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Clan-Kriminalität: Der Thriller vor der Haustür

GSG-9-Übung: Der Staat ist oft in der Defensive. Bild: Flophila88, CC BY-SA 3.0

Schauplatz NRW: Polizei stürmt Villa in Leverkusen. Hohes Clan-Mitglied verhaftet. Parallelen zu anderen Hotspots. Nebenbei wird der Markt mit Gangstershit bedient

Telepolis berichtete verschiedentlich über Clan- und Mafiakriminalität, machte aber auch schon darauf aufmerksam, dass vor allem NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) das Thema gern dazu dient, mediale Präsenz zu zeigen. Da kommt ein Clan-Aufreger von Zeit zu Zeit ganz gut. Vergangene Woche gab es eine solche Gelegenheit: Großrazzia in Nordrhein-Westfalen (NRW).

In NRW – mit dem Schwerpunkt Ruhrgebiet – hat sich die organisierte Kriminalität in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Problem erster Ordnung ausgewachsen: Ein Eldorado der Sonderklasse, die Polizei sprach schon von einem Mafiaparadies. Jetzt war das Sondereinsatzkommando (SEK) im Bundesland im Einsatz. Worum ging es? [1]

Presseberichten zufolge startete die NRW-Polizei am frühen Dienstagmorgen mit hunderten Einsatzkräften einen von langer Hand vorbereiteten Coup. Beobachter sprechen von einer "spektakulären" Aktion. Offiziellen Angaben zufolge waren 600 Polizisten in 15 Städten gleichzeitig im Einsatz, darunter in Köln, Düsseldorf, Bochum und Wuppertal. Mitglieder des SEK stürmten mehrere Gebäude, die in Verbindung mit dem berüchtigten Al-Zein-Clan stehen.

Panzer knackt Eingangstor

In mehreren Gebäuden des Clans fanden Hausdurchsuchungen statt, dabei sollen die Beamten schwere Geschütze aufgefahren haben. Über 30 Wohnungen, Büros und andere Objekte standen auf ihrer Liste; Ziel der Aktion sei "das Beschlagnahmen von Vermögensvorteilen, die durch Straftaten erlangt wurden, sowie die Vollstreckung von Haftbefehlen", so ein Sprecher der Polizei.

Um auf das Gelände einer Villa in Leverkusen zu gelangen, setzten die SEK-Kräfte einem Bericht der Bild nach einen Polizei-Panzer ein. Nachdem das Gefährt das Eingangstor aufgebrochen hatte, sei anschließend die Eingangstür gesprengt worden. Die Zielperson: Ein ranghohes Clanmitglied von Al-Zein. Der 46-jährige Hauptbeschuldigte zähle zu "den absoluten Topleuten" der im Land aktiven Clans, erklärte Landesinnenminister Reul [2]

Wir haben ihn [den Hauptbeschuldigten] nicht nur festgenommen, sondern ihm auch sein Zuhause weggenommen. Das ist heute ein Schlag gegen die erste Liga der Clan-Kriminalität in Nordrhein-Westfalen.

NRW-Innenminister Herbert Reul

Die gestürmte Villa werde nun im Grundbuch an den Staat übertragen und die Familie ausgetragen. Vermögensarreste für knapp 800.000 Euro wurden bei der NRW-Razzia angeordnet. Allein auf dem Anwesen in Leverkusen wurden 290.000 Euro Bargeld entdeckt, zudem beschlagnahmten die Polizisten scharfe Schusswaffen, Schmuck, eine Luxusuhr sowie unterschriebene Blankobescheinigungen über Corona-Tests. "Wir gehen von mehreren hundert gefälschten Impfpapieren aus", ließ Oberstaatsanwalt Andreas Stüve auf Presseanfrage hin wissen. In abgehörten Telefonaten sprachen die Gangster über den Deal mit den Bescheinigungen. [3]

Jobcenter finanzierte das Clan-Domizil

Auch die 42 Jahre alte Ehefrau des Hauptverdächtigen, Mutter von neun Kindern, sowie zwei Söhne im Alter von 24 und 28 Jahren wurden mit Haftbefehl festgenommen, wie die Polizei und die Staatsanwaltschaft in Düsseldorf gemeinsam mit dem Landeskriminalamt (LKA) mitteilten. Der Vorwurf: Bandenmäßiger Betrug, Sozialhilfebetrug, Geldwäsche und Schutzgelderpressung.

