Chomsky zu Irak-Krieg: Warum die USA mit Völkerrechtsbrüchen davonkommen

Protest gegen Irak-Krieg der USA in Australien 2007. Bild: Marxwasright, CC BY-SA 3.0

Vor 20 Jahren gab der US-Kongress grünes Licht für den Einmarsch in den Irak. Das Land wurde verwüstet, rund eine Million Menschen getötet. Wie die intellektuelle Klasse mit in den Angriffskrieg zog.

Zum 20. Mal jährt sich nun die Abstimmung des US-Kongresses, mit der der Krieg gegen den Irak genehmigt wurde, der nach einigen Schätzungen zwischen 800.000 und 1,3 Millionen Menschen das Leben kostete.

In dem folgenden Interview äußert sich Noam Chomsky zu den Ursachen und Auswirkungen des Verbrechens gegen die Menschheit. Das Interview führt der Politikwissenschaftler C.J. Polychroniou. Es erscheint in Kooperation mit der US-Nachrichtenseite Truthout.

Vor 20 Jahren genehmigte der US-Kongress die Invasion des Irak trotz massiven Widerstands gegen ein solches Unterfangen. Mehrere führende demokratische Senatoren, darunter auch Joe Biden, unterstützten die Kriegsgenehmigung. Historisch wie auch auf die Zukunft bezogen: Was sind die Ursachen und Auswirkungen des Irak-Krieges gewesen?
Noam Chomsky: Es gibt viele Arten von Unterstützung, die sich von offen bis zu stillschweigend äußert. Zu letzterer gehören diejenigen, die den Krieg als einen Fehler betrachten, aber nicht mehr als das – ein "strategischer Fehler", wie Obama rückblickend urteilt.
Es gab Nazi-Generäle, die Hitlers wichtige Entscheidungen als strategische Fehlentscheidungen ablehnten. In solchen Generälen sehen wir heute keineswegs Gegner der Nazi-Aggression. Dasselbe gilt für russische Generäle, die den Einmarsch in Afghanistan in den 1980er-Jahren als Fehler ablehnten, was viele taten.
Noam Chomsky ist Professor für Linguist, US-Kritiker und Aktivist. Er hat rund 150 Bücher geschrieben.
Wenn wir jemals in der Lage sind, an uns selbst die Maßstäbe anzulegen, die wir zu Recht an andere anlegen, dann werden wir erkennen, dass es in den oberen Kreisen, einschließlich der Regierung und der politischen Klasse, wenig prinzipientreuen Widerstand gegen den Irak-Krieg gegeben hat. Ähnlich wie im Fall des Vietnamkriegs und anderer großer Verbrechen.
Natürlich gab es eine starke Opposition in der Bevölkerung. Bezeichnend war meine eigene Erfahrung am Massachusetts Institute of Technology (MIT), wo ich lehrte. Die Studenten verlangten, dass wir den Unterricht aussetzen, damit sie an den großen öffentlichen Protesten vor dem offiziellen Beginn des Krieges teilnehmen konnten – ein Novum in der Geschichte des Imperialismus –. Danach wollte man sich in einer Kirche in der Innenstadt treffen, um über das bevorstehende Verbrechen und seine Folgen zu diskutieren.
Ähnliches galt weltweit, und die Proteste waren derart, dass Donald Rumsfeld seine berühmte Unterscheidung zwischen dem alten und dem neuen Europa machte. Das alte Europa sind die traditionellen Demokratien, altmodische Muffel, über die wir Amerikaner hinwegsehen können, weil sie langweiligen Konzepten wie internationalem Recht, Souveränität und anderem überholtem Unsinn verhaftet sind.
Das neue Europa dagegen repräsentiert die Guten: ein paar ehemalige russische Satellitenstaaten, die auf Washingtons Linie einschwenkten, zudem eine westliche Demokratie, Spanien, wo Premierminister Aznar mit Washington konform ging, dabei fast 100 Prozent der öffentlichen Meinung auch in seinem Land missachtete. Zur Belohnung wurde er eingeladen, sich Bush und Blair anzuschließen, als sie die Invasion ankündigten.
Diese Unterscheidung spiegelt das traditionell großes Interesse an Demokratie in den USA wider.
Es wird interessant sein, zu sehen, ob Bush und Blair zu diesem verheißungsvollen Anlass interviewt werden. Bush wurde am 20. Jahrestag seiner Invasion in Afghanistan interviewt, einem weiteren Akt krimineller Aggression, der entgegen vieler Behauptungen von der internationalen Öffentlichkeit mit überwältigender Mehrheit abgelehnt wurde. Er wurde von der Washington Post interviewt – in der Rubrik "Style", in der er als liebenswerter, alberner Opa dargestellt wurde, der mit seinen Enkeln spielt und seine Porträts berühmter Menschen zeigt, die er getroffen hat.
Es gab eine offizielle Begründung für den Einmarsch der USA und Großbritanniens in den Irak. Es war die "einzige Frage", wie die Verantwortlichen festlegten: Wird der Irak seine Atomwaffenprogramme einstellen?
Internationale Inspektoren hatten angezweifelt, dass es solche Programme gab, und um mehr Zeit für die Untersuchung gebeten. Sie wurden aber abgewiesen. Die USA und ihr britischer Lakai hatten es auf Blut abgesehen. Einige Monate später wurde die "einzige Frage" beantwortet, und zwar falsch. Wir erinnern uns vielleicht an den amüsanten Sketch, den Bush aufführte, indem er unter den Tisch schaute, "Nein, nicht da", vielleicht im Schrank usw. Alles unter großem Gelächter, allerdings nicht in den Straßen von Bagdad.
Die falsche Antwort erforderte einen Kurswechsel. Plötzlich stellte sich heraus, dass der Grund für die Invasion nicht die "einzige Frage" war, sondern vielmehr unser sehnlicher Wunsch, dem Irak die Segnungen der Demokratie zu bringen. Ein führender Nahost-Wissenschaftler schwenkte aus und beschrieb, was geschah. Augustus Richard Norton schrieb:

