Corona-Journalismus oft zu ungenau
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Auch weniger beachtete journalistische Qualitäten wie Genauigkeit lohnen einen genauen Blick. Aber was gilt es zu beachten und welche Stolperfallen gibt es?
Bedeutsame Kriterien zur Messung journalistischer Qualität wie Richtigkeit, Vollständigkeit oder Repräsentativität wurden bei Telepolis schon 2021 bereits während der Pandemie diskutiert [1].
Doch auch von Medienjournalismus und Medienforschung weniger beachtete Qualitäten wie Genauigkeit lohnen einen eingehenden Blick.
Denn nicht jede ungenaue Aussage ist falsch. Sie verringert aber meistens das Orientierungsangebot [2] im Vergleich zu einer präzisen Aussage.
Genauigkeit wichtig zur Orientierung
Gut veranschaulichen lässt sich dies bei Mengenangaben: 900 Demonstranten sind durchaus "dutzende", deutlich treffender aber wäre die Angabe "hunderte". Ebenso ist die Übersetzung als "im dreistelligen Bereich liegend" korrekt, genauer wäre aber "fast vierstellig". Denn es muss stets darum gehen, dass bei Lesern oder Hörern ein Bild entsteht, das mit der Realität möglichst gut übereinstimmt.
In der Corona-Zeit drehten sich Diskussionen über Demo-Berichte oft um solche Zahlenangaben. Mit entsprechender Ungenauigkeit lassen sie sich tendenziell über- oder untertreiben, ohne etwas Falsches zu behaupten. Auch eine völlig korrekte Angabe kann ohne weiteren Zusatz in die Irre führen.
Als Karl Lauterbach zu Beginn des Corona-Geschehens zunehmend Beachtung in den Medien fand, wurde er häufig als Arzt vorgestellt. Denn ein besonderes politisches Mandat für Gesundheitsthemen hatte er zu diesem Zeitpunkt nicht. Er war weder reguläres noch stellvertretendes Mitglied [3] im entsprechenden Ausschuss des Bundestags.
Karl Lauterbach, der studierte Mediziner
Lauterbach spricht von sich selbst zwar stets als Arzt, und er nennt deshalb andere Ärzte Kollegen. Seitdem er im Jahr 2010 seine Approbation erhalten hat, ist die Bezeichnung formal richtig. Doch anders, als sich das die meisten unter einem Arzt vorstellen dürften, hat Lauterbach keine nennenswerten Zeiten als Arzt gearbeitet, nicht einmal als Arzt im Praktikum.
Um ihn nicht als erfahrenen Arzt erscheinen zu lassen, wie man mit diesem Zusatz langjährig praktizierende Mediziner bezeichnet, müsste er in Abgrenzung daher als "unerfahrener" Arzt vorgestellt werden. Etwas freundlicher wäre die Bezeichnung "studierter Mediziner".
Diese Formulierung [4] nutzte jedenfalls während der Pandemie der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, weil Lauterbach "Erfahrungen im Umgang mit Patientinnen und Patienten" fehlten.
Damit das Publikum Lauterbachs Fachkunde einschätzen kann ist jedenfalls ein schlichtes "Arzt" zu wenig.
Corona-Gegner: Ein Kompositum scheitert an sich selbst
Ungenau sind regelmäßig Schlagworte und Etiketten, mit denen heterogene Personengruppen oder komplexe Themen griffig gemacht werden sollen.
Das Schlagwort "Maßnahmen-Kritiker" wurde im Corona-Journalismus durchgängig nur für all jene verwendet, denen staatliche Regelungen zu weit gingen. Und das keineswegs nur in Deutschland [5].
Damit bekam der eigentlich offene Begriff "Kritiker" eine politische Richtung. Dabei war medial die Kritik der Gegenseite viel lauter, wurde nur nicht so genannt, wenn sie etwa formulierte [6]: "die Regierenden versagen vor ihrer historischen Pflicht", "die körperliche Unversehrtheit aller [...] Bürger zu garantieren".
Schon nahe am Hanebüchenen war das synonym zu "Maßnahmen-Kritikern" verwendete Schlagwort "Corona-Gegner". Der inzwischen eingestellt Blog Floskelwolke setzte es in seinem Jahresranking 2020 auf Platz 2 der Floskel des Jahres 2020 [7]. Begründung:
Corona-Gegner: Ein Kompositum scheitert an sich selbst. Natürlich sind alle gegen das Virus – gemeint werden jedoch Gegner der Pandemie-Politik. Wer Schlagworte sinnlos verkürzt oder sinnlos verkürzte Schlagworte in Umlauf bringt, wird mit Spott nicht unter fünf Jahren bestraft
Pressemitteilung vom 01.01.2021 [8]
Eine Impfung, die vor etwas schützt, muss schützen
Gängig in der Impfdebatte war denn auch die Gegenüberstellung von Impfbereitschaft [9] und Impfskepsis [10] beziehungsweise schärfer als Impfverweigerung [11] gebrandmarkt.
Zwar gab es das alles, doch aus den Zahlen ließ sich nur der Status geimpft oder ungeimpft erheben. Wer sich wegen einer Kontraindikation nicht impfen lassen kann, ist nicht impfskeptisch, vielleicht im Gegenteil sogar impfsehnsüchtig. Und wer ein Angebot nicht annimmt, ist niemals ein Verweigerer, denn verweigern kann man nur die Erfüllung einer Pflicht.