Zudem bestehe der dringende Verdacht, dass die Clanmitglieder "über Jahre hinweg zu Unrecht Sozialleistungen in sechsstelliger Höhe bezogen" hätten. "Man hat im Prinzip versucht vorzutäuschen, dass man geradezu mittellos ist", sagte Einsatzleiterin Heike Schultz.

Der Kölner Stadt-Anzeiger (KStA) berichtete in seiner Mittwochsausgabe, die Behörden hätten nicht gemerkt, dass die "angeblich armen Libanesen" in einem schmucken Haus residierten, mehrere Autos fuhren und teuren Schmuck liebten. Dem Blatt zufolge kassierte der Clan von Mai 2015 bis heute rund 400.000 Euro vom Leverkusener Jobcenter und finanzierte so seinen Lebensstil. Das Familienoberhaupt sei zugleich ein "Friedensrichter" innerhalb der Sippe gewesen und habe aus dieser Stellung Schlichtungsgebühren bezogen - zusätzlich zu weiteren Einnahmen aus Drogengeschäften und Schutzgelderpressung.

Wer sich nicht an den Schiedsspruch des Chefs halte, bekomme es mit seinen Schlägertrupps zu tun, so Vize-LKA-Chef Thomas Jungbluth. Einer der Söhne erschlich offenbar mit fingierten Gehaltseingängen ein Bauspardarlehen. Mit Hilfe der Sozialleistungen wurde unter anderem das Darlehen für den Familiensitz bedient, es soll sich auf 500.000 Euro belaufen. [4]

Clan-Chef Mahmoud Al-Zein selbst, der eigentlich Mahmut Uca heißt, hält sich Medienberichten zufolge seit Ende Januar in der Türkei auf – auf Druck der Behörden musste er ausreisen. Laut Bild ist Uca mehrfach vorbestraft, unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung, räuberischen Diebstahls und Drogenhandels. Viermal sei er zu Haftstrafen verurteilt worden.

Derzeit gelte eine Wiedereinreisesperre von sechs Monaten für den 55-jährigen Clan-Boss, der nicht nur in Berlin, sondern auch jahrelang in Marxloh gelebt hat, einem Duisburger Vorort, der schon bundesweit Schlagzeilen machte. Als angeblich Staatenloser durfte Mahmoud Al-Zein mehr als drei Jahrzehnte in Deutschland verbringen. [5]

Lagebild NRW: 111 Clans, Geldwäsche und Karossen

Seit Jahren sind Polizei, Staatsanwaltschaft und LKA dabei, ihre Kräfte zu sammeln und die gemeinsame Ausrichtung zu koordinieren. In einem Positionspapier des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), Titel: "Clankriminalität bekämpfen: strategische Ausrichtung – nachhaltige Erfolge" macht der BDK die Zielsetzung deutlich.

Man sieht die Zeit gekommen, "noch konsequenter" und vor allem: vernetzt tätig zu werden. Denn, so heißt es, die Clans operierten längst über die Landesgrenzen hinweg und betätigten sich bei ihren kriminellen Aktivitäten auf den unterschiedlichsten Geschäftsfeldern, und das hinter gut getarnten Fassaden. [6]

In scheinbar normalen Läden, Autowerkstätten, Bars und Restaurants oder über Immobilien-Investments werden die illegalen Einnahmen gewaschen. Auf jeden Fall landet viel Geld in Immobilien und auf Rädern, sprich in teuren Karossen, denn die Clans wissen die extravagantere Form der Mobilität zu schätzen. Viel Blech steht für viel Ansehen, das kann der deutsche Mittelklassefahrer bei Gelegenheit immer mal wieder im Fernsehen mitverfolgen, so zum Beispiel angesichts einer Großrazzia in Hagen im August vergangenen Jahres. [7]