Als die Behauptungen über die irakischen Massenvernichtungswaffen als Fantasien entlarvt wurden, betonte die Bush-Regierung mehr und mehr als neues Ziel, den Irak demokratisch umzugestalten. Die Wissenschaftler sprangen auf den Demokratisierungszug auf.

Die treu ergebenen Medien und Kommentatoren folgten wie üblich.
Ein wenig Unterstützung dafür gab es auch im Irak. Eine Gallup-Umfrage ergab, dass einige Iraker auf den Demokratie-Zug aufgesprungen waren. Ein Prozent war überzeugt, das Ziel der Invasion sei es, dem Irak Demokratie zu bringen, fünf Prozent meinten, das Ziel sei es, "dem irakischen Volk zu helfen". Die meisten anderen gingen davon aus, dass das Ziel darin bestand, die Kontrolle über die irakischen Ressourcen zu erlangen und den Nahen Osten im Interesse der USA und Israels neu zu ordnen.
Sie waren also Anhänger jener "Verschwörungstheorie", die von rationalen westlichen Menschen verspottet wird. Natürlich sind die rationalen Menschen zugleich fest davon überzeugt, dass Washington und London sich genauso für die "Befreiung des Irak" eingesetzt hätten, wenn die Ressourcen des Landes aus Salat und Essiggurken bestanden hätten und das Zentrum der Produktion fossiler Brennstoffe im Südpazifik gelegen hätte.

