Chronischer Dissidentenmangel bei SPD und Grünen

Kostet das die beiden Parteien den sicher geglaubten Wahlsieg?

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Inzwischen ist der Rücktritt von Oskar Lafontaine als Finanzminister 13 Jahre her. War er der letzte sozialdemokratische Dissident? Bei den Grünen gar hat sich seit deren Regierungseintritt 1998 überhaupt kein/e DissidentIn mehr zu Wort gemeldet. Als letzte Grünen-Politikerin mit ernsteren Kritikabsichten verabschiedete sich bereits 1991 Jutta Ditfurth in eine eigene Partei, die Ökologische Linke. Ganz anders in CSU und FDP: Dort mischen die Dissidenten fast täglich ihre Parteien auf und hauchen ihnen neues Leben ein. Sind Dissidenten die demokratische Killerapplikation?

Die liberale FDP war traditionell immer ein fruchtbarer Ort für Abweichler jeder Couleur. Gerne erinnert man sich an den liberalen Innenminister Gerhard Baum, an den Nahost-Dissidenten Jürgen Möllemann, an die Bürger- und Menschenrechtlerin Hildegard Hamm-Brücher und den FDP-Gründungsethiker Thomas Dehler. Auch heute kann die darbende FDP in Sachen Abweichlertum aus dem Vollen schöpfen. So schreibt der FDP-Bundestagsabgeordnete Frank Schäffler auf seiner Webseite:

Viele Politiker haben die Ursache der Krise in unserem Weltfinanzsystem nicht verstanden. Dazu zähle ich auch die Bundeskanzlerin. Der Grundfehler in deren Annahme ist der Glaube, man könne mit billigem Geld aus dieser Krise herauswachsen.

Als Lafo so etwas zu Cohiba-Gerd sagte, legte ihm dieser den sofortigen Rücktritt nahe. Ökonomen wie Dirk Solte vom FAW Neu-Ulm, die solches an Peer Steinbrück schrieben, kamen auf eine schwarze Liste. Ein Rainer Brüderle, Guido Westerwelle und Christian Lindner dagegen haben damit keine Probleme. Während alle Welt glaubt, die FDP sei der zum Scheitern verurteilte Juniorpartner der CDU, gewinnen Lindner und Kubicki ihre Wahlen in NRW und Schleswig-Holstein. Auf der Webseite der FDP in NRW kann man bewundern, wie geschickt antizyklisch selbst Lindner agiert: Er bezeichnete das neue Nichtrauchergesetz als "Grüne Tugenddiktatur".

Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich daran erinnere (Koran lesen, rauchen, CSU wählen), dass ich weder Rauchen, noch Koran Lesen und auch nicht einmal CSU Wählen für zu ahndende Laster halte.

Mit Wolfgang Kubicki hat die FDP einen weiteren, verlässlichen Profi-Dissidenten. Der Lebenskünstler wohnt in einem kleinen Dorf an der Ostsee, wohin ihn eine Zeit-Reporterin begleitete. Kostprobe aus der Reportage:

Als einer der Politiker erklärte, allein der Mensch müsse im Mittelpunkt stehen, blaffte ihn Kubicki an: "Was sind denn das für Sätze? Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen. Stand er das bisher nicht? Ist das jetzt neu?"

Selbst Rainer Brüderle, der über Jahre Spottobjekt der Heute-Show war, spricht im Bundestag in einer hörenswerten Rede von einer "angelsächsischen Finanzlobby" und bescheinigt den US-Ratingagenturen, einen "patriotischen Knick in ihrer Optik zu haben".

Jürgen Trittin kritisiert er, er wolle mit einem europäischen Haftungsverbund die Gewinne von US-Investmentbankern durch Omas Sparbuch sichern. Das sitzt.

Dass die FDP in allen Regierungen, in denen sie Steuersenkungen forderte, mit Ausnahme der Senkung der Umsatzsteuer für Hoteliers noch nie eine Steuersenkung erreicht hat - das ewige Leid des Dissidententums.

Fazit: Mit Schäffler, Kubicki und selbst Brüderle und Lindner verfügt die FDP über Dissidenten mit Bundesligaformat. Wenn sie diese 2013 richtig einsetzt, ist ihr Ausscheiden aus dem Bundestag keineswegs sicher.

