Chomsky Exklusiv: "Wir können uns vom grausamen Staatskapitalismus befreien!"

Seite 2: Unregulierter Kapitalismus ist Todesurteil für Menschheit

Das ist natürlich nur ein sehr kursorischer Überblick in Hinsicht auf den grundsätzlichen Rahmen, in dem wir über Kapitalismus sprechen sollten. Was die Frage selbst betrifft, so ist das kapitalistische Element im Konzern-Politik-Medien-Superreiche-Komplex, inklusive ihrer Unterstützungsnetzwerke, für die Herrschenden der wesentliche Faktor und forciert alle von Ihnen genannten Krisen.

Im Falle der neoliberalen Aushöhlung von Wirtschaft und Gesellschaft trifft das fast per Definition zu. Die Hauptarchitekten der Politik werden ja vom kapitalistischen Element angetrieben, um der grausamen Maxime zu folgen.

Das Gleiche gilt im Wesentlichen für die militärische Eskalation. Ich kann die jüngste Geschichte nicht noch einmal Revue passieren lassen, aber sie zeigt ganz klar, dass Sicherheit nicht der entscheidende Faktor der militärischen Eskalation ist, es sei denn, wir meinen den Schutz der Interessen der Mächtigen. Sicherheit für die Bevölkerung ist bestenfalls ein nachträglicher Gedanke und wird oft geopfert.

Was die Klimakrise betrifft, so ist der unregulierte Kapitalismus faktisch ein Todesurteil, aus Gründen, die zu offensichtlich sind, um sie zu diskutieren.

Diese Erkenntnis entgeht auch den Herrschenden nicht. Auf der UN-Konferenz in Glasgow im vergangenen November verkündete der US-Vertreter John Kerry triumphierend, dass der Privatsektor an unserer Seite steht und Billionen Dollar für die Überwindung der Klimakrise bereitstellen wird. Tatsächlich hat "eine Koalition privater Finanzinstitute, die zusammen ein Vermögen von 130 Billionen Dollar kontrollieren, zugesagt, bei ihren Investitionen bis Mitte des Jahrhunderts Netto-Null-Emissionen zu erreichen."

Wie könnten wir da verlieren?

Der politische Ökonom Adam Tooze fügt eine kleine Fußnote hinzu. Ja, der Vorstandsvorsitzende von Blackrock, Larry Fink, und andere an der Spitze der Finanz-Pyramide haben versprochen, in die Überwindung der Krise zu investieren – wenn die Investitionen rentabel und risikolos sind sowie durch Zusagen der internationalen Finanzinstitutionen, die Teil der wohlhabenden Klasse der Mächtigen sind, gestützt werden. Erneut die grausame Profit-Maxime.

Kurz gesagt, das kapitalistische Element in der staatskapitalistisch organisierten Welt spielt eine wesentliche Rolle bei den eskalierenden Krisen, die bereits ein erschreckendes Ausmaß angenommen haben.

Gehen wir davon aus, dass der Kapitalismus in absehbarer Zeit nicht überwunden werden kann – auch wenn das wünschenswert ist. Aber die Klimakrise sowie verschiedene andere Bedrohungen für Mensch und Planet müssen jetzt abgewendet werden. Warum ist ein kapitalismuskritisches Bewusstsein dennoch wichtig, um Dinge wie den Green New Deal, atomwaffenfreie Zonen oder diplomatische Lösungen wie momentan gerade im Ukraine-Krieg durchzusetzen – also politische Alternativen, die in Reichweite liegen, für die aber das kapitalistische Weltsystem nicht grundlegend verändert werden müsste?

Noam Chomsky: Die Zeitskala macht deutlich, dass die Klimakrise und andere schwerwiegende Bedrohungen ohne "grundlegende Veränderungen" des staatskapitalistischen Systems zu bewältigen sind. Doch es braucht Veränderungen, und zwar erhebliche. Es ist mehr als eine Unverschämtheit, dass wir die Mächtigen, die "Herren der Menschheit", die die Krisen zu verantworten haben, bestechen müssen, damit sie aufhören, den Planeten zu zerstören. Reformen des Staatskapitalismus könnten die obszöne Bestechung abmildern. Wir haben es in den letzten Monaten, ja sogar in den letzten Tagen, im US-Kongress gesehen.

Biden hat ein Klimaprogramm eingebracht, das zwar nicht ausreicht, aber weitaus besser ist als alles, was seine Vorgänger angeboten haben. Es ist der Erfolg von Bewegungen, Ergebnis politischen Aktivismus der Bevölkerung. Die Partei der Republikaner ist zu 100 Prozent dagegen, dazu gesellen sich einige rechtsgerichtete Demokraten, insbesondere der Kohlebaron und demokratische Senator Joe Manchin, der im Kongress für die Finanzierung fossiler Brennstoffe zuständig ist.

Noam Chomsky im Gespräch mit Michael Schiffmann über »Konsequenzen des Kapitalismus«

Nachdem Manchin monatelang an den Programmen herumgeschraubt hat, kündigte er schließlich an, dass er keinerlei Ausgaben für das Klimaprogramm akzeptieren würde – aus Sorge um das Bundesdefizit. Eine reine Farce. Denn er ist sich zugleich mit der GOP ("Grand Old Party", ein anderer Ausdruck für die Republikaner, Telepolis) einig, dass der enorme Reichtum, der den Ultrareichen zugeschanzt wurde, nicht mit Steuern belastet werden darf. Dank des neoliberalen Angriffs gilt für Milliardäre in den USA zum ersten Mal innerhalb des letzten Jahrhunderts ein niedrigerer Steuersatz als für Arbeitnehmer.

Diese Ungeheuerlichkeiten können durch bürgerliches Engagement und politischen Aktivismus überwunden werden. Von dort sollte man weitergehen. Denn selbst ohne grundlegende Veränderungen im herrschenden Staatskapitalismus sind grundlegendere Regulierungen im Stil des ökonomischen New Deal möglich. Den New Deal hat US-Präsident Franklin D. Rooselvelt in den 1930er Jahren eingeführt. Er wurde durch den neoliberalen Angriff wieder zerstört. Wiederbelebt könnten solche Regulierungen heute ein wesentliches Element für eine Kehrtwende sein.

Tatsächlich ist die Regierung in der Lage, die gesamte Branche der fossilen Brennstoffe zu einem Preis aufzukaufen, der unter dem liegt, was das Finanzministerium zur Rettung der Reichen im Zuge der Covid-Krise ausgegeben hat. Der Wirtschaftswissenschaftler Robert Pollin, der sich als einer der führenden Forscher mit diesen Fragen ausführlich auseinandergesetzt hat, verweist immer wieder darauf.

Die Industrie könnte auf diese Weise in eine andere Richtung gelenkt werden, um zügig auf erneuerbare Energien umzusteigen. Das sollte unter der Leitung der Beschäftigten geschehen, die dann für bessere Arbeitsplätze und ein besseres Leben in den Kommunen sorgen würden. Viele Optionen stehen offen und sind umsetzbar, wenn wir uns von den Fesseln der grausamsten Formen des Staatskapitalismus und der von ihnen geschaffenen Glaubenssätzen befreien können.

Noam Chomsky ist Professor emeritus für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology und Ehrenprofessor an der Universität von Arizona, politischer Dissident und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm zusammen mit Marv Waterstone im Westend Verlag: "Konsequenzen des Kapitalismus. Der lange Weg von der Unzufriedenheit zum Widerstand".