - also dem Ende der Regenzeit - befristet.

Die verstärkte Blockade von Tigray, die Zerstörung von Infrastruktur, Stromversorgung und Telekommunikation sowie die martialischen Drohungen durch Abiy Ahmed Ali lassen kein Interesse an Frieden oder auch nur an einem verhandelten echten Waffenstillstand erkennen.

Hinzu kommen Berichte, dass außerhalb Tigrays - vor allem in Addis Abeba - Massenverhaftungen von Tigrayern stattfinden. Ohne Anklage werden Menschen in Lagern konzentriert, weil sie aus Tigray stammen. Gerüchten zufolge gibt es Deportationen nach Eritrea.

  • Eritrea, Isaias Aferwerki

Eritreas Machthaber macht seit Jahrzehnten vor allem Tigray und die TPLF für alle Probleme Eritreas verantwortlich. Um seine Machtposition und seine Glaubwürdigkeit im eigenen Land auch für die Zukunft zu festigen, ist ein militärischer Erfolg wichtig, zumal er auch Gebietsansprüche gegenüber Tigray geltend macht.

Darüber hinaus wäre ein Wiedererstarken Tigrays unter Führung der TPLF eine ständige Bedrohung Isaias Aferwerkis. Ein Rückzug zum gegenwärtigen Zeitpunkt könnte die Machtposition Isaias Aferwerkis im eigenen Land ernsthaft erschüttern.

Deshalb ist nicht zu erwarten, dass Isaias Aferwerki Tigray freiwillig verlässt, und Abiy Ahmed Ali ist schon lange nicht mehr in der Lage, gegenüber seinem eritreischen Bundesgenossen etwas durchzusetzen.

  • Amharische Nationalisten

Amharische Nationalisten haben weite Teile Tigrays besetzt und zu eigenem Territorium erklärt. Sie werden diese Gebiete nicht so einfach wieder hergeben. Ähnlich wie die Eritreer müssen sie ein starkes Tigray unter TPLF Führung fürchten, allein weil sie damit rechnen müssten, dass die TPLF sie für die unzähligen Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung Tigrays zur Rechenschaft ziehen könnte.

Insbesondere in den eroberten Gebieten im Westen und Süden Tigrays wird die Militärpräsenz zurzeit massiv erhöht, um Tigray einerseits von einer möglichen Versorgung über den Sudan abzuschneiden und andererseits einen Vormarsch der TDF und eine mögliche Rückeroberung zu verhindern.

Welche Perspektiven für die Lage am Horn von Afrika?

Der Waffenstillstand ist einseitig, labil, zeitlich befristet und unter vier beteiligten Kriegsparteien lediglich von der äthiopischen Regierung verkündet. Es ist kein echter Waffenstillstand, sondern nur eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Die weitere Entwicklung ist ungewiss und kann sich in unterschiedliche Richtungen entwickeln.

Es ist gut vorstellbar, dass Abiy Ahmed Ali den Waffenstillstand lediglich dazu nutzen möchte, seine Kräfte in Abstimmung mit den Verbündeten neu zu sammeln und zu reorganisieren, um dann in einer erneuten Offensive in Tigray vorzugehen. In der Folge würde sich – ähnlich wie in den vergangenen Monaten – ein Guerillakrieg fortsetzen. Die Folge wäre ein Dauerkonflikt am Horn von Afrika.

Sollte die TDF weiterhin militärisch erfolgreich sein und insbesondere den Süden und Westen Tigrays von fremden Truppen befreien, könnte sich eine fragile Pattsituation entwickeln. Von einem wirklichen Frieden wäre man allerdings noch weit entfernt.

Eine echte Friedensperspektive könnte sich nur dann entwickeln, wenn sich die äthiopische Armee, die amharischen Milizen und die Eritreer vollständig aus Tigray zurückziehen. Auf dieser Basis könnten Friedensgespräche zwischen den beteiligten Parteien beginnen, in denen unter anderem Schadenersatz für die Zerstörungen und Plünderungen in Tigray und Verantwortlichkeiten für Kriegsverbrechen verhandelt werden könnten.

Die Erbarmungslosigkeit mit der Eritrea, äthiopische Regierung und Amharen gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen sind, erschwert ein zukünftiges nachbarschaftliches Verhältnis.

Für die Bevölkerung Tigrays sind die geschlagenen Wunden zu tief, als dass sie sich ein Verbleiben Äthiopien vorstellen können. Eine Unabhängigkeit wird sicherlich zum Gegenstand von Verhandlungen. Offen ist, inwieweit eine solche Entwicklung Unabhängigkeitsbestrebungen etwa in Oromia oder Benishangul Gumuz befördern könnte. Ein Auseinanderbrechen Äthiopiens ist nicht ausgeschlossen.

In Friedensverhandlungen ginge es auch um das zukünftige Verhältnis zwischen Eritrea, Tigray und Äthiopien. Eingeklemmt zwischen feindlichen Staaten gäbe es für Tigray keine echte Entwicklungsperspektive, und die gesamte Region bliebe ein Pulverfass. Im Interesse der Bevölkerung am Horn von Afrika wäre dies sicher nicht. Allerdings ist fraglich, ob eine echte Friedensperspektive ohne einen Machtwechsel in Addis Abeba und Asmara realistisch ist.