I bin, also bin i anders - die CSU als Partei der Dissidenten

Mit Peter Gauweiler beschäftigt die CSU den wohl profiliertesten und erfahrensten Dissidenten im Deutschen Bundestag. Mit seiner Klage gegen den Europäischen Rettungsschirm versammelte der studierte Anwalt gar die Linke hinter sich. Nur zehn Hände - unter ihnen der Grüne Christian Ströbele - rührten sich, als Bundestagspräsident Lammert Gauweiler am 29. Juni 2012 zu seiner Rede im Bundestag aufforderte.

Mehr als knapp 30.000 YouTube-Seher interessierte die Rede nicht, in der Gauweiler massive Kritik an der fehlenden parlamentarischen Kontrolle der eingegangenen Verpflichtungen übte. In seiner Partei wurde er 2011 nicht zu einem der Vize-Vorsitzenden gewählt. Gauweiler gilt als isoliert. Dennoch konnte der ehemalige CSU-Generalsekretär und damalige Umweltminister Markus Söder anlässlich von Gauweilers Kandidatur als Parteivize ausrufen:

Gauweiler ist Adrenalin für die Partei.

Es gibt in den Städten und Kreisen Bayern viele kleine Gauweilers. In der CSU-Fraktion des Bundestages wagten es neben Gauweiler gleich drei weitere CSU-Abgeordnete, gegen den EFSF-Rettungsschirm zu stimmen: Herbert Frankenhauser, Josef Göppel und Thomas Silberhorn.

Oberster Abweichler in der CSU ist allerdings immer noch ihr Vorsitzender Horst Seehofer. Mit seiner Forderung, über Euro-Rettungsschirme bundesweit eine Volksabstimmung durchführen zu lassen, gibt er sich als Oberpirat.

Selbst die CDU hat mehr Dissidenten

Selbst die CDU hat mit Heiner Geißler, Kurt Biedenkopf - der jüngst eine Vermögensabgabe forderte - und Jürgen Todenhöfer profilierte Dissidenten. Todenhöfer gilt als scharfer Kritiker der pro-amerikanischen und pro-israelischen Außenpolitik Deutschlands. Die Bücher des ehemaligen Vorsitzenden des entwicklungspolitischen Ausschusses, insbesondere sein Bestseller "Warum tötest du, Zaid", werden in Mainstream-Medien kaum besprochen. Die Essays von Todenhöfer erscheinen auch in der taz. Im Spiegel sprach er vom "Bombenterror der USA" und forderte Abgeordnete, die für den Krieg stimmten auf, selbst an die Front zu gehen. Dort, an der Front - etwa in Libyen - wagte sich Todenhöfer unter Lebensgefahr in die politische Realität. Darf erwähnt werden, dass der Pazifist noch immer CDU-Mitglied ist?

Damit kommen wir zum einzigen Dissidenten der SPD, zu Thilo Sarrazin. Er möchte SPD-Mitglied bleiben. Falls es bei den Grünen eine Dissidentin geben sollte, erwartet der Autor hier Informationen.

Über die Abwesenheit der Dissidenten bei SPD und Grünen habe ich nur Vermutungen. Eine ist die, dass Sozialdemokraten und Grüne seit der Regierungsübernahme von Helmut Kohl 1982 glaubten, die Opposition müsse einig sein, um zu gewinnen. Das hört man heute auch aus der Linkspartei, die sich derzeit nicht wegen fehlender Einigkeit, sondern wegen fehlender Uneinigkeit ins Abseits bringt.

Eine andere Vermutung ist die, dass es keine rot-grünen Dissidenten gibt, weil SPD und Grüne außer dem verständlichen Wunsch zur Regierungsbeteiligung keinerlei identifizierbare, eigene Inhalte vertreten. Wogegen soll sich dann ein Dissident wenden?

Von CSU und FDP kann man dagegen eine auch für mich als Sozialkapitalforscher ungewöhnliche Lehre erteilt bekommen: Nicht Corporate Identity, middle-of-the-road und Einheitsbeschwörungen, Ärger, Diskussion und Abweichung bringen Erfolg.