Chomsky Exklusiv: "Wir können uns vom grausamen Staatskapitalismus befreien!"

Noam Chomsky steht in einer langen Tradition von Kapitalismuskritik und antikapitalistischen Bewegungen. Bild: Asterion / CC BY-SA 2.5

Noam Chomsky sagt im Telepolis-Interview: Der Kapitalismus ist Motor des globalen Krisen-Dramas. Die "Herren der Menschheit" verwüsten den Planeten. Wie entkommen wir dem Konzern-Politik-Medien-Superreichen-Komplex? (Teil 1)

Im Telepolis-Interview mit David Goeßmann erklärt US-Dissident Noam Chomsky, einer der meistzitierten Intellektuellen, warum der neoliberal entsicherte Kapitalismus ins Verderben führen wird. Die "Herren der Menschheit", die die Wirtschaft kontrollieren, seien Architekten einer Politik, die enorme Profite für die Mächtigen garantiert, aber der Welt Kriege, wirtschaftlichen Niedergang, Ungleichheit und Klimakollaps beschert. Chomsky zeigt auf, wie die Umverteilung nach oben gestoppt und die fossile Brennstoffindustrie unter Kontrolle gebracht werden kann.

Es ist mehr als eine Unverschämtheit, dass wir die Mächtigen, die "Herren der Menschheit", die die Krisen zu verantworten haben, bestechen müssen, damit sie aufhören, den Planeten zu zerstören.