Inzwischen kennt Otto Normalverbraucher die bekanntesten Clans mit Namen, dazu trägt das hochgepuschte Medieninteresse bei, das hier einen Markt bedient. Bekanntheit erlangte so nicht nur der eingangs erwähnte Al-Zein-Clan, von sich reden machte der Abou-Chaker-Clan mit seiner Spitze in der Bundeshauptstadt Berlin. Der gleichfalls rührige Remmo-Clan ist sowohl in Berlin wie im Ruhrgebiet zu Hause, Mitglieder des Miri-Clans tummeln sich in Niedersachsen und gleichfalls an der Ruhr. [8]

Und das sind die Great Four der Clans:

Die Ruhrstadt Essen gilt neben Bremen und Berlin als einer der drei bundesweiten Hotspots für Clankriminalität. Mitgliederzahlen sind schwerlich exakt zu beziffern.

Angesichts der anwachsenden Delikte fand im Januar 2019 ein bundesweites Symposium der Landesregierung unter dem Dach der "Ruhr-Konferenz" statt. Einige Monate später, am 10. Dezember 2019, stellte Minister Reul eine neue, behördenübergreifende Dienststelle vor, durch die die Bekämpfung der Clankriminalität in der Metropolregion Ruhr effizienter werden soll.

Viel zu spät, wie Kritiker fanden. Der Name: "Sicherheitskooperation Ruhr zur Bekämpfung der Clankriminalität" ("SiKo Ruhr") spricht Bände, denn wenn man Clankriminalität auf die Art bekämpfen muss, muss zuvor etwas passiert sein, und das nicht von heute auf morgen. [9]

Nicht mal ein Jahr später (Stand diesmal: August 2020) ist die Zahl der Straftaten gemäß dem Clan-Lagebild 2020 um 12,7 Prozent und die der Verdächtigen mit Clan-Hintergrund um 13,4 Prozent gestiegen; auch die Zahl der kriminellen Familienclans ist größer geworden: Derzeit gehen die Ermittler in NRW von 111 Clans aus, im Vorjahr waren es 104. [10]

Äußerst mühsam gestaltet sich die Arbeit, auch nur halbwegs brauchbare kriminelle Bilanzen zu erstellen, wobei die Ermittler häufig im Trüben fischen. Bundesweit wird den Gruppierungen, von denen hier die Rede ist, ein zweistelliger krimineller Millionen-"Ertrag" nachgesagt, nicht gerechnet die Millionen, die auf mittelbare Schäden entfallen. Dabei handelt es sich um Kollateralschäden der diversen Geschäftspraktiken.

"Warum sind Sie so gewalttätig?"

Und die Clans machen weiter Schlagzeilen. Auf Seiten der Journalistenkollegen:innen scheint es Ehrensache für manche, den rüden Bossen hinterher zu sein und zumindest einen coolen Spruch zu ergattern, zum Beispiel anlässlich einer Gerichtsverhandlung oder auf offener Straße.

Im SWR-Magazin Walulis Woche war das Clan-Thema im Herbst 2020 Gegenstand von reichlich Häme, vor allem, was den notorischen Medienhype betrifft; Clanmitglieder kommen in dem TV-Beitrag mit abgedrehten Auftritten und supercoolen Sprüchen zu Wort (Sendung vom 16.10.2020).

Im Clip (das Video ist inzwischen leider nicht mehr verfügbar) gewährt einer der smarten Jungs zynisch scheinbaren Einblick in seine Persönlichkeit. Auf die Frage: "Warum sind Sie so gewalttätig?" kommt die Antwort aus der Psycho-Pistole: "Mein Therapeut glaubt, das liegt an meiner tief verwurzelten Unsicherheit, für die mein Vater verantwortlich ist, weil er mir immer das Gefühl gegeben hat, nicht genug zu sein." Für Deutsche, die ihr eigenes Leben langweilig finden, ist so was auf jeden Fall ein gefundenes Fressen.

So wird ganz nebenbei der Markt mit Gangstershit bedient: Clan-Boss Mahmoud Al-Zein veröffentlicht seine Autobiografie in einem namhaften bundesdeutschen Verlag. Aussteiger gewähren Einblicke in ihr Inneres und können dabei auf reges Interesse zählen. Noch in aller Ohren: Rapper Bushido liegt medienwirksam im Clinch mit Arafat Abou-Chaker. Stoff für die nimmersatte Unterhaltungsmaschinerie.

