COVID-19 in Amerika: 300.000 Tote bis Dezember?
Die Zahl der Todesfälle in den USA könnte sich bis Jahresende fast verdoppeln. Für Deutschland wird ein Anstieg um annähernd 50 Prozent erwartet
Die Zahl der Menschen, die in den USA im Zusammenhang mit COVID-19 sterben, beläuft sich seit Tagen im Schnitt auf mehr als 1000 Fälle. Zuletzt wurden sogar über 2000 Tote an einem Tag bestätigt, eine Opferzahl, die seit Anfang Mai nicht mehr erreicht worden war. Die Gesamtzahl der Toten in den USA seit Beginn der Pandemie liegt mittlerweile bei über 160.000.
Laut einer Datenauswertung der Nachrichtenagentur Reuters steigt die Zahl der Corona-Fälle derzeit in 20 Bundesstaaten, die Zahl der Toten steigt in 23 Bundesstaaten. Angesichts solcher Trends lautet die Frage nicht, ob die coronabedingten Opfer weiter ansteigen werden — daran besteht kein Zweifel —, sondern wie hoch der weitere Anstieg ausfallen wird.
Ein potentiell tödlicher Kreislauf
Eine Forschergruppe des Insitute for Health Metrics and Evaluation (IHME) der University of Washington hat verschiedene Szenarien des weiteren Anstiegs der COVID-19-Toten modelliert. Im wahrscheinlichsten Fall wird ein Anstieg der Gesamtzahl der Toten bis Anfang Dezember auf 300.000 prognostiziert. Eine Bedingung für das Eintreten dieser Vorhersage ist allerdings die Wiedereinführung von sechswöchigen Corona-Restriktionen, falls die tägliche Sterberate an einem Ort über 8 Toten pro 1 Million Einwohner liegt.
Im alternativen Szenario wird eine signifikante Verhaltensänderung der amerikanischen Bevölkerung vorausgesetzt: Der prognostizierte Anstieg um fast 140.000 Tote könnte um etwa die Hälfte reduziert werden, wenn, zusätzlich zu Corona-Maßnahmen im Falle steigender Sterberaten, 95 Prozent der Menschen in der Öffentlichkeit stets Schutzmasken tragen würden. Damit ließe sich der Anstieg von aktuell 160.000 bis Dezember auf 230.000 reduzieren.
Im Worst-Case-Szenario könnten die Todeszahlen noch wesentlich höher ausfallen: Sollte es zu einer weiteren Lockerung von Corona-Maßnahmen und keiner Beachtung von Social Distancing kommen und keine Corona-Restriktionen im Falle steigender Sterberaten durchgesetzt werden, könnte die Zahl der Toten, so das IHME, bis Dezember auf fast 400.000 steigen.
Wir sehen eine Achterbahnfahrt in den USA. Es scheint, dass Menschen häufiger Masken tragen und Social Distancing befolgen, wenn die Infektionen ansteigen. Nach einer Weile, wenn die Infektionen sinken, lässt die Wachsamkeit der Menschen nach und sie geben diese Maßnahmen auf, mit denen sie sich und andere schützen — was natürlich zu mehr Infektionen führt. Und der möglicherweise tödliche Kreislauf beginnt von vorne.
Christopher Murray, der Direktor des IHME
Fünfmal tödlicher als eine schlimme Grippe-Epidemie
Das IHME hält eine signifikante Abweichung von seiner Prognose aus mehreren Gründen für unwahrscheinlich: Das Virus sei in den USA bereits sehr weit verbreitet. Das Verhaltensmuster der Bevölkerung, die dazu neige, zu schnell wieder unvorsichtig zu werden, sei auffällig stabil. Ferner sei ab November mit der kalten Jahreszeit eine viel schnellere Verbreitung des Virus zu erwarten.
Selbst das wenig erfreuliche mittlere Szenario des IHME mit 300.000 Toten bis Anfang Dezember setzt bereits beträchtliche Anstrengungen zur weiteren Eindämmung der Pandemie voraus: An der Hälfte der amerikanischen Schulen müsste während des gesamten Schuljahres nur Online-Unterricht stattfinden. Die Bundesstaaten müssten Ausgangssperren verhängen, falls pro Tag mehr als 8 Menschen pro 1 Million Einwohner an COVID-19 sterben — dies wird bis November für 16 Bundesstaaten vorhergesagt.
