China: "Must" oder Hype?

Das Reich der Mitte lässt ähnliche Wirtschaftswunderträume blühen wie wenige Jahre zuvor noch das Internet

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Gestandene westliche Manager bekommen leuchtende Augen und einen erhöhten Speichelzufluss, wenn man das Wort "China" auch nur erwähnt. Spätestens mit dem Beitritt des Riesenreichs zur Welthandelsorganisation WTO hat sich für sie ein gigantischer Absatzmarkt geöffnet, der wie auf Drogen nur immer weiter zu wachsen scheint. Und fast für lau Klamotten oder Elektronikteile herstellen kann man in der von Schweiß triefenden "Fabrik der Welt" natürlich auch. Doch sind die Schaukulissen Schanghais und Hong Kongs wirklich mehr als Potemkinsche Dörfer? Setzt die globale Wirtschaft in China vielleicht doch nur auf eine Blase, die bald genauso platz wie der einstige Börsenboom der "New Economy"?

Fragen, wie sie sich auch auf einem Kongress über China und die mit einem Fragezeichen verhafteten "neuen Chancen" stellten, zu dem die WirtschaftsWoche vergangene Woche nach Berlin geladen hatte. Wer das deutsche Business-Magazin und seinen Chefredakteur Stefan Baron kennt, dürfte über die Ausrichtung der Konferenz nicht überrascht sein: Natürlich sollte es nicht wirklich darum gehen, ein Investment in China madig zu machen. Schließlich trommelt Baron, der enge persönliche Beziehungen zum Reich der Mitte hat, schon seit Jahren für das für viele Europäer nach wie vor geheimnisvolle Land in Fernost.

"Man kann nirgends so billig in Welt produzieren und an so viele Menschen verkaufen"

"Müssen wir bald alle Chinesisch lernen?", fragte die Wiwo beispielsweise vor einem Jahr mit einem Titel, auf dem der Name der Zeitschrift vorsichtshalber gleich in chinesischen Schriftzeichen prangte. Im Vorfeld des Kongresses hatte das Blatt zudem ein Sonderheft China herausgegeben, in dem das Land des Drachens als Weltwirtschaftsmacht gemäß des Mottos "Nur XXL" gefeiert wird.

Trotzdem gab es auf der Veranstaltung ein paar kritische Stimmen zu hören. In der Regel beschränkten sie sich aber auf die Klage, dass sich China nicht rasch genug den westlichen Spielregeln der Globalisierung unterwerfe, Teilmärkte wie den für die lukrativen Finanzdienstleistungen nur ungenügend öffne, das "geistige Eigentum" nicht schätze und generell immer noch nicht über ein Rechtssystem verfüge, das deutschen Firmen die Durchsetzung ihrer Interessen vor Ort erleichtern würde.

Thomas Eichelmann, Mitglied der Geschäftsführung von Roland Berger in München, sprach gezielt das eigentliche Problemfeld an, ob China ein "Must" oder nur ein weiterer Hype sei. Eine eher rhetorische Frage, schränkte der Berater Zweifel an der Attraktivität des Standorts Fernost jedoch gleich wieder ein. Die Antwort liege natürlich "deutlich mehr auf der Seite des 'Must'". China beeindrucke mit "konstant hohen Wachstumsraten" und sei etwa bei Mobiltelefonen, bei Bier oder bei PKWs längst das produktionsstärkste Land auf dem Globus. "Man kann nirgends so billig in Welt produzieren und an so viele Menschen verkaufen", brachte Eichelmann die schlagenden Vorteile des asiatischen "Sweatshops" auf den Punkt.

Das hat sich längst herumgesprochen. 400 der 500 größten Multi-Nationals sind bereits in China mit eigenen Fertigungsstätten vertreten. Auch deutsche Firmen sind darunter reichlich vertreten. "Deutschland ist Chinas größter Handelspartner in Europa", weiß Xu Bingjin, Präsident der China-Europa Association for Technical and Economic Cooperation (CEATEC. Es mache ein Drittel des gesamten Handels zwischen Europa und dem Reich der Mitte aus. Besonders stolz ist der ehemalige Mitarbeiter des Handelsministeriums in Peking dabei darauf, dass sein Land "trotz der weltweiten Wirtschaftsflaute eine stabile Währungs- und Finanzpolitik betrieben" habe. China habe sich so als Wachstumsmotor entpuppt und den bilateralen Handel mit Europa auf 33 Milliarden US-Dollar im Jahr hochgeschraubt. Die jüngsten Steigerungsquoten lägen bei über 50 Prozent im ersten Halbjahr 2003.

Die rasante Entwicklung dürfte sich in den Augen des deutschen Arbeitnehmers aber etwas anders lesen. "Nahezu alle der 10 größten deutschen Investitionsprojekte" befinden sich mittlerweile in China, sagt Feng Bing, Chefredakteur der Pekinger Wirtschaftszeitung "Economic Daily". Und zwar im Jangtse-Delta, der Boom-Region rund um Shanghai, die zusammen mit dem Perfluss-Delta im Hinterland Hong Kongs sowie der Tianjin-Region zwischen Peking und der Ostküste den größten Teil der westlichen Investoren anlockt.