"Was geht?" Buchprojekt suggeriert Einsichten

Die Autobiografie von Mahmoud Al-Zein (auch El-Zein, Al-Zayn) erschien am 1. Oktober 2020, rechtzeitig zur Buchmesse: Der Pate von Berlin. Das Buch wird vom Verlag selbstredend mit den passenden Werbeslogans feilgeboten, so zum Beispiel, das hier vorgelegte Werk sei "krass, brisant und ungeschönt".

Das dürfte das nötige Interesse wecken. Der Untertitel verrät: "Mein Weg, meine Familie, meine Regeln" und suggeriert Einblicke in das Innere eines ansonsten unzugänglichen Kosmos. Oder, wie ein Clanmitglied in einem Videobeitrag uns wissen lässt: Diese Welt ist eine andere als unsere – halt "von einem anderen Planeten". [11]

Die Verlagsseite stützt sich martialisch auf die Innenansicht der Clan-Seele - ein unsichtbarer Ort, an dem bedingungslose Loyalität alles ist, sozusagen ein Heiligtum. Das Ergebnis liest sich dann so [12]:

Wenn mal jemand daneben tritt, wird auch mal ein Auge zugedrückt. Aber wenn die Grenze des Respekts überschritten wird, fließt Blut.

"Shu fi?" – "Was geht?" fragt der zum Autor Gekürte gleich zu Anfang und räsoniert:

Die Männer meiner Familie haben mir grundlegende Werte vermittelt - dass man nur auf dem rechten Weg siegreich sein kann; dass das Unrecht, das man anrichtet, irgendwann zu einem zurückkommt; was falsch und was richtig ist. Diese Lehren prägten mein Leben von Anfang an. Allerdings dauerte es eine Weile, bis mir klar wurde, was sie im Kern bedeuten. Ich musste es erst herausfinden. Und zwar ohne die Hilfe meiner Familie. Auf die harte Tour.

Dem Clan-Chef (oder dem Verlag?) ist es nicht zu blöd, die Pose des Denkers zu besetzen. In der Wortwahl Anklänge an biblisches Spruchgut, in der Substanz weitgehend geistfrei:

Alles hat seine Zeit - die Geschäfte, das Vergnügen, der Lohn, die Rache. Nur für die Familie, für die ist immer Zeit.

Mahmoud Al-Zein: Der Pate von Berlin, 2020, Mottospruch im Buch

Da denkt sich der intelligente Zeitgenosse: Was für ein Satz! Der vom Verlag ausgelegte Köder kokettiert selbstredend mit echtem Blut - sicher nicht das Kunstblut aus dem Tatort.

4 Blocks: Kampf um die Unterwelt als Quotenrenner

Kriminelle Clans kämpfen in der Serie 4 Blocks um die Vorherrschaft im Berliner Untergrund. Als reale Vorlage dienten die Machenschaften innerhalb von Großfamilien wie dem Abou-Chaker-, Miri-, Remmo- oder Al-Zein-Clan. "Wir verschaffen Ihnen einen Überblick über das organisierte Verbrechen in Deutschland", wirbt der Focus in einem eigenen Themenblock über die "ethnisch abgeschottete(n) Subkulturen". Da möchte man doch anbeißen - die Serie selber ist ein Renner. [13]

Der Sender weiß, was zieht [14]:

Drogen, Schutzgeld, Glücksspiel - der Kampf um Berlins Unterwelt tobt und mittendrin ist der libanesische Hamady-Clan, der vier Blocks in Neukölln kontrolliert.

An der Stelle noch ein Wort zum Clan Al-Zein. Al-Zein ist eine über den Libanon nach Europa gezogene kurdisch-arabische Großfamilie mit Ablegern in Europa und in Deutschland, der mehr als zehntausend Mitglieder zugerechnet werden.

Zum typischen Repertoire an illegalen Geschäften gehören Drogen- und illegaler Medikamentenhandel, Gewalt- und Körperverletzungsdelikte, gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr, Betrug, Raub bzw. Ladendiebstahl, Hausfriedensbruch, Leistungsmissbrauch, illegaler Waffenbesitz und Auftragsmord.