Falls diese Voraussetzungen eintreten, und sich die Bedingungen in den kommenden Monaten nicht wesentlich verändern, so berichtet "NPR", wäre das neue Coronavirus mehr als fünfmal so tödlich wie die Grippe in einem sehr schlimmen Jahr. Dabei handelt es sich momentan zwar nur um eine Extrapolation. Allerdings stützen sich die Aussagen des Modells auf einen beträchtlichen Beobachtungszeitraum.
Andererseits lässt sich nicht ausschließen, dass es zu signifikanten Verhaltensänderungen in der Bevölkerung kommt. Das IHME schätzt, dass Masken die Verbreitung des Virus um 40 Prozent reduzieren können. Die Übertragungsrate des Virus, und somit die weitere Entwicklung sowohl der Fall- als auch der Todeszahlen, korreliert in dem Modell direkt mit dem Risikoverhalten der Menschen und ihrer Bereitschaft, Übertragungen zu verhindern.
Die Zahlen und die Toten
Die Prognosen des IHME treten nicht immer präzise ein. Schon mehrfach seit Beginn der Pandemie lagen die prognostizierten Zahlen zu niedrig. So wurde Ende März eine Zahl von 81.000 Toten bis Juli geschätzt. "Die von uns geschätzte Entwicklung der COVID-19 Todesfälle geht von einer anhaltenden und ununterbrochenen Wachsamkeit der Öffentlichkeit, von Krankenhaus- und Gesundheitspersonal sowie von Regierungsbehörden aus", erklärte Direktor Murray damals. Tatsächlich wurden Anfang Juli über 130.000 Todesfälle gezählt.
Die Anfang Mai veröffentlichte Prognose hielt circa 135.000 Corona-Tote bis Anfang August für wahrscheinlich. Wieder zunehmende Mobilität sowie die Rücknahme von Social Distancing wurden als Ursachen für steigende Übertragungsraten und Todesfälle genannt. Die tatsächlich bestätigte Zahl der Toten lag Anfang August bei fast 160.000.
Die im Juni veröffentlichte Prognose für Anfang Oktober belief sich zunächst auf 170.000 Tote, wurde dann aber auf 200.000 Tote angehoben und später auf 180.000 abgesenkt. Die Vorhersage beruhte auf der Annahme, dass die Zahl der Toten erst ab Ende August wieder steigen würde. Diese Annahme hat sich nicht bewahrheitet, die Todesfälle stiegen bereits im Juli stark an. Bereits in der ersten Augusthälfte näherte sich die Zahl stetig der Marke von 170.000.
Anfang Juli belief sich die Prognose für November auf 210.000. Für die Herbst- und Winterperiode ab September und Oktober wurden "signifikante Zuwächse in Fällen und Toten" antizipiert. Hinter der zuletzt Anfang August veröffentlichten Vorausschätzung von 300.000 steht eine erwartete Fortsetzung dieses Trends.
Der bisherige Leiter der Food and Drug Administration (FDA), der US-amerikanischen Lebensmittel- und Arzneimittelbehörde, hält eine Zahl von 300.000 Toten bis Jahresende ebenfalls für realistisch. Zwar werde sich die Infektion weniger effizient übertragen, doch die Ausbreitung werde sich fortsetzen, solange sich an der gegenwärtigen Entwicklungsrichtung nichts ändere. Damit werde auch die Zahl der Toten weiter steigen. Für Deutschland erwartet das IHME bis Dezember 13.600 Tote.
Dr. habil. Thomas Schuster, ehem. Berater bei Roland Berger und ehem. Autor der Frankfurter Allgemeine ist Hochschullehrer für Kommunikations- und Medienwissenschaft. Seine Bücher "Staat und Medien. Über die elektronische Konditionierung der Wirklichkeit" und "Die Geldfalle. Wie Medien und Banken die Anleger zu Verlierern machen" sind bei S. Fischer und im Rowohlt Verlag erschienen.