In Ihrem neuen Buch "Konsequenzen des Kapitalismus. Der lange Weg von der Unzufriedenheit zum Widerstand" weisen Sie zusammen mit Marv Waterstone auf drei zentrale Folgen des Kapitalismus hin: die Umwelt- und Klimakrise, die militärische Eskalation und die neoliberale Aushöhlung von Wirtschaft und Gesellschaft. Inwieweit ist der Kapitalismus für diese Entwicklungen verantwortlich? Und: Welche Rolle spielen Politik, Medien und andere gesellschaftliche Gruppen bei der Eskalation der Krise?
Noam Chomsky: Dazu sind einige Vorbemerkungen notwendig. Die grundsätzlichen Überlegungen, die Adam Smith angestellt hat, sind ein guter Rahmen, um das Thema zu behandeln. Er zeigte auf und erörterte, dass die "Herren der Menschheit", wie er sich ausdrückte – zu seiner Zeit Ende des 18. Jahrhunderts waren das die Kaufleute und Fabrikanten Englands –, die "Hauptarchitekten" der Regierungspolitik sind. Sie sorgten also dafür, dass ihre eigenen Interessen geschützt werden, egal, wie schlimm die Auswirkungen auf die Bevölkerung auch sein würden. Eine treffende Beschreibung, die nach wie vor Gültigkeit hat.
Noam Chomsky ist Professor für Linguistik in den USA, politischer Dissident und einer der meist zitierten Intellektuellen. Er hat rund 150 Bücher verfasst.
Daraus resultiert zugleich, dass wir nicht in kapitalistischen Gesellschaften leben. Eine solche Gesellschaft würde sich sehr schnell selbst zerstören. Die Herrschenden sind sich dessen bewusst und handeln entschlossen, um sicherzustellen, dass sie vor den Verheerungen des Marktes geschützt sind, während andere ihnen unterworfen werden. Diese grundlegende Tatsache der modernen Geschichte hat sich in den letzten 40 Jahren des neoliberalen Klassenkampfes in dramatischer Weise entfaltet.
Deswegen können wir die kapitalistischen Elemente der Gesellschaft auch nicht einfach von der Politik trennen. Diejenigen, die die wirtschaftliche Macht ausüben, sind weiterhin die Hauptarchitekten staatlicher Politik. Ebenso wenig können wir Kapitalismus von den Medien trennen. Medien sind nun einmal große Unternehmen, die ein Produkt (Leser, Zuschauer) an einen Markt (Werbetreibende, andere große Unternehmen) verkaufen und gleichzeitig enge Verbindungen zur Regierung unterhalten, die im Wesentlichen von den "Herren der Menschheit" kontrolliert wird.
Auch bei den anderen gesellschaftlichen Gruppen müssen wir zwischen Rhetorik und Realität unterscheiden. Der berühmte Slogan der ehemalige britischen Premierministerin Margaret Thatchers, dass es keine Gesellschaft gibt, sondern nur vereinzelte Teilnehmer am Markt, ist eine Art verschlüsselter Code. Wie Thatcher sehr wohl wusste, gibt es für die Herren eine sehr mächtige und fürsorgliche Gesellschaft: Handelskammern, Handelsverbände und andere Organisationen, die sich beim neoliberalen Angriff auf die Bevölkerung, den Thatcher mit initiiert hat, immer weiter ausgedehnt haben. Jetzt gibt es noch den Business Roundtable, das American Legislative Exchange Council (ALEC) und so weiter. Die "Masters of the Universe" entwickelten über die Zeit ein engmaschiges und weitreichendes soziales Netzwerk, um ihr Streben nach der "grausamen Maxime: alles für uns selbst und nichts für andere" ungehindert fortsetzen zu können, um noch einmal Smith zu zitieren.
Der Rest steht dem Markt auf sich allein gestellt hilflos gegenüber, wie "ein Sack Kartoffeln", um die scharfe Kritik von Karl Marx an den autoritären Herrschern seiner Zeit aufzugreifen, die auch auf die heutigen neoliberalen Epigonen zutrifft. Thatcher und Reagan leiteten den neoliberalen Angriff ein, indem sie die Arbeiterbewegung zerstörten, das wichtigste Mittel der kollektiven Organisation und Verteidigung gegen die Politik der Mächtigen. Die arbeitenden Menschen wurden auf einen Sack Kartoffeln reduziert, atomisiert und wehrlos.
Das ist nichts Neues. Der Guru des Neoliberalismus, Ludwig von Mises, war ein begeisterter Anhänger des Faschismus, der, wie er in den 1920er Jahren in Österreich schrieb, die moderne Zivilisation gerettet hat, indem er die Arbeiterbewegung und die Sozialdemokratie gewaltsam zerstörte, die einer "gesunden Wirtschaft" im Wege stehen, indem sie die Rechte der einfachen Menschen schützen.
Die erste große Errungenschaft der neoliberalen Bewegung bestand darin, die Wirtschaft Chiles während des Regimes von Diktator Augusto Pinochet unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Folterkammern sorgten dafür, dass Störungen bei der Durchsetzung des Zerstörungsprojekts schnell unterdrückt werden konnten. Es gelang ihnen, die Wirtschaft innerhalb weniger Jahre zum Einsturz zu bringen, aber das machte nichts. Zu diesem Zeitpunkt agierten sie bereits auf einem größeren Spielfeld. Unter Führung von Reagan und Thatcher sowie ihren Nachfolgern begannen die Mächtigen und Eliten, die Weltwirtschaft nach ihren Interessen auszurichten.
Es hat dagegen auch Widerstand gegeben – wie immer. Soziale Gruppen haben ihre Kraft bewahren können, durchgehalten, sich wiederbelebt, um die politische Bühne kraftvoll zu betreten. Der Klassenkampf ist mit dem neoliberalen Angriff nicht beendet werden, trotz seiner gravierenden Konsequenzen.
Um nur ein Beispiel zu nennen: In den USA wird der Vermögenstransfer in den Jahren des Neoliberalismus von den unteren 90 Prozent der Bevölkerung, den Arbeiter- und Mittelschichten, auf das oberste eine Prozent der Bevölkerung auf etwa 50 Billionen US-Dollar geschätzt. Das ist ein beeindruckender Klassenkampf, der sich nicht nur auf die USA beschränkt. Die darunter am meisten leidenden Opfer sind die Menschen im globalen Süden. Sie sind Opfer der "grausamen Ungerechtigkeit der Europäer", um noch einmal Smith zu zitieren – Europäer, die jetzt ihre ausländischen Zweigstellen in vormals eroberten Gebieten besitzen.

