Bürgerrat gegen Fakes: Ein Bürgergutachten für den Bertelsmann-Konzern?

Publikum nach gefälschten Nachrichten im Fernsehen, ein AI-Roboter spricht in die Mikrofone und verbreitet falsche Informationen

Bild: Stokkete / Shutterstock.com

Warum das "Forum gegen Fakes" nicht so schlecht ist, wie es Kritiker aus irrigen Annahmen heraus postulieren. Ein Beitrag zur Meinungsbildung.

Sollte es ein freiwilliges Gütesiegel für Qualitätsjournalismus geben? Ein von der Bertelsman Stiftung eingesetzter Bürgerrat mit begleitender Online-Beteiligung mehrerer Tausend Menschen hat dies vorgeschlagen.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser ist da skeptisch. Bei der Übergabe der Ergebnisse des Bürgerrats "Forum gegen Fakes" äußerte sie sich zu dieser Idee kritisch:

Die Pressefreiheit sei ein hohes Gut der Verfassung. "Da würde ich mich als Staat nie einmischen", sagte Faeser. Sie sehe die Einführung eines Gütesiegels kritisch.

MDR

Insgesamt hat der Bürgerrat aus rund 120 Personen 28 Maßnahmen vorgeschlagen, wie Desinformation von Politik, Wirtschaft, Bildung und Gesellschaft insgesamt zu begegnen sei.

Unter anderem sollten Medien freiwillig die Quellen ihrer Informationen angeben; über Fake-News sollte in Schulen und Universitäten stärker informiert werden; Social-Media-Posts sollten erst nach einer Bedenkzeit und Prüfung auf mögliche Desinformation durch eine KI online gehen.

An den Empfehlungen dieses Bürgerrats gibt es reichlich Kritik – die in vielen Fällen auf die Methode insgesamt übertragen wird: Bürgerräte seien nicht demokratisch legitimiert, Alibi-Veranstaltungen und selbst das Einfallstor für Manipulation.

Defizit im Demokratieverständnis

Allerdings fällt auf, dass vor allem einige wenige der 28 vom Bürgerrat empfohlenen Maßnahmen kritisiert werden. Dafür kann es zwar im Einzelnen gute Gründe geben. Es könnte aber auch sein, dass ein jeder genau das kritisiert, was ihm persönlich nicht in den Kram passt – während zu allem, was man in Ordnung oder jedenfalls unschädlich findet, geschwiegen wird.

Das verzerrt nicht nur das Bild und wird der Arbeit des Bürgerrats ggf. nicht gerecht; es könnte auch für ein Defizit im Demokratieverständnis sprechen. Denn dass man nicht alles teilt, was Stellvertreter beschließen, liegt in der Natur der Sache. Das dürfte selbst zutreffen, wenn man Anhänger einer regierenden Partei ist.

Das Verfahren

Wenn ein Bürgerrat methodisch akkurat durchgeführt wird, gibt es an den Ergebnissen nichts zu kritisieren. Sie geben dann genau das wieder, was auch andere Bürger nach entsprechender Beschäftigung mit der Thematik empfohlen hätten. Dass Einzelnen diese Ergebnisse nicht genehm sind, spricht gerade nicht gegen das Verfahren.

Schließlich soll es ja darum gehen, Probleme zu lösen, Entscheidungen zu umstrittenen Fragen vorzuschlagen. Damit werden nie alle zufrieden sein, aber idealerweise möglichst viele und systemimmanent mindestens die Mehrheit.

Das ist nicht weniger, sondern im Zweifelsfall immer mehr, als wir in der Wahldemokratie bekommen. In der repräsentativen Berufspolitiker-Demokratie bekommt bekanntlich auch nicht jeder genau das, was er politisch haben möchte, es entscheiden vielmehr (knappe) Parlamentsmehrheiten, die zum jeweiligen Zeitpunkt und erst recht zur konkreten Fragestellung nicht einmal die Mehrheit der stimmberechtigten Bevölkerung hinter sich haben müssen.

Deshalb ist einzelner Widerspruch zu Ergebnissen eines Bürgerrats keinerlei Beweis für dessen Versagen bzw. Ungeeignetheit.

Umgekehrt ist allerdings auch überwiegender Zuspruch in der öffentlichen Debatte kein Beweis für die Akkuratesse des Verfahrens.