Beim Einbruch 2014 in die Juwelierabteilung des Berliner KaDeWe arbeiteten die Täter vermutlich mit dem Miri-Clan zusammen. Mitglieder sprachen in Interviews unverhohlen von Schutzgelderpressung und Geldwäsche. Der Vorfall machte bundesweit Schlagzeilen und verhalf dem Milieu wenige Tage vor Weihnachten zu einer Welle von Aufmerksamkeit; die Kommerzialisierung somit auch auf allen Ebenen des medialen Interesses im Schlepptau.

Es war ein spektakulärer 79-Sekunden-Coup: Fünf maskierte Männer zertrümmerten mit Macheten, Äxten und Hämmern das Panzerglas der Vitrinen und rafften die Auslagen zusammen. Die Beute: 15 Rolex-Uhren und Chopard-Diamantschmuck im Wert von rund 817.000 Euro.

Die Tatausführung lenkte den Verdacht der Fahnder bald auf polizeibekannte Familienclans. Als Besitzer des Fluchtfahrzeugs wird Hussein Miri ausgemacht. Er wird verhaftet und sagt gegen Mitglieder des Al Zein-Clans aus. Der Al-Zein- und der Miri-Clan seien offenbar zerstritten, sagte damals Staatsanwältin Susan Wettley. Nichts Ungewöhnliches. [15]

"Auf der Straße gilt unser Gesetz"

Auch Aussteiger Khalil O. schrieb ein Buch. Dabei behilflich war die Journalistin Christine Kensche von der Welt. Sie berichtet von mehr als 50 Treffen mit einem Mann, dessen Geschichte sie bei Polizei und Staatsanwaltschaft überprüft habe.

Khalil O., der Ende der 1990er Jahre vom (früh bereits gewalttätig gewordenen) Schüler zum Berufsverbrecher und Drogendealer wurde, schlug nach eigener Darstellung damit den gleichen Weg ein wie Brüder, Cousins, Onkel und Freunde. Vor 15 Jahren verließ er die Szene.

Der Buchtitel verrät erwartbare Eindeutigkeit: "Auf der Straße gilt unser Gesetz", darin schildert O. das Leben im arabischstämmigen Clanmilieu in Berlin [16].

Ich würde sagen, in 80 Prozent der arabischen Großfamilien gibt es Leute, die ihre Finger in irgendetwas drin haben, seien es Drogen, Einbrüche, Schutzgeld oder Prostitution.

Aussteiger Khalil O.

Khalil O. lässt den Leser teilhaben an seinen Vorlieben - für Luxusklamotten, Goldkettchen und die häufigen Bordellbesuche; finanziert wird das alles mit Drogendeals. Kontakte und Geschäftsverbindungen ergeben sich über die Zweige der Verwandtschaft, etwa in Berlin-Kreuzberg, Neukölln oder Wedding; Konkurrenten werden brutal eines Besseren belehrt. Die Opfer trauen sich nicht zur Polizei zu gehen. Anfang der 2000er-Jahre steigt Khalil in den Kokainhandel ein, es gibt einen 24-Stunden-Lieferservice mit Koks.

Den Stoff liefern Verwandte aus Deutschland und den Niederlanden: "Ich trug eine Rolex an jedem Arm und fuhr die fettesten Autos auf Berlins Straßen. An Silvester mietete ich eine Präsidentensuite am Potsdamer Platz." Nach Absturz, Krise und Ausstieg macht Khalil das Abitur nach und wird Sozialarbeiter.

Eine Story wie aus dem Bilderbuch. Gangstershit, der zu Herzen geht. Geschichten, die sich verkaufen lassen. 1001-Nacht, nur anders. Die Anti-Helden sind nahbar geworden. Wir sitzen, eingekastet im Home-Office, und das hier ist mal was Richtiges, Authentisches. Clans in Deutschland: Wie die kriminelle Parallelgesellschaft Schule macht, oder: Was durchschnittstemperierte Deutsche alles toll finden – und wie der Markt bedient wird. Es riecht nach Asphalt. Und natürlich nach Gewalt.