Bush als liebenswerter Opa, Putin als Reinkarnation Hitlers

Im November 2007, als die USA ein Abkommen über den Status der Streitkräfte anstrebten, sprach die Bush-Regierung Klartext: Sie forderte einen privilegierten Zugang westlicher Energieunternehmen zu den irakischen Ressourcen an fossilen Brennstoffen und das Recht, US-Militärstützpunkte im Irak zu errichten. Diese Forderungen wurden von Bush in einer "Unterzeichnungserklärung" im folgenden Januar bestätigt. Das irakische Parlament lehnte ab.
Die Folgen der Invasion waren vielfältig. Der Irak wurde verwüstet. Das in vielerlei Hinsicht fortschrittlichste Land der arabischen Welt ist heute in einem erbärmlichen Zustand. Die Invasion hat einen ethnischen (schiitisch-sunnitischen) Konflikt ausgelöst, den es zuvor nicht gegeben hatte und der nun nicht nur das Land, sondern die gesamte Region zerreißt.
Die ISIS ist aus diesen Trümmern hervorgegangen und hätte beinahe das Land übernommen, als die von den USA ausgebildete und bewaffnete Armee beim Anblick der mit Gewehren winkenden Dschihadisten in Pickup-Trucks floh. Kurz vor Bagdad wurden sie von iranisch unterstützten Milizen aufgehalten. Und so weiter und so fort.
Aber all das ist kein Problem für den liebenswerten, trotteligen Opa Bush oder die gebildeten Schichten in den USA, die ihn jetzt als ernsthaften Staatsmann bewundern, der über das Weltgeschehen referieren soll.
Die Reaktion ist ähnlich wie die von Zbigniew Brzezinski auf Fragen angesichts seiner Prahlerei, die Russen nach Afghanistan gelockt zu haben, und seiner Unterstützung der US-Strategie, den Krieg zu verlängern und UN-Verhandlungen über einen russischen Abzug zu blockieren. Das war ein wunderbarer Erfolg, erklärte Brzezinski den naiven Fragestellern. Das Ziel, der UdSSR schweren Schaden zuzufügen, sei erreicht worden, so seine (fragwürdige) Behauptung, während er einräumte, dass ein paar "aufgewühlte Muslime" zurückblieben, ganz zu schweigen von einer Million Leichen und einem zerstörten Land.
Oder wie Jimmy Carter, der uns versicherte, dass wir den Vietnamesen "nichts schuldig" seien, weil "die Zerstörung auf Gegenseitigkeit beruhte".
Man könnte leicht derart weiter machen. Einer derart umfassenden Machtfülle, mit einer loyalen intellektuellen Schicht an der Seite ist weniges unerreichbar.
Der Einmarsch in den Irak 2003 war ein ebenso krimineller Akt wie der Einmarsch Russlands in die Ukraine. Aber die Reaktion der westlichen Gemeinschaft darauf war ganz anders als bei der russischen Invasion in die Ukraine. Es wurden keine Sanktionen gegen die USA verhängt, Vermögenswerte amerikanischer Oligarchen wurden nicht eingefroren. Es gab keine Forderung nach einer Suspendierung der USA im UN-Sicherheitsrat. Ihr Kommentar dazu?
Noam Chomsky: Ein Kommentar ist kaum vonnöten. Das schlimmste Verbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg war der lange Krieg der USA gegen Indochina. Ein Votum gegen die USA war nicht denkbar. In der Uno war man sich darüber im Klaren, dass die USA die Institution einfach aufgelöst hätten, wenn die schrecklichen Verbrechen auch nur zur Sprache gekommen wären.
Der Westen verurteilt berechtigterweise Putins Annexionen und fordert die Bestrafung dieser Reinkarnation Hitlers, wagt aber kaum zu protestieren, wenn die USA Israels illegale Annexion der syrischen Golanhöhen und Groß-Jerusalems sowie Marokkos illegale Annexion der Westsahara gutheißen. Die Liste ist lang. Die Gründe dafür sind offensichtlich.
Wenn die herrschenden Regeln der Weltordnung verletzt werden, wird umgehend reagiert. Ein klares Beispiel dafür ist die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs von 1986. Der unangreifbar-heilige Staat (die USA) wurde vom Gericht wegen internationalem Terrorismus (in der Juristensprache: "ungesetzliche Gewaltanwendung") verurteilt. Man fordert ihn auf, die Verbrechen zu beenden und dem Opfer (Nicaragua) erhebliche Entschädigungen zu zahlen.