Alles hängt deshalb davon ab, ob das Verfahren nach den Regeln der Kunst durchgeführt wurde und auch sonst keine Störungen vorlagen.

Das Handicap des "Forum gegen Fakes"

Das große Handicap bei den als Bürgergutachten vorgelegten Ergebnissen des "Forums gegen Fakes" ist, dass das Zustandekommen der letztlich formulierten konkreten Maßnahmen, die die Politik umsetzen sollte, nicht hinreichend transparent gemacht wird.

Abweichungen von den "Regeln der Kunst" festzustellen, ist allerdings nicht einfach. Denn für die inzwischen unüberschaubar vielen Bürgerräte von der Bundesebene bis zu lokalen oder organisationsinternen Projekten haben sich noch keine einheitlichen Standards entwickelt.

Für die Darstellung der Ergebnisse, das sogenannte Bürgergutachten, sei daher behelfsweise herangezogen, was seit fünf Jahrzehnten für das Verfahren "Planungszelle" entwickelt wurde.

Denn auch wenn das Vorbild für die heutigen Bürgerräte in Deutschland zunächst ausgeloste Bürgergruppen in Irland waren, ähneln sie diesem von Prof. Peter Dienel entwickelten Verfahren doch sehr.

Vor allem aber werden nicht nur in beiden Fällen die Ergebnisse der Beratungen in einem Bürgergutachten zusammengefasst – praktisch identisch ist das proklamierte Vorhaben: Anstelle von Parlamentariern oder Mitgliedern kommunaler Gremien sollen per Zufall bestimmte Bürger nach ausführlicher Beratung empfehlen, wie ein Problem politisch zu lösen ist.

Zwei Grundbedingungen

Das kann sinnvoll nur dann gelingen – und gelingt dann auch einhundert-prozentig –, wenn zwei Bedingungen erfüllt wurden:

1) Die Ergebnisse des Bürgerrats (oder der Planungszelle) müssen reproduzierbar sein. Wissenschaftlich gesprochen: Es müssen jederzeit andere ausgeloste Gruppen zum selben Ergebnis kommen.

Denn das ist die ganze Idee hinter der Auslosung: Weil man nicht mit jeder (Detail-)Frage alle rund 60 Millionen wahlberechtigten Bürger Deutschlands behelligen kann, wird nach den Regeln der empirischen Sozialforschung nur ein kleiner Teil in den jeweiligen Prozess eingebunden.

Dieser Teil muss dann soweit repräsentativ sein, dass die zwangsläufig noch vorhandenen Abweichungen nicht ins Gewicht fallen (z.B. Dass ehemalige Bundespräsidenten in einer solchen Stichprobe fast zwangsläufig über- oder unterrepräsentiert sein werden, ist belanglos, weil sie auch bei einer Beteiligung aller 60 Millionen nur ein verschwindend kleines Stimmgewicht hätten.)

2) Alle nicht ausgelosten Bürger müssen berechtigt darauf vertrauen können, dass die Ausgelosten für die Gesamtheit repräsentativ sind, ihre Beratungen fair verlaufen, alle für die Fragestellung relevanten Argumente (Tatsachen und Meinungen) eingebracht wurden und es keinerlei externe Einflussnahme gab.

Sind diese beiden Grundbedingungen erfüllt, gibt es an den Ergebnissen nichts zu beanstanden. Protest kann es dann nur von denen geben, die ihre eigene Meinung für alle verbindlich machen wollen.

Die Ergebnisse müssen geradezu von dem abweichen, was ein jeder Unbeteiligte denkt. Denn andernfalls bräuchte es keine Deliberation, keine langwierige Beratung (übrigens ganz gleich, ob nun von ausgelosten Bürgern, gewählten Politikern, Experten oder sonstigen Gremien).

Es geht schließlich darum, etwas zu entscheiden, was sich nicht von selbst ergibt. Es geht um Abwägungen, Interessenausgleiche, Prioritätensetzungen.

Mangelnde Transparenz des "Forum gegen Fakes"

Dass dafür Volksabstimmungen mit der simplen Wahl zwischen Ja und Nein (und vielleicht noch Enthaltung), aber gerade ohne jede Beratung, ohne jede Voraussetzung, sich mit der zur Entscheidung stehenden Frage überhaupt befasst zu haben, der bessere Wege wären, wird regelmäßig nur in den Fällen behauptet, in denen sich die entsprechenden Protagonisten sehr sicher sind, eine Mehrheit in der Bevölkerung für ihre Position mobilisieren zu können.

