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Butscha: Schwache Entgegnungen der russischen Regierung

Bild: maxpixel.net (CC0 Public Domain)

Vor allem zahlreiche Augenzeugenberichte belegen, dass tote Zivilisten in Butscha und anderen Orten auf das Konto der russischen Armee gehen. Sie belegen jedoch nicht das Feindbild vom "stets bösen Russen".

Grausame Aufnahmen getöteter und auf der Straße liegen gelassener Zivilisten gingen um die Welt, nachdem russische Truppen mehrere Vororte von Kiew nach mehrwöchiger Besetzung verlassen hatten. Aufgenommen wurden sie von westlichen und ukrainischen Journalisten, als sie in den Ort kamen.

Besonders dramatisch waren die Bilder aus der Jablonskaja-Straße im Ort Butscha, wo zwanzig Getötete wie wahllos herumlagen. Der Bürgermeister der Stadt Anatoly Fedoruk sprach darüber hinaus von weiteren 280 Menschen, die in Massengräbern während der russischen Besetzung beigesetzt worden seien.

Hochrangige Vertreter der ukrainischen und westlichen Politik verurteilten das Vorgehen der russischen Armee in dem zeitweise von ihr besetzten Gebiet als Kriegsverbrechen und verlangten eine Verschärfung des westlichen Russlandkurses.

Die Antwort aus Moskau ließ nicht lange auf sich warten. Das russische Verteidigungsministerium bezeichnete die Berichte als Inszenierung und Provokation der Ukrainer. "Kein einziger Anwohner wurde Opfer von Gewalttaten" während der russischen Besetzung, die Bewohner hätten sich frei bewegen können.

Auch deutschsprachige Blogger wie Thomas Röper stießen ins gleiche Horn [1] und bezeichneten Meldungen über Massaker durch russische Soldaten als eine Lüge. Er und andere Unterstützer der russischen Regierung wiesen darauf hin, dass der Bürgermeister in seiner ersten Videobotschaft nach der Befreiung Getötete auf den Straßen nicht erwähnt habe und mehrere Tote weiße Armbinden trugen, das Erkennungszeichen der russischen Truppen.

Immer wieder zur Sprache kommt hierbei ein russischer Journalist, der in Butscha war und diese Angaben bestätigen könne und von einem guten Verhältnis zwischen den Besatzungstruppen und den Soldaten berichtete, etwa dass Lebensmittel ausgetauscht wurden.

Kein Gegensatz: Grausamkeit und Hilfsbereitschaft russischer Soldaten

Was Röper und ähnliche Stimmen dabei jedoch verschweigen, ist die große Menge aus Augenzeugenberichten von Anwohnern der betroffenen Gegend. Sie erzählen nicht nur westlichen Medien von Gräueltaten und Tötungen, die es tatsächlich während der russischen Besatzungszeit gab. So sagt eine Bewohnerin gegenüber der oppositionellen russischen Zeitung "The Insider" [2] über russische Soldaten:

Posts [in Sozialen Netzwerken], Telegramkanäle – wenn du etwas geschrieben hast, das ihnen nicht gefiel, dann warst du tot.

Christina in The Insider vom 03.04.2022

Dabei war die betreffende Ukrainerin nicht so ideologisiert, dass sie alle russischen Soldaten für "Bestien" hielt, sondern weiß aus eigener Erfahrung zu differenzieren.

Wir hatten Glück. Wir haben einen Kommandanten bekommen, der Kinder liebt. Da er wusste, dass meine dreijährige Tochter im Keller war, befahl er, Dinge zu reparieren und das Kind nicht zu erschrecken. Sie brachten Essen, Wasser und Süßigkeiten für die Kinder.

Christina in The Insider vom 03.04.2022

Wie dieser Augenzeugenbericht zeigt, ist es an sich kein Widerspruch, dass in der Besatzungszeit die einen russische Soldaten Menschlichkeit zeigten, die anderen Gräuel begingen. Besagter Kommandant hätte sie auch beschützt, als eines Tages Anhänger des tschetschenischen Machthabers Kadyrow durch die Straßen gingen und Leute töteten.

Kadyrow gilt innerhalb der russischen Führungsspitze als Hardliner, der auch weiter eine komplette Eroberung der Ukraine befürwortet. Weitere Augenzeugen gegenüber "The Insider" berichten ebenfalls von toten Zivilisten auf der Straße in der Zeit der russischen Besetzung, was der offiziell-russischen Darstellung widerspricht.