Eine Impfung, die vor etwas schützt, muss schützen. Andernfalls verringert sie vielleicht statistisch das Erkrankungsrisiko oder die Schwere der Erkrankung, was etwas ganz anderes ist als "Fremdschutz durch Impfung war gegeben [12]".
Ein Autogurt schützt im Falle eines Unfalls auch nicht immer vor dem Tod. Geht es um Risikoverminderung, stellt sich die Frage nach der Kosten-Nutzen-Abwägung unter Umständen ganz anders.
Hintertür Ungenauigkeit
Ungenauigkeit manifestiert sich auch oft in sprachlichen Versuchen, eine Hintertür offenzuhalten:
Langzeitfolgen im Sinne von Erkrankungen, die erst viele Jahre nach der Impfung auftreten, gibt es nicht, denn Impfnebenwirkungen zeigen sich normalerweise innerhalb weniger Tage, spätestens nach ein paar Wochen.
WDR-Nachrichten [13], 29. September 2021.
Ganz offensichtlich widerspricht "normalerweise" dem klaren "gibt es nicht".
Natürlich kann man sich auch umgekehrt beim Versuch, besonders genau zu sein, verheddern, etwa wenn man journalistisch darauf pocht, Impfstoffe seien keine Medikamente [14], was mindestens Haarspalterei ist.
Komasäufer selten im Koma
Ungenauigkeiten finden sich in allen Themenfeldern, in einigen tauchen sie aber kontinuierlich auf und etablieren sich entsprechend. Zum Beispiel, wenn über die von Krankenkassen erhobenen und dann per Pressemitteilung warnend vermeldeten Zahlen von Jugendlichen berichtet wird, die nach dem Konsum von Alkohol ins Krankenhaus gekommen sind.
Das gängige Schlagwort heißt hier Komasaufen [15], obwohl längst nicht alle statistische Erfassten tatsächlich im Koma aufgefunden wurden. Der zugehörige englische Begriff Binge Drinking [16] kann lapidar mit "Sauferei" übersetzt werden.
Suchtexperten sprechen hier jedoch genauer von Rausch- oder Wirkungstrinken. Nüchtern und genau genug könnte man wohl formulieren, so und so viele Jugendliche seien wegen Trunkenheit in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Denn das ist der Anlass, aufgrund dessen sie in der Statistik landen.
Wir aber wissen dabei nichts über die verschiedenen Ursachen, nichts über den weiteren medizinischen Verlauf und nichts darüber, wie die Betroffenen es selbst empfunden haben.
Ist eine Haftstrafe auf Bewährung wirklich Haft?
Der Deutsche Presserat kann da sehr streng werden. So sprach er eine öffentliche Rüge [17]aus, weil die Bild in einer Überschrift "keine Haft [18]" geschrieben hatte, obwohl der Angeklagte zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt worden war, was im Text selbst auch deutlich wurde.
Zu prüfen wäre, was die Leser unter "Haft" verstehen ‒ nur Gefängnis oder auch eine Bewährungsstrafe, die erst bei einem Verstoß gegen die Bewährungsauflagen zu einer Inhaftierung führt?
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https://www.heise.de/-10239858
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.telepolis.de/features/Was-man-am-Corona-Journalismus-kritisieren-kann-6266779.html
[2] https://www.telepolis.de/features/Corona-Journalismus-Schlechte-Argumente-schaden-der-Aufklaerung-10220962.html
[3] https://www.bundestag.de/webarchiv/abgeordnete/biografien19/L/lauterbach_karl-521508
[4] https://www.rnd.de/politik/aerztepraesident-klaus-reinhardt-zu-karl-lauterbachs-klinikreform-MOUIJ2FNOVFPFC2XFXL7CXRX6M.html
[5] https://www.srf.ch/news/schweiz/wahlen-2023/kantone-wahlen-2023/wahlen-2023-zuerich/wahlen-2023-das-sind-die-erfolgsaussichten-der-massnahmen-kritiker
[6] https://taz.de/!vn5815396/
[7] https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Floskelwolke&oldid=244310462#Preistr%C3%A4ger
[8] https://uepo.de/2021/01/01/die-floskel-des-jahres-2020-lautet-einzelfaelle/
[9] https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschlandtrend-2473.html
[10] https://www.tagesschau.de/faktenfinder/impfquote-impfskepsis-101.html
[11] https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/mrna-technologie-die-tragische-zukunft-der-impfverweigerer-a-a6cac38a-de2a-4eb7-900b-c0ee1174111f
[12] https://www.tagesschau.de/faktenfinder/coronavirus-ansteckung-101.html
[13] https://www1.wdr.de/nachrichten/themen/coronavirus/corona-impfung-faq-langzeitfolgen-100.html
[14] https://www.timo-rieg.de/2023/02/impfstoff-kein-medikament/
[15] https://www.telepolis.de/features/Was-Komasaufen-im-Gehirn-von-Teenagern-anrichtet-9994383.html
[16] https://theconversation.com/the-effects-of-binge-drinking-on-teenagers-brain-development-241637
[17] https://www.presserat.de/entscheidungen-finden-details/0511-22-2-7496.html
[18] https://www.bild.de/regional/mecklenburg-vorpommern/mecklenburg-vorpommern-news/neustrelitz-afghane-vergewaltigt-11-jaehrige-keine-haft-80752176.bild.html
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