Beim Bürgerrat "Forum gegen Fakes" mangelt es jedenfalls an Transparenz, um genügend Vertrauen in die Beratungen zu haben. Vermutlich war aber auch tatsächlich das Informationsangebot und die Methodik nicht ganz "state of the art".

Aus dem Bürgergutachten selbst gehen Beratungsablauf, Fragestellungen und Informations-Inputs zu den einzelnen Arbeitsschritten nicht klar hervor. Man findet dazu allerdings vieles auf der Website, klickt man sich mühsam durch alle Unterverzeichnisse.

Aufgrund ihrer institutionellen Zugehörigkeiten, bzw. beruflichen Betätigung und den ggf. vorliegenden Vorträgen (beschränkt auf die präsentierten Info-Charts) kann man bei einzelnen Aspekten an der Ausgewogenheit der Experten-Auswahl zweifeln.

Gründe für Kritik und Zweifel

So galt offenbar die Grundthese als gesetzt, Desinformation sei die "maßgebliche" Ursache für Vertrauensverlust und demokratische Destabilisierung. In der Gruppe sog. "Stakeholer" wird für den von möglichen Regulierungen vor allem betroffenen Bereich der Plattformen nur eine Vertreterin von Google/ YouTube aufgeführt, niemand der anderen Social-Media-Dienste oder Messenger.

Im Hinblick auf Überlegungen zu neuen Rechtssetzungen, insbesondere im Strafrecht, sucht man Richter und Verteidiger vergeblich.

Überhaupt fehlen potenziell Betroffene. Mit 91 Prozent Zustimmung hat der Bürgerrat die "Prüfung einer strafrechtlichen Verfolgung und/oder Sanktionierung der Verbreitung von Desinformation" gefordert. Eine solche Bitte um Prüfung ist zwar noch keine Empfehlung für neue Strafbestimmungen, doch der Wunsch danach wird im Erläuterungstext deutlich.

Gerade in einem solch wichtigen Bereich hätte sich der Bürgerrat wohl viel intensiver und vielfältiger mit der Thematik befassen müssen – sie dürfte umfangreich genug für einen eigenen Bürgerrat sein.

So wurde niemand angehört, der von einer neuen Strafbarkeit von Desinformation betroffen wäre. Dabei könnten das sehr viele sein, immerhin wird in einer Präsentation als Beispiel für Desinformation die Aussage benannt: "Die Nato-Erweiterung ist Schuld [sic!] am Ukrainekrieg."

Die Anhörung von Betroffenen gehört zu den Standards jedes Beratungsprozesses, auch jeder aleatorischen Entscheidungsfindung.

Grundsätzlich sollte die Auswahl von Referenten begründet werden, wozu auch ihre Positionierung im angefragten Themenfeld gehört. Damit sollte wenigstens eine formale Ausgewogenheit auf den ersten Blick prüfbar sein.

Auch dass 27 Teilnehmer des Bürgerrats nicht namentlich genannt werden wollten, schmälert die Transparenz des Verfahrens.

Methodik: Ideen-Potpourri statt Gutachten

An der Methodik des Bürgerrats gibt es ebenfalls fachlich manches zu kritisieren oder wenigstens zu diskutieren. Zwar wurde durch die Online-Beteiligung, zu der jeder eingeladen war, die niederschwellige Möglichkeit geboten, eigene Ideen einzutragen. Der Bürgerrat war aber frei darin, selbst Maßnahmen gegen Desinformation zu entwickeln und am Ende zu verabschieden.

Bei solchen kreativen Prozessen kommt die Methode Bürgerrat jedoch schnell an ihre Grenzen. Denn wie der Name für die Ergebnispräsentation deutlich zeigt, soll eigentlich ein Gutachten erstellt werden – und kein Ideen-Potpourri. Ausgeloste Bürger sind ideal, um über vorhandene Lösungsvorschläge zu beraten, aber nicht, um selbst neue Ideen zu entwickeln.

