Corona-Lage in Österreich nach Schönwetterpolitik außer Kontrolle
Zögerlichkeit, Regierungszwist und der Zwang, Partikularinteressen zu bedienen, haben die Zahl der Neuinfektionen bedrohlich ansteigen lassen. Jetzt droht ein neuer Lockdown
Wie verheerend die epidemische Situation in Österreich ist, beweist die höchst eigenwillige Krisenkommunikation vom Freitag. Bundeskanzler Alexander Schallenberg, Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein, die ÖVP-Landeshauptleute der beiden am stärksten von Covid-19 betroffenen Bundesländer Salzburg und Oberösterreich gaben nahezu gleichzeitig Pressekonferenzen. Wieder einmal eine Aktion, die als "einmalig" apostrophiert werden kann, sofern das Wort im Zusammenhang mit dem Coronavirus noch Sinn ergibt.
Eigentlich müsste allen Beteiligten klar sein: Wer die Bevölkerung informieren oder auch warnen will und sie zur Mitarbeit im Kampf gegen das Virus aufrufen möchten, sollte dies unbedingt mit klaren und gut verständlichen Aussagen tun. Wenn es hingegen die einzelnen Landeschefs und die beiden Koalitionspartner der Bundesregierung für nötig halten, jeweils zunächst ihre Sicht der Dinge kundzutun und sie dabei auch noch sich widersprechende Aussagen machen, dann wird deutlich, dass Krisenbewältigung nur eine Nebenrolle spielt.
Das vornehmliche Ziel der Politiker scheint im Moment Gesichtswahrung zu sein. Die Realität drastisch steigender Infektionszahlen, die zu einer landesweiten Sieben-Tage-Inzidenz von 775 geführt haben, die in Oberösterreich und Salzburg allerdings schon bei 1.200 liegt, ermöglichen keinen günstigen Spin mehr. Keiner der Politiker kann mehr für sich in Anspruch nehmen, vorausschauend und richtig gehandelt zu haben. Die bisherigen Schutzmaßnahmen müssen somit als gescheitert gelten.
Die angeblich längst besiegte Pandemie
Ein Politprofi in der Mediendemokratie darf dies natürlich niemals eingestehen. Deshalb wird nun unaufhörlich der "Stufenplan" beschworen. Auf den hatten sich Regierung und Länder einigen können, allerdings nur deshalb, weil dieser sehr vage war und mit ausgedehnten Zeitfenstern operierte. Der Grundgedanke des Stufenplans war gewesen, dass man die Frühindikatoren, wie Reproduktionszahlen und Sieben-Tage-Inzidenz bei den Neuinfektionen nicht mehr allein gelten ließ, sondern sie durch das Kriterium der Krankenhausauslastung ergänzte. Wenn also die Infektionen ansteigen, zugleich aber noch genügend Intensivbetten vorhanden sind, müsste nichts getan werden.
Dieses kurzsichtige Konzept ging so lange gut, wie das Wetter schön war. Als es kälter wurde, schlug der hinlänglich bekannte saisonale Umschwung zu. Die Impfdurchbrüche mehrten sich und die Infektionszahlen waren so hoch, dass sie die Krankenhäuser schnell zu füllen begannen. Eine vorhersehbare Katastrophe nahm ihren Lauf.
Der eigenen Wohlfühlpropaganda erlegen
Wie konnte es zu so einer Fehleinschätzung kommen? Hierfür gibt es mindestens vier Gründe. Erstens war man der eigenen Wohlfühlpropaganda erlegen, die jeweils im Frühjahr und im Sommer die Pandemie für beendet erklärt. Die übergeschnappte Lust am Verbreiten guter Nachrichten hatte den Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz verleitet, periodisch das Ende der Corona-Pandemie zu verkünden.
Im Sommer meinte er, die Pandemie sei vorbei und nun sei das Virus "Privatsache". Energisch widersprochen wurde ihm nicht, insgeheim hatten viele gehofft, er habe Recht. Niemand wollte mit schlechten Nachrichten die fröhliche Stimmung drücken.
"Hausverstand" und Kräutermönche angesehener als Wissenschaft
Zweitens herrscht in Teilen des Landes bis in höchste Kreise eine ausgewachsene Intellektuellenfeindlichkeit. Man hört lieber auf den eigenen "Hausverstand" und Kräutermönche als auf Wissenschaftler. Der Salzburger Landeshauptmann Wilfried Haslauer warf den Virologen pauschal vor, am liebsten alle Menschen einsperren zu wollen, bis diese verdursten und verhungern.
Der Komplexitätsforscher und Regierungsberater Peter Klimek der MedUni Wien kommentierte, man wolle auf dem Weg zur "Bananenrepublik" auch die letzten Wissenschaftsexperten außer Landes treiben. Landeshauptmann Haslauer hingegen fühlt sich missverstanden ob seiner "pointierten Aussagen" und sieht sich nun wohl als Opfer einer Kräuterhexenjagd.
