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Bundestagsgutachten stellt Anerkennung von "Volksrepubliken" in Frage

Wissenschaftlicher Dienst: Erklärung von Unabhängigkeit möglich. Moskau argumentiert widersprüchlich. Offene Fragen zu Nato-Vorgehen im Kosovo

Weder die westlichen Staaten noch Russland können sich im Streit um die Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken auf klare völkerrechtliche Regelungen berufen, das geht aus einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags hervor, das Telepolis exklusiv vorliegt. Nach der zwölfseitigen Einschätzung können sich Regionen zwar grundsätzlich von Nationalstaaten lossagen. Spätestens aber die Anerkennung durch ausländische Regierungen sei völkerrechtlich problematisch.

Die Analyse war von mehreren Bundestagsabgeordneten in Auftrag gegeben worden. Mindestens drei Abgeordnetenbüros hatten sich nach Telepolis-Informationen explizit nach einem Vergleich zwischen Unabhängigkeitserklärung sowie Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken im Osten der Ukraine vor wenigen Wochen und der Anerkennung der einstigen serbischen Provinz Kosovo durch Nato-Staaten im Jahr 1999 erkundigt.

Eine direkte Antwort auf diese Frage vermeiden die Verfasser des Gutachtens. Sie machen in der Einschätzung aber implizit deutlich, dass sich sowohl die Nato im Jahr 2008 als auch Russland in diesem Jahr Rechtsverstößen schuldig gemacht haben.

Spätestens die Angriffskriege der Nato auf Serbien und der andauernde Angriffskrieg Russlands gegen die benachbarte Ukraine stellen ohnehin eine Verletzung des völkerrechtlichen Gewaltverbots dar.

Die Unabhängigkeitserklärungen der beiden sogenannten Volksrepublik Donezk und Luhansk Osten der Ukraine aber sei völkerrechtlich akzeptabel, heißt es in dem Papier der Bundestagsexperten: Da die ukrainische Verfassung keine Regeln für Unabhängigkeitsreferenden definiere, "verstoßen die Unabhängigkeitserklärungen von Donezk und Luhansk vom April 2014 zwar gegen ukrainisches Verfassungsrecht, sind aber völkerrechtlich wohl nicht zu beanstanden".

In einem eigenen Gutachten zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo aus dem Jahre 2008 habe der Internationale Gerichtshof (IGH) ebenfalls festgestellt, dass solche einseitigen Deklarationen nicht gegen das allgemeine Völkerrecht verstoßen.

Unabhängigkeit rechtskonform – aber dann?

Nach dem Befund des Gerichtshofes enthalte das Völkerrecht für die Zulässigkeit von Unabhängigkeitserklärungen keine Vorgaben: "Auch das Gebot der territorialen Integrität (Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta) sei nicht berührt, da es nur auf zwischenstaatliche Beziehungen Anwendung findet". Für die Rechtmäßigkeit einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung komme es daher allein auf das nationale Verfassungsrecht des Mutterstaates an.

Im Fall der Ukraine sei jedoch fraglich, ob die russischstämmige Bevölkerung in Donezk und Luhansk überhaupt ein eigenes Volk und damit Träger des Selbstbestimmungsrechts sei, so die Bundestagsexperten, die dazu ausführen:

Bislang existiert keine allgemein anerkannte, abstrakte Definition des Begriffs "Volk". Einigkeit besteht lediglich darüber, dass Träger des Selbstbestimmungsrechts nur Völker und keine Staaten sind. Der Begriff eines Volkes wird daher anhand verschiedener subjektiver und objektiver Kriterien näher konkretisiert.

Vor diesem Hintergrund scheint es völkerrechtlich sehr zweifelhaft, ob man von einem eigenen Volk der Separatisten sprechen kann. Schließlich verfügt die russischstämmige Bevölkerung in der Ost-Ukraine über keine eigene Sprache und steht vielmehr dem russischen Volk nahe.

Dafür spricht auch, dass Russland seit April 2019 vermehrt russische Pässe an die ukrainische Bevölkerung im Donbas verteilt hat. Daher dürfte die russischstämmige Bevölkerung im Donbas wohl eher eine nationale Minderheit darstellen.

Wissenschaftlicher Dienst des Bundestags

Als widersprüchlich bezeichnend die Parlamentsexperten, dass Russland anlässlich der Verhandlungen über das Kosovo-Gutachten des IGH eine Abspaltung des Kosovo von Serbien unter anderem mit dem Hinweis darauf ablehnte, die Kosovo-Albaner seien kein eigenes Volk.

Nun aber habe Russlands Präsident Wladimir Putin die russischstämmige und russischsprachige Bevölkerung im Donbas ohne nähere Begründung als Volk und damit Träger des Selbstbestimmungsrechts akzeptiert.

Kosovo und Donbas: "Recht auf Sezession allenfalls in Ausnahmefällen"

Das Bundestagsgutachten bekräftigt, dass außerhalb von Dekolonisierungsprozessen oder bei Einigkeit zwischen Territorialstaat und Sezessionsgebiet "ein Recht auf Sezession allenfalls in Ausnahmefällen" zugestanden werde.

Dies sei der Fall, wenn ein Verbleib im Staatsverband schlicht nicht zumutbar sei, etwa aufgrund genozidaler Handlungen, ethnischer Vertreibungen oder Menschenrechtsverletzungen schwersten Ausmaßes; im Englischen sei von "remedial secession" die Rede.

"Der Internationale Gerichtshof hatte in seinem Kosovo-Gutachten von 2010 nicht darüber entschieden, ob eine solche Situation im Kosovo vorlag, und lediglich festgestellt, dass Differenzen darüber bestehen, ob das Völkerrecht ein Recht auf "remedial secession" vorsieht.

Das Bundestagspapier macht deutlich, dass sowohl Russland als auch die westlichen Unterstützer der Ukraine die rechtliche Lage in unzulässiger Weise zu ihren Gunsten umdeuten. So heißt es zu Russlands außenpolitischen Verhalten, Moskau habe im Fall des Kosovo 2008 die Voraussetzung für eine Abspaltung in Abrede gestellt, "weil die Kosovo-Albaner nicht fortwährend schwersten Formen der Unterdrückung ausgesetzt gewesen seien".

Dabei habe Russland Kriegsverbrechen ignoriert, die der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien bestätigt hat. Nun aber habe Präsident Putin wiederholt behauptet, der Umgang der Ukraine mit der russischen Bevölkerung im Donbas laufe auf einen Genozid hinaus, obwohl Berichte unabhängiger Beobachter im Donbas, genannt werden die Vereinten Nationen, OSZE und UNCHR, keinerlei Anhaltspunkte für diese Behauptung sehen.

Die abschließende Feststellung, wonach die staatliche Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken durch Moskau eine Einmischung in innere Angelegenheiten der Ukraine und somit eine Verletzung des zwischen Staaten geltenden Interventionsverbots nach Art. 2 Ziff. 1 UN-Charta darstelle, dürfte gleichwohl für die Nato-Intervention in Serbien gelten.


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