Unregulierter Kapitalismus ist Todesurteil für Menschheit

Das ist natürlich nur ein sehr kursorischer Überblick in Hinsicht auf den grundsätzlichen Rahmen, in dem wir über Kapitalismus sprechen sollten. Was die Frage selbst betrifft, so ist das kapitalistische Element im Konzern-Politik-Medien-Superreiche-Komplex, inklusive ihrer Unterstützungsnetzwerke, für die Herrschenden der wesentliche Faktor und forciert alle von Ihnen genannten Krisen.
Im Falle der neoliberalen Aushöhlung von Wirtschaft und Gesellschaft trifft das fast per Definition zu. Die Hauptarchitekten der Politik werden ja vom kapitalistischen Element angetrieben, um der grausamen Maxime zu folgen.
Das Gleiche gilt im Wesentlichen für die militärische Eskalation. Ich kann die jüngste Geschichte nicht noch einmal Revue passieren lassen, aber sie zeigt ganz klar, dass Sicherheit nicht der entscheidende Faktor der militärischen Eskalation ist, es sei denn, wir meinen den Schutz der Interessen der Mächtigen. Sicherheit für die Bevölkerung ist bestenfalls ein nachträglicher Gedanke und wird oft geopfert.
Was die Klimakrise betrifft, so ist der unregulierte Kapitalismus faktisch ein Todesurteil, aus Gründen, die zu offensichtlich sind, um sie zu diskutieren.
Diese Erkenntnis entgeht auch den Herrschenden nicht. Auf der UN-Konferenz in Glasgow im vergangenen November verkündete der US-Vertreter John Kerry triumphierend, dass der Privatsektor an unserer Seite steht und Billionen Dollar für die Überwindung der Klimakrise bereitstellen wird. Tatsächlich hat "eine Koalition privater Finanzinstitute, die zusammen ein Vermögen von 130 Billionen Dollar kontrollieren, zugesagt, bei ihren Investitionen bis Mitte des Jahrhunderts Netto-Null-Emissionen zu erreichen."
Wie könnten wir da verlieren?
Der politische Ökonom Adam Tooze fügt eine kleine Fußnote hinzu. Ja, der Vorstandsvorsitzende von Blackrock, Larry Fink, und andere an der Spitze der Finanz-Pyramide haben versprochen, in die Überwindung der Krise zu investieren – wenn die Investitionen rentabel und risikolos sind sowie durch Zusagen der internationalen Finanzinstitutionen, die Teil der wohlhabenden Klasse der Mächtigen sind, gestützt werden. Erneut die grausame Profit-Maxime.
Kurz gesagt, das kapitalistische Element in der staatskapitalistisch organisierten Welt spielt eine wesentliche Rolle bei den eskalierenden Krisen, die bereits ein erschreckendes Ausmaß angenommen haben.
Gehen wir davon aus, dass der Kapitalismus in absehbarer Zeit nicht überwunden werden kann – auch wenn das wünschenswert ist. Aber die Klimakrise sowie verschiedene andere Bedrohungen für Mensch und Planet müssen jetzt abgewendet werden. Warum ist ein kapitalismuskritisches Bewusstsein dennoch wichtig, um Dinge wie den Green New Deal, atomwaffenfreie Zonen oder diplomatische Lösungen wie momentan gerade im Ukraine-Krieg durchzusetzen – also politische Alternativen, die in Reichweite liegen, für die aber das kapitalistische Weltsystem nicht grundlegend verändert werden müsste?