Neue Ideen müssten umfangreich auf ihre Realisierbarkeit hin geprüft werden, auf Wirkungen und Nebenwirkungen. Sie müssten mit Pro- und Contra-Stimmen eingeordnet werden.

Die Qualität der Teilnahme

Ein weiteres Problem ist der Methodik leider so lange immanent, wie es keine Teilnahmepflicht für die Ausgelosten gibt. Es wird unfreiwillig auf den Punkt gebracht im Statement einer Teilnehmerin, die sagt:

Ich denke, dass wir viel bewegen können, weil wir vor allem 120 Leute sind, die total engagiert sind und die Lust auf dieses Thema haben und das auch weiter nach außen tragen.

Video der Bertelsmann Stiftung

Zwar werden die potenziellen Teilnehmer von Bürgerräten (ebenso wie bei Planungszellen) tatsächlich per Zufall bestimmt, in der Regel über die Einwohnermelderegister, hier über zufällig generierte Telefonnummern und eine Marktforschungsdatenbank. Doch die Eingeladenen müssen danach ihr Interesse an der Teilnahme bekunden, was meist nur fünf bis zehn Prozent der Ausgelosten tun.

Damit findet immer eine starke Selbstselektion statt. Weil regelmäßig in den Einladungen das Thema der Beratung benannt wird, bezieht sich diese nicht etwa grundsätzlich auf die Bereitschaft, einige Tage für eine meist nur sehr bescheidene Aufwandsentschädigung zu investieren, sondern auf das Beratungs- bzw. Entscheidungsthema. Damit wird die in der Auslosung selbst noch enthaltene Repräsentativität für die Gesamtheit der Infragekommenden stark geschmälert.

Demokratisch verbindliche Vorschläge zum Umgang mit Desinformation würden verlangen, dass gerade nicht nur Engagierte am Bürgerrat teilnehmen, sondern auch diejenigen, denen das Thema völlig egal ist, die darin kein Problem sehen und so weiter – und zwar in dem Verhältnis, wie es der Bevölkerung entspricht und wie es in einer zufälligen Stichprobe bei entsprechender Größe enthalten ist.

Die Rolle der Bertelsmann-Stiftung

Und schließlich ist zu kritisieren, dass die Rolle der Bertelsmann Stiftung selbst nicht hinreichend transparent erläutert wird. Immerhin wird sie von einem der der größten Medienunternehmen der Welt finanziert, weshalb gerade im Medienbereich Interessenskonflikte naheliegen.

So gehört zum Bertelmann-Konzern die Arvato Group, die 2016 nach einer investigativen Geschichte der Süddeutschen Zeitung für ihre Arbeit als Moderator von Desinformation und Beleidigungen für Facebook in der Kritik stand.

Auch die Bildungs-Empfehlungen des Bürgerrats könnten den Interessen des Bertelsmann-Konzerns entsprechen, der sich selbst als "Medien-, Dienstleistungs- und Bildungsunternehmen, das in rund 50 Ländern der Welt aktiv ist" beschreibt.

Es gibt allerdings auch Kritik, die sachlich nicht trägt. So spricht der Augsburger Rechtsprofessor Josef Franz Lindner gegenüber Welt von einer "Inszenierung, mit der die Bürger an der Nase herumgeführt werden", weil es sich um einen "von einer privaten Organisation aufgesetzten" Bürgerrat handle und nicht um das vom Bundestag legitimierte Original wie beim Bürgerrat Ernährung.

Doch Bürgerräte sind keineswegs ein originäres Instrumentarium des Bundestags. Vielmehr wurde es in der Zivilgesellschaft und von Anfang an mit Sponsoring von Stiftungen entwickelt und erprobt. Ziel war es dabei gerade, es auch als Instrument für den Bundestag bzw. Landtage zu bewerben. Doch einen Exklusiv-Anspruch hat die Politik keineswegs.

Daher ist die Überschrift und Hauptaussage des Welt-Beitrags schlicht falsch: "Der Bürgerrat gegen 'Desinformation', der gar kein Bürgerrat ist".

Wenn das Verfahren sauber durchgeführt wird, ist es auch völlig unerheblich, wer es initiiert und finanziert. In anderen Bereichen wird sogar vielmehr umgekehrt die Staatsferne als Garant für Unabhängigkeit gesehen – Stichwort öffentlich-rechtlicher Rundfunk.