"ersguterjunge": Bushido und sein "Manager"

Rapper Bushido hat unlängst zum Ach-Du-Schreck-Repertoire beigetragen, indem bekannt wurde, dass er vom berühmt-berüchtigten Berliner Clan-Chef Arafat Abou-Chaker unter Druck gesetzt wurde, nachdem beide zuvor offenbar gute Freunde waren und sich prima verstanden hatten, was dann aber schiefging. Man tat sich um im gemeinsamen Musikgeschäft (Label: "ersguterjunge") und war mittels Rechtsform einer GbR auf weiteren "Geschäftsfeldern" aktiv, bis der Streit um einen millionenschweren Immobiliendeal die Geschäftspartner entzweite.

Arafat Abou-Chaker (45) gilt als das Oberhaupt des gleichnamigen Clans. Vor seinem Zerwürfnis mit dem Rapper soll er dessen Manager gewesen sein. Beide jonglierten nicht mit Kleinigkeiten, sondern mit Millionen. Nachher pflegte Bushido Kontakte zu einer verfeindeten Gruppierung, dem Berliner Remmo-Clan. [17]

Die Remmo-Familie schaffte es schon mehrmals mit aufsehenerregenden Nachrichten in die Schlagzeilen. Insgesamt war der Remmo-Clan im Besitz von 77 Objekten, die durch Straftaten finanziert worden sein sollen; mit dem Nachweis taten sich die Behörden jahrelang schwer, bis die Objekte zuletzt beschlagnahmt wurden.

Sohn Jusuf (heute 27) kaufte demzufolge im Alter von 19 Jahren millionenschwere Grundstücke, habe zu dem Zeitpunkt jedoch keine nennenswerten, rechtmäßigen Einkünfte gehabt, so das Berliner Landgericht. Unter anderem soll es Bareinzahlungen aus dem Libanon gegeben haben. Im April 2020 ordnete das Gericht das Einziehen des Anwesens von Clan-Chef Issa Remmo in Buckow und eines weiteren Grundstücks an. Remmo residierte eine Zeitlang auf dem opulenten Grundstück in einer Villa. [18]

Dem Clan-Boss Abou-Chaker könnten am Ende Steuerdelikte zum Verhängnis werden. Hunderte Ermittler in Berlin, Brandenburg und der Schweiz rückten am 22. September 2020 zu einer Razzia aus, 300 Einsatzkräfte durchsuchten 18 Objekte, die Vorwürfe: Steuerhinterziehung, Geldwäsche und Verstoß gegen das Abgabegesetz. Vermögen in Höhe von mehreren Millionen Euro wurden vorläufig sichergestellt.

Das denkmalgeschützte 16.000 Quadratmeter große frühere Seemanns-Erholungsheim in Kleinmachnow hatten Bushido und sein "Manager" 2011 erworben. Abou-Chaker bezog Pressemeldungen zufolge auch dort sein Domizil, über Bushidos Villa auf dem Areal kursierten Gerüchte, zuletzt soll es angeblich leergestanden haben. [19]

Mafia & Co. KG: Der Thriller vor der Haustür

Wer noch nicht genug hat, findet Stoff bei der 'Ndrangheta, die für Schlagzeilen im Kontext eines Prozesses in Düsseldorf sorgt: Raub, Entführung, tonnenweise Kokain. Das Verfahren startete Mitte Oktober 2020, wurde wegen Corona mehrfach unterbrochen. Die Rede ist "von einem der größten Mafia-Prozesse der deutschen Geschichte". [20]

649 Seiten umfasst die Anklageschrift, 14 Hauptakteure eines internationalen Drogenrings müssen sich vor dem Duisburger Landgericht (das ist die zuständige Gerichtsbehörde) verantworten. Dazu gehört auch der mutmaßliche Kopf der Bande, Giuseppe M., ein 35-jähriger Kalabrese.

Über ein Lokal im rheinischen Wesseling südlich von Köln soll Giuseppe seine Strippen gezogen haben; die Staatsanwaltschaft gab dem Kokain-Joint-Venture den Namen: "Mafia & Co. KG".