Noam Chomsky: Die Zeitskala macht deutlich, dass die Klimakrise und andere schwerwiegende Bedrohungen ohne "grundlegende Veränderungen" des staatskapitalistischen Systems zu bewältigen sind. Doch es braucht Veränderungen, und zwar erhebliche. Es ist mehr als eine Unverschämtheit, dass wir die Mächtigen, die "Herren der Menschheit", die die Krisen zu verantworten haben, bestechen müssen, damit sie aufhören, den Planeten zu zerstören. Reformen des Staatskapitalismus könnten die obszöne Bestechung abmildern. Wir haben es in den letzten Monaten, ja sogar in den letzten Tagen, im US-Kongress gesehen.
Biden hat ein Klimaprogramm eingebracht, das zwar nicht ausreicht, aber weitaus besser ist als alles, was seine Vorgänger angeboten haben. Es ist der Erfolg von Bewegungen, Ergebnis politischen Aktivismus der Bevölkerung. Die Partei der Republikaner ist zu 100 Prozent dagegen, dazu gesellen sich einige rechtsgerichtete Demokraten, insbesondere der Kohlebaron und demokratische Senator Joe Manchin, der im Kongress für die Finanzierung fossiler Brennstoffe zuständig ist.
Noam Chomsky im Gespräch mit Michael Schiffmann über »Konsequenzen des Kapitalismus«
Nachdem Manchin monatelang an den Programmen herumgeschraubt hat, kündigte er schließlich an, dass er keinerlei Ausgaben für das Klimaprogramm akzeptieren würde – aus Sorge um das Bundesdefizit. Eine reine Farce. Denn er ist sich zugleich mit der GOP ("Grand Old Party", ein anderer Ausdruck für die Republikaner, Telepolis) einig, dass der enorme Reichtum, der den Ultrareichen zugeschanzt wurde, nicht mit Steuern belastet werden darf. Dank des neoliberalen Angriffs gilt für Milliardäre in den USA zum ersten Mal innerhalb des letzten Jahrhunderts ein niedrigerer Steuersatz als für Arbeitnehmer.
Diese Ungeheuerlichkeiten können durch bürgerliches Engagement und politischen Aktivismus überwunden werden. Von dort sollte man weitergehen. Denn selbst ohne grundlegende Veränderungen im herrschenden Staatskapitalismus sind grundlegendere Regulierungen im Stil des ökonomischen New Deal möglich. Den New Deal hat US-Präsident Franklin D. Rooselvelt in den 1930er Jahren eingeführt. Er wurde durch den neoliberalen Angriff wieder zerstört. Wiederbelebt könnten solche Regulierungen heute ein wesentliches Element für eine Kehrtwende sein.
Tatsächlich ist die Regierung in der Lage, die gesamte Branche der fossilen Brennstoffe zu einem Preis aufzukaufen, der unter dem liegt, was das Finanzministerium zur Rettung der Reichen im Zuge der Covid-Krise ausgegeben hat. Der Wirtschaftswissenschaftler Robert Pollin, der sich als einer der führenden Forscher mit diesen Fragen ausführlich auseinandergesetzt hat, verweist immer wieder darauf.
Die Industrie könnte auf diese Weise in eine andere Richtung gelenkt werden, um zügig auf erneuerbare Energien umzusteigen. Das sollte unter der Leitung der Beschäftigten geschehen, die dann für bessere Arbeitsplätze und ein besseres Leben in den Kommunen sorgen würden. Viele Optionen stehen offen und sind umsetzbar, wenn wir uns von den Fesseln der grausamsten Formen des Staatskapitalismus und der von ihnen geschaffenen Glaubenssätzen befreien können.

Noam Chomsky ist Professor emeritus für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology und Ehrenprofessor an der Universität von Arizona, politischer Dissident und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm zusammen mit Marv Waterstone im Westend Verlag: "Konsequenzen des Kapitalismus. Der lange Weg von der Unzufriedenheit zum Widerstand".