Die Tourismus-Branche und ihre Bauchlandung
Drittens gehen die Partikularinteressen im Lande über alles. Österreich verfügt über Bundesländer mit nur einigen Hunderttausend Einwohnern. Hier haben die Wirtschaftstreibenden stets das Ohr der Landesfürsten. Insbesondere für die westlichen Bundesländer, die sich gerne ihrer Innovationskraft und Technologieführerschaft rühmen, ist der Ski-Tourismus die wichtigste Einnahmequelle. Deshalb wurden Instrumente wie die "Corona-Ampel", die die Infektionsgefahren einzelner Bezirke transparent machten, vom Gastgewerbeverband in Abrede gestellt, denn schließlich seien die Hotels sicher und nur das müssten die Besucher wissen.
Damit ist man nun, spätestens nachdem Deutschland Österreich zum Hochrisikogebiet erklärt hat, auf dem Bauch gelandet. Wer aus dem Urlaub in Österreich nach Deutschland zurückkehrt und nicht geimpft ist, muss jetzt in zehntägige Quarantäne. Die deutschen Urlauber, die in Teilen Tirols 80 Prozent der Besucher ausmachen, werden sich die Reise deshalb mehrmals überlegen, zumindest so lange es für ihre Kinder kein ausreichendes Impfangebot gibt.
Befindlichkeiten der geschwächten ÖVP
Der letzte Grund für das Regierungsversagen ist der ärgerlichste und unnötigste. Der durch den Druck mehrerer Anzeigen in die zweite Reihe zurückgetretene Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz, hat die Österreichische Volkspartei sehr geschwächt. Offenkundig will die ÖVP nun dem kleinen grünen Koalitionspartner keine Profilierungsmöglichkeiten mehr geben und zeigt ihrem Gesundheitsminister deshalb geflissentlich die kalte Schulter. Durch dieses ewige Hin-und-her fehlt der Pandemiebekämpfung in Österreich jedwede Langzeitperspektive.
Was passiert nun?
Eine Videokonferenz mit allen Landeshauptleuten soll die Länder auf neue, bundesweite Maßnahmen verpflichten, wie dem Lockdown für Ungeimpfte. Hierbei sieht sich aber zum Beispiel das Burgenland durch neue Einschränkungen betrogen, weil es mit einer Impflotterie und weiteren Maßnahmen immerhin auf eine Impfquote von 71 Prozent gekommen ist, während diese landesweit bei nur 65 Prozent liegt und im stramm rechtskonservativen und impfskeptischen Oberösterreich sogar nur bei 60 Prozent.
Der burgenländische Landeshaupt Hans Peter Doskozil will nun nicht, dass seine Erfolge durch die Säumigkeit der Nachbarn zunichte gemacht werden. Die Interpretation des Sozialdemokraten Doskozil von Solidarität darf hierbei als eigenwillig betrachtet werden.
Virologen halten diese Art der Kleinstaaterei ohnehin für naiv. Zwar sei es von Vorteil, wenn etwa der Wiener SPÖ-Bürgermeister Ludwig in den letzten Wochen, anders als seine Landeshauptmann-Kollegen aus den Bundesländern, zusätzliche Maßnahmen beschlossen hat. Diese Führungsstärke ist aber in der Pandemie nur ein Zeitvorteil. Durch die hohen Zahlen in den anderen Landesteilen, sei es nur eine Frage der Zeit, bis es auch in Wien zu einem drastischen Anstieg kommt.
Lockdown für Ungeimpfte
Auf einer sonntäglichen Sitzung des Nationalratsausschusses sollen nun die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Lockdown für Ungeimpfte geschaffen werden. Für diesen Fall haben allerdings schon die Polizeigewerkschaften eindeutig signalisiert, dass sie keine Chancen sehen, diesen zu kontrollieren. Wie soll die Exekutive feststellen, ob ein ungeimpfter Passant auf dem Weg sei, der Großmutter Brennholz zu liefern?
Unklar ist ebenso, ob der grüne Feldherr Mückstein nicht schon längst Garnisonen verschiebt, die es nicht gibt. Die verordnete "2G Plus-Tests"-Regel, nach der auch Geimpfte und Genesene PCR-Tests durchführen sollen, könnte die Testkapazitäten des Landes an seine Grenzen führen. In manchen Regionen dauerte die Auswertung des Tests bis zu 50 Stunden, was bei einem nur 48 Stunden gültigen Testergebnis natürlich absurd ist. Es mögen teilweise Hackerangriffe auf die auswertenden Institute an der zu langsamen Auswertung schuld gewesen sein, die jetzt nötige gigantische Ausweitung der Testkapazitäten bringt die beteiligten