Neben den Mafiosi müssen sich Drogeninvestoren einer türkischen Connection aus dem Rhein-Erft-Kreis zusammen mit marokkanischen Großdealern verantworten. Aus Sicherheitsgründen findet der Prozess im Hochsicherheits-Gerichtsbunker des Düsseldorfer Oberlandesgerichts statt und nicht in Duisburg selbst. Die Vernehmungen laufen seit Monaten, derzeit ist montags und freitags Termin im Hochsicherheitstrakt.114 Seiten umfasst die Presseinformation, die das Duisburger Landgericht im Dezember zum Fall veröffentlichte. [21]

Auf den ersten Blick (zumindest derzeit) ein langweiliges Betäubungsmittel-Verfahren, das noch Monate mit den nötigen Erhebungen beschäftigt sein wird. "Der Fall 'Mafia & Co. KG' enthält jedoch alle Facetten, die US-Thriller kaum besser erzählen könnten", schrieb der Kölner Stadt-Anzeiger (12. Oktober 2020, Printausgabe), um anschließend trocken zu ergänzen: "Es handelt sich allerdings um wahre Begebenheiten".

Da geht die Geschichte unversehens ins Fiktive über. Wie einer der harten Jungs sagte: Er lebt mitten in Deutschland, aber seine Welt ist nicht unsere.


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[1] https://www.heise.de/tp/features/Die-Heimat-ist-der-Clan-4296136.html
[2] https://www.bild.de/bild-plus/regional/koeln/koeln-aktuell/sek-stuermt-villa-mit-panzer-razzia-gegen-al-zein-clan-festnahmen-in-leverkusen-76659090.bild.html
[3] https://www.ruhr24.de/nrw/nrw-polizei-clan-villa-panzer-festnahme-clankriminalitaet-al-zein-heute-2021-leverkusen-razzia-zr-90793248.html
[4] https://www.ksta.de/nrw/clan-familie-residierte-als-sozialhilfeempfaenger-in-villa-38467772
[5] https://www.ruhr24.de/nrw/nrw-polizei-clan-villa-panzer-festnahme-clankriminalitaet-al-zein-heute-2021-leverkusen-razzia-zr-90793248.html
[6] https://www.bdk.de/der-bdk/was-wir-tun/aktuelles/organisierte-kriminalitaet-der-kampf-gegen-die-clanshttps://www.bdk.de/der-bdk/positionspapiere/clankriminalitaet/2019-04-11%20BDK%20Positionspapier%20Clankriminalitaet.pdf
[7] https://www.derwesten.de/region/nrw-grossrazzia-in-hagen-es-geht-um-schaeden-in-millionenhoehe-id230206762.html
[8] https://praxistipps.focus.de/clans-in-deutschland-von-abou-chaker-ueber-miri-bis-remmo_116032
[9] http://www.cop2cop.de/2019/01/31/bundesweit-erstes-symposium-zur-clankriminalitaet/
[10] https://polizei.nrw/artikel/lagebild-clankriminalitaet
[11] https://youtu.be/kZchVtam8xw
[12] https://www.droemer-knaur.de/buch/mahmoud-al-zein-der-pate-von-berlin-9783426278376
[13] https://praxistipps.focus.de/clans-in-deutschland-von-abou-chaker-ueber-miri-bis-remmo_116032
[14] https://www.prosieben.de/tv/4-blocks
[15] https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag-raubueberfall-kadewe-100.html
[16] https://www.ksta.de/politik/koks-taxis--schiessereien--neue-einblicke-in-die-clan-szene-37436546
[17] https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/prozess-in-berlin-hat-bushido-vor-gericht-gelogen-16997921.html
[18] https://www.tagesspiegel.de/berlin/nach-beschlagnahmung-von-77-immobilien-landgericht-zieht-villa-vom-chef-des-remmo-clans-ein/25751976.html
[19] https://www.bz-berlin.de/tatort/menschen-vor-gericht/arafat-abou-chaker-kommt-ohne-maske-zum-gericht-und-durch-damit
[20] https://www.wz.de/nrw/drogenhandel-und-geldwaesche-mafia-prozess-im-duesseldorfer-hochsicherheitstrakt_aid-53981393
[21] https://www.lg-duisburg.nrw.de/behoerde/presse/zt_presseerklaerungen/Presseinformation-vom-04_12_2020.pdf