Washington reagierte mit einer Eskalation der Verbrechen. Die Presse tat das Urteil als wertlos ab, da der Gerichtshof ein "feindliches Forum" sei (so die New York Times), wie das Urteil gegen die USA beweise. Die ganze Angelegenheit wurde praktisch aus der Geschichte gelöscht, einschließlich der Tatsache, dass die USA nun der einzige Staat sind, der eine Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshof zurückgewiesen hat – natürlich völlig ungestraft.
Ein altes Sprichwort sagt: "Gesetze sind Spinnennetze, durch die die großen Fliegen fliegen und die kleinen sich verfangen". Diese Maxime gilt ganz besonders in internationalen Beziehungen, wo der Pate das Sagen hat.
Mittlerweile ist die Verachtung für das internationale Recht – außer als Waffe gegen Feinde – kaum noch zu verbergen. Die Verachtung wird als Forderung nach einer "regelbasierten internationalen Ordnung" (in welcher der Pate die Regeln festlegt) umformuliert – eine Ordnung, die an die Stelle der archaischen, auf der Uno basierenden internationalen treten soll, die die Außenpolitik der USA behindert.
Was wäre passiert, wenn der Kongress sich geweigert hätte, dem Plan der Bush-Regierung, in den Irak einzumarschieren, zuzustimmen?
Noam Chomsky: Ein Republikaner stimmte gegen die Kriegsresolution (Chafee). Die Demokraten waren gespalten (29 zu 21). Hätte der Kongress seine Zustimmung verweigert, hätte die Bush-Regierung andere Mittel finden müssen, um die Ziele zu erreichen, die Cheney-Rumsfeld-Wolfowitz und andere Falken ziemlich klar dargelegt hatten.
Es gibt viele solcher Mittel: Sabotage, Subversion, Provokation (oder Fabrikation) eines Zwischenfalls, der als Vorwand für "Vergeltungsmaßnahmen" dienen könnte. Oder einfach die Ausweitung des brutalen Sanktionsregimes, das die Bevölkerung in die Knie zwingt.
Wir erinnern uns vielleicht daran, dass die beiden angesehenen internationalen Diplomaten, die Clintons Programm (über die Uno) verwalteten, aus Protest zurücktraten und es als "Völkermord" verurteilten. Einer von ihnen, der deutsche Diplomat Hans von Sponeck, schrieb ein äußerst aufschlussreiches Buch, in dem er die Auswirkungen im Detail beschreibt: "A Different Kind of War". Es war nicht einmal notwendig, das wohl wichtigste Buch, das über die Vorbereitung zur verbrecherischen Invasion und über die US-Sanktionswaffe handelt, zu verbieten. Stille Konformität genügte. Die Erkenntnisse hätten die Bevölkerung vielleicht so sehr aufgewühlt, dass eine "humanitäre Intervention" erforderlich gewesen wäre.
Es ist gut, sich daran zu erinnern, dass dem Zynismus keine Grenzen gesetzt sind, wenn Konformität und Gehorsam vorherrschen.

Noam Chomsky (geb. 1928) ist emeritierter Professor für Linguistik und Philosophie am MIT, Lehrstuhlinhaber für Linguistik an der Universität von Arizona, wo er auch das Programm für Umwelt- und soziale Gerechtigkeit leitet. Chomsky ist einer der meistzitierten Wissenschaftler der modernen Geschichte und kritischer Intellektueller, der von Millionen von Menschen weltweit rezipiert wird. Er hat mehr als 150 Bücher, wissenschaftliche Standardwerke und viele Bestseller in den Bereichen Linguistik, politisches und soziales Denken, politische Ökonomie, Medienwissenschaft, US-Außenpolitik und Weltpolitik sowie Klimawandel veröffentlicht. Zusammen mit Vijay Prashad hat er gerade veröffentlicht: "The Withdrawal. Iraq, Libya, Afghanistan, and the Fragility of U.S. Power".

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