Camorra in Brüssel: Ombudsfrau O'Reilly rechnet mit EU-Elfenbeinturm ab

Luca Schäfer
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen

Mafiöse Strukturen in Brüssel? EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen

(Bild: Alexandros Michailidis/Shutterstock.com)

Die EU-Ombudsfrau für Bürgerbeteiligung wirft hin, ihre Kritik ist vernichtend. Was sie über die Beschaffenheit der EU-Kommission aussagt. Eine Betrachtung.

Wenn die zuständige Kontrolleurin für Transparenz und Bürgerbeteiligung nach einem Jahrzehnt ihr Amt abgibt und dies mit einer gesalzenen Rundumschlagkritik an Missmanagement, Intransparenz und Seilschaften begründet, könnte man meinen, dass dies eine Topschlagzeile in der hiesigen Berichterstattung wert sei.

Immerhin berufen sich nahezu alle deutschen Institutionen auf den europäischen Wertekanon: man könnte also davon ausgehen, dass die Stabilität des europäischen Hauses oberste Pflicht sei. Doch weit gefehlt. Es herrscht schweigen im deutschen Blätterwald, das politische Berlin ruht.

Kein deutsches Leitmedium war die Erstberichterstattung des US-Magazins Politico bisher eine Silbe wert, in der Schweiz berichtete immerhin die Weltwoche auf deutscher Sprache.

Dabei besitzen die zitierten Aussagen der scheidenden Ombudsfrau Irritationsfähigkeit und Sprengkraft: an der Spitze der transnationalen Demokratie von Europa ein mafiaähnliches Gebilde aus nicht legitimierten Beraterstrukturen.

O’Reilly nutzt den aus dem Mafiaepos "The Godfather" (dt.: Der Pate) popularisierten Begriff der consiglieri, um von der Leyen und Konsorten zu analysieren. Was nach Marlon Brando und Al Pacino klingt, besitzt in den Namen Pfizergate und Mercosur-Abkommen reale Wiedergänger.

Die Standhafte aus Tullamore

Aus der zentralirischen Stadt Tullamore stammt nicht nur der Whiskey Tullamore Dew, sondern auch die irische Brüssel-Abgesandte im Kampf für Transparenz, Emily O'Reilly.

Irland, in mancher Hinsicht ein gallisches Dorf gegen die Brüsseler Politikerkaste (erinnert sei nur an die aus eigener britischer Kolonialerfahrung stammende irische Haltung zum israelischen Gebaren in Gaza), schickte mit der fünffachen Mutter eine angesehene Journalistin an die Aufarbeitungsfront.

Ihre politische Biografie liest sich wie ein Siegeszug: Zweimal wiedergewählt und seit 2013 im Amt, zuvor nationale Bürgerbeauftragte in Irland, taufte sie die NZZ zur "mächtigsten Influencerin Europas". Ehrendoktorwürde an ihrer Alma Mater, Schwarzkopf-Europa-Preis 2017 und 2021 der Europapreis der Universität Flensburg. Viele Meriten, wenig bewegt?

Der Eindruck drängt sich auf, dass die streitbare Irin mit Sonntagsreden ruhiggestellt werden sollte. Schon als sie sich in Brüssel bewarb, wurde der Feministin der Satz an den Kopf geworfen, sie solle doch tippen lernen, um Sekretärin zu werden.

2020 stellt sie enttäuscht fest, dass sie trotz medienwirksamer Fehden mit EZB-Granden bei ihrer wichtigsten Aufgabe, dem Kampf für Transparenz, nicht vorankommt, und kommt gegenüber dem Tagesspiegel zu einem erschreckenden Ergebnis: Für den Bürger sei es in der Praxis unmöglich herauszufinden, wie ein Gesetz genau gemacht wird.

Mit ihrer Kritik war sie nicht allein, aber wirkungslos – die Machtmittel haben andere. Ob Transparency International oder Lobbycontrol, O'Reilly wird als Lotsin in schwierigen Gewässern geschätzt. Immer Finger in die Wunde: Drehtüreffekte zwischen Lobbyismus und Parlamentarismus, Goldman Sachs oder die Finanzlobby.

Anspruch und Wirklichkeit

Mit ihrem vierköpfigen Kabinett und rund 80 Mitarbeitern, zu denen auch der deutsche Jurist Markus Spoerer gehört, versucht Oreilly, sich gegen die 29.000 Brüsseler Lobbyisten mit einem Budget von 1,3 Milliarden Euro zu behaupten.

Ein ungleicher Kampf, auch wenn die Ansprüche hoch sind. Mit der erarbeiteten Strategie 2024 soll eine effiziente Einflussnahme auf die Praxis der Politikgestaltung, die EU-Verwaltung sowie die Sensibilisierung der EU-Bürger gelingen.

Dass die große Kritik nicht einmal von den Medien aufgegriffen wird, zeigt die klaffende Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Kaum ein EU-Bürger wird mit dem Namen O'Reilly etwas anfangen können, während Ursula von der Leyen in aller Munde ist. Politische Wirksamkeit braucht auch Resonanz und mediale Repräsentation, ohne Kapital und Einfluss aus der Traum.

Kultur der Verhinderung

In ihrem Politico-Interview geht O'Reilly in die Vollen. Der Mafiakult käme von oben. Der Fisch stinke vom Kopf her – von der Leyen und ihr Kabinett hätten jahrelang Dokumente und Informationen zurückgehalten.

In 11 Jahren gab es kein einziges persönliches Treffen mit der obersten EU-Transparenzbeauftragten. Die mächtigen Lobbyisten seien zwar kluge Leute, aber einfach nicht gewählt.

Zudem würden die mafiösen Strukturen in der Kommission vom Parlament nicht ausreichend kontrolliert. In einem Euronews-Interview spricht sie daher sogar von einer Kultur des Verhinderns: Die Bürokratie frage sich, wie sie am effektivsten verhindern könne, dass etwas an die Öffentlichkeit komme.

So verwundert es kaum, dass 85 Prozent der Anfragen von Bürgern oder Parlamentariern verspätet beantwortet würden. Systematischer Betrug am Wähler.

Reale Mafiageschichten

Doch lassen sich diese schwerwiegenden Vorwürfe mit realen Episoden belegen?

Klar ist, dass trotz ausgewählter Beispiele eine abschließende Bewertung ohne Einsicht in die umfangreichen Dokumente nicht möglich ist. Aber die Tendenz ist eindeutig: Zurück ins Jahr 2013, O'Reilly war gerade die erste Frau im Amt des Bürgerbeauftragten geworden, als Michel Petite die Drehtür betrat.

Vom EU-Generaldirektor des juristischen Dienstes zu einer Lobby-Anwaltskanzlei mit dem Tabakmonopolisten Philipp Morris als Kunden.

Petite lieferte, er bekam privilegierte Termine in seiner alten Abteilung. Zwei Seiten einer Medaille: Während der Tabakkonzern Philipp Morris 2013 gegen das Land Uruguay klagte (Schadenssumme 25 Millionen) und die Regierung des Landes Togo einzuschüchtern versuchte, wollte die EU-Kommission Petite zum Vorsitzenden der EU-Ethikkommission machen. O'Reilly verhinderte diese undemokratische Ohrfeige.

20 Monate nach seinem Rücktritt als EU-Kommissionspräsident wechselte Michel Barroso zum Finanzinstitut Goldman Sachs. Nach 18 Monaten konnten Interessenkonflikte nach den damals geltenden EU-Regeln ausgeschlossen werden. José Manuel Barroso und Goldman Sachs: eine Farce, die O'Reilly anprangerte – die Drehtürpolitik wurde ihr zum Dorn im Auge.

Eine Ampulle Wahrheit oder Milliarden per SMS

Bevor O'Reilly am 25. Februar zugunsten der Portugiesin Teresa Anjinho als EU-Ombudsfrau abdankt, fährt sie von der Leyen an den Karren. Die Pandemiegewinner der Impfstoffherstellerbranche und die deutsche Politikerin dürften aufatmen, dass O'Reilly ihren Posten räumt.

Vorausgegangen war dem Aufatmen der größte Skandal, den die tapfere Irin beackerte. Im Jahr 2021 soll Ursula von der Leyen, inmitten der globalen Pandemie, vom US-Vakzinhersteller Pfizer 1,8 Milliarden Dosen geordert haben. Im Nachgang war die vormalige Verteidigungsministerin zu keiner Aufarbeitung bereit, systematisch ließ sie die Suche nach den verschollenen SMS in ihrer Administration ins Leere laufen.

Queen Ursula, wie sie im politischen Brüssel abschätzig tituliert wird, residiert im 13. Stock des EU-Gebäudes. Im Pfizergate mutierte die EU zum größten zahlenden Einzelkunden von Biontech/Pfizer. CEO von Pfizer, Albert Bourla, und die EU-Dame hätten regelmäßig politische Textnachrichten ausgetauscht.

Das Schweigen von Ursula von der Leyen ändert nichts an den Tatsachen: Wie der belgische PdT-Abgeordnete Marc Botenga damals kritisierte, erhielt Pfizer ein Liefermonopol und konnte steigende Fantasiepreise von bis zu 19,5 Euro pro Dosis verlangen. Ein Milliardengeschäft mit Steuergeldern per SMS. Zu viel, zu teuer und zu intransparent bestellt.

Brüsseler Elfenbeinturm

In Brüssel hat sich, wie einzelne Fallbeispiele zeigen, eine Unkultur der Bereicherung und der Selbstverwaltung eingebürgert.

Ob es sich dabei um einen Schönheits- oder einen Geburtsfehler handelt, sei dahingestellt. Dringend notwendig sind Reformen, die Beschränkung der Macht des Lobbyismus, der Macht des großen Geldes, um ein Mindestmaß an bürgerlichem Demokratieverständnis zu erhalten.

Dem BSW-Außenpolitiker Fabio de Masi ist zuzustimmen, wenn er via X einordnet, dass sich der Verdacht aufdrängt, dass das politische Brüssel weit mehr an McKinsey erinnert als an Menschen mit Haltung und Rückgrat. In gewisser Weise die Perversion des historischen Ideals der Volksvertretung.