Die Schilderung besagter Christina stimmt mit Augenzeugenberichten aus anderen Quellen überein. Etwa dem des örtlichen Gemeinderatsmitglieds Katerina Ukrainzewa gegenüber der russischsprachigen Onlinezeitung Meduza [3], die ebenfalls während der russischen Besetzung in der Stadt war. Sie macht auch näheren Ausführungen zu den viel zitierten Toten auf der Jablonskaja-Straße

Diejenigen, die auf der Jablonskaja liegen, starben bei chaotischen Schießereien. Diejenigen, die von dort herausgekommen sind, sagen, es sei die Hölle gewesen. Es herrschte Panik. Vom ersten Tag [der russischen Besetzung] an haben mir Leute von dort geschrieben. Sie saßen in den Kellern und baten darum, abgeholt zu werden (…) Wir haben das Gefühl, dass verschiedene Einheiten um Butscha verstreut lagen, sie haben sich sehr unterschiedlich verhalten (…) Es waren etwa junge Leute da, die wie Studenten wirkten. Sie gaben uns Dieselkraftstoff und meinte, sie sollen weiter nach Kiew, wollen aber nicht und würden den Behörden sagen, dass alles verbraucht sei. Unter ihnen waren auch welche, die gar nicht kämpfen wollten. Aber diejenigen, die ganz am Anfang der Besetzung kamen, waren Tiere. Viele Menschen sind verschwunden. Wir wissen nicht, was mit ihnen geschah.

Katerina Ukrainzewa in Meduza vom 03.04.2022

Katerina Ukrainzewa berichtet daneben von mehreren Todesfällen unter Zivilisten, die eindeutig durch russische Soldaten verursacht wurden, etwa weil Personen verdächtig waren, Funktionäre der ukrainischen Regierung zu sein.

Ähnlich wie die andere Augenzeugin beschreibt sie russische Soldaten nicht generell als "Bestien", sondern differenziert, bestätigt Lebensmittellieferungen ebenso wie Gewalttaten. Keiner der Zeugen bei The Insider oder Meduza zweifelt daran, dass die gefilmten Toten durch die Russen umgebracht wurden.

Schwache Gegenargumente

Somit ist es mitnichten eine Kampagne, wenn nun Human Rights Watch von einer großen Anzahl von Kriegsverbrechen [4] in den von Russland kontrollierten Gebieten spricht, sondern die originäre Aufgabe einer Menschenrechtsorganisation.

Während manche russischen Soldaten versuchten, das Leid der Zivilisten immerhin zu vermindern, waren andere dessen Schöpfer – genau wie die gesamte russische Invasion. Hierbei ist auch nicht zu vergessen, dass in der Region Kiew, anders als im Donbass, praktisch niemand in der Bevölkerung Sympathien für den russischen Einmarsch hat.

Die Gegenargumente von Röper und anderen Autoren, die von einer Inszenierung ausgehen, sind dagegen sehr schwach. So stammt der Reporter, der angeblich ein gutes Verhältnis von Einheimischen und Besatzern bestätigen könne, vom russischen Staatssender RT und war dort mit dem Auftrag, selektiv positiv über die Besatzung zu berichten – und positive Beispiele gab es ebenso wie Grausamkeit, da auch nicht alle Russen gleich sind.

Die weißen Armbinden der Getöteten dienten wohl zum (vergeblichen) eigenen Schutz der Zivilisten, von den Besatzern nicht für ukrainische Kriegsteilnehmer gehalten zu werden. Die Häufung der getöteten Zivilisten in einer Straße erklärt sich sehr schlüssig durch die von Ukrainzewa geschilderte chaotische Schießerei – ein kaltblütiges Mordkommando braucht es bei dieser Erklärung nicht.

Bei allem Entsetzen über die Gewalttaten während der russischen Besetzung bei Kiew sollte man jedoch nicht den Fehler machen, einseitig das Feindbild vom "bösen, grausamen Russen" zu konstruieren. Denn selbst die Augenzeugen der geschehenen Gräuel haben Gegenbeispiele erlebt, die zu einer differenzierten Betrachtungsweise Anlass geben, die zwar russische Schuld nicht verharmlosen darf, jedoch Kollektivschuld ausschließt.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6661985

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.anti-spiegel.ru/2022/warum-die-meldungen-ueber-angebliche-russische-kriegsverbrechen-in-butscha-eine-luege-sind/
[2] https://theins.ru/confession/249947
[3] https://meduza.io/feature/2022/04/03/kto-to-pered-smertyu-ehal-na-velosipede-kto-to-gulyal-paroy
[4] https://www.hrw.org/news/2022/04/03/ukraine-apparent-war-crimes-russia-controlled-areas