Das bei den Deutschen besonders beliebte Jangtse-Delta sei dabei nicht mehr einfach nur "eine verlängerte Werkbank von Konzernen", freut sich Feng. "Mehr und mehr Forschung wird dorthin verlegt." VW allein hat bereits 1,9 Millionen Autos in China verkauft - die Hälfte aller dort insgesamt genutzten Fahrzeuge - und ein großes Labor in der Nähe von Schanghai errichtet.

Missstände bereinigt die Verwaltung

Gibt es aber nicht erste Anzeichen von einer Überhitzung des Wirtschaftskreislaufs? Feng hat sich mit dieser Frage auseinandergesetzt, kann aber wundersamerweise eigentlich keine ausmachen. "Es gibt Überangebote bei einigen städtischen Immobilien und Industriegebieten", räumt er zwar ein. Auch komme es an manchen Orten nach wie vor zu Stromausfällen. Aber "die verantwortlichen Abteilungen innerhalb der chinesischen Regierung bereinigen diese Missstände derzeit mit den Mitteln von Wirtschaft, Recht und Verwaltung", stellt der Medienmann mit der unverrückbaren Gewissheit und Zuversicht fest, die sich so nur bei den in Kommunismus und Kapitalismus gleichzeitig lebenden Chinesen finden lässt.

SARS etwa sei "ein Test für die chinesische Wirtschaft gewesen", urteilt Feng. Doch die Prognosen für das Wachstum des Bruttosozialproduktes für das chinesische Seuchenjahr 2003 haben sich auf stattliche 8,3 Prozent eingependelt - eine Traumquote für Länder wie Deutschland, wo die Regierung mal wieder mit dem traumatischen "Nullwachstum" zu kämpfen hat. Wirkliche Hemmnisse für die chinesische Wirtschaft sieht Feng somit bis weit in das laufende Jahrhundert hinein nicht. Das kürzlich abgehaltene 3. Plenum des 16. Parteikongresses habe die "marktwirtschaftlichen Reformen" weiter beschleunigt.

China entdeckt die nachhaltige Entwicklung

Zudem seien vom neuen Staats- und Parteichef Hu Jintao auch Stichworte wie "nachhaltige Entwicklung" und "Umweltschutz" auf die Agenda der Volkswirtschaft gehoben worden. Auf dem gesellschaftlichen Gebiet solle gleichzeitig ein dem wirtschaftlichen Entwicklungsniveau angemessenes System für medizinische Betreuung, für die Arbeitsvermittlung und die Sozialversicherung aufgebaut werden. Bis zum Jahr 2020 werde sich Chinas Bruttosozialprodukt daher auf etwa 4,3 Billionen US-Dollar vervierfachen. 2050 könnten 17,2 Billionen erreicht werden. Das Pro-Kopf-Einkommen läge dann bei einer Bevölkerung von über 1,5 Milliarden mit 10.000 US-Dollar an der "Untergrenze von Ländern mit hohem Pro-Kopf-Einkommen."

Doch bis dahin ist es im "Entwicklungsland" China noch ein weiter Weg. Noch gebe es "genug Nährboden" für Investitionen, goss Norbert Meyring vom Beratungshaus KPMG in Schanghai dann doch noch etwas Wasser in den Wein. "Aber die Bäume in China sind nicht in Himmel gewachsen." Die "Rahmenbedingungen" für westliche Firmen hätten sich nach dem WTO-Beitritt zwar allgemein verbessert, so der Wirtschaftsprüfer. Kernprobleme seien aber nach wie vor ein "nicht funktionierendes Rechtsproblem", in dem sich Vertragsbedingungen kaum durchsetzen ließen. Außerdem käme der "Schutz des Know-how" noch immer einem Roulette-Spiel gleich. "Und ich spreche nicht nur von Raubkopien und CD-Piraterie", erklärte Meyring. "Kühlschränke und Autos werden teilweise komplett nachgebaut." Einfuhrbeschränkungen und Korruption würden das unternehmerische Risiko zusätzlich erhöhen. "Be prepared to walk away", gab der KPMG-Buchhalter potenziellen Investoren mit auf den Weg nach Fernost.

Erkennbare Hinweise auf drohende Überproduktionskapazitäten im verheißungsvoll schimmernden Fernost-Paradies und die Pläne der chinesischen Regierung, selbst Multi-Nationals zu nähren und in alle Welt zu schicken, werfen die eingeführten Globalisierungsregeln zudem über den Haufen. Halbstaatliche Konzerne wie der "Weiße-Ware"-Produzent Haier oder TCL, die in Europa munter Firmen und Markenhüllen wie die von Schneider Elektronik aufkaufen und Fabriken in den USA gründen, sind da sicher nur der Anfang. Strikt an die kulturellen Verhältnisse vor Ort anpassen, heißt zudem die oft nicht ganz leicht zu verinnerlichende Devise für Westkonzerne im Reich der Mitte: "98 Prozent der Produkte, die wir in China verkaufen, werden auch dort hergestellt", sagt Metro-Chef Hans-Joachim Körber. Und da man traditionell den "Frischemarkt" bediene, heiße das selbstverständlich auch, dass man Kröten, Fröschen und Schlangen lebend verkaufe. Als Lebensmittel eben.

Telepolis-Autor Stefan Krempl gibt regelmäßig einen pointierten Nachrichtenüberblick über die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Veränderungen im Reich der Mitte in seinem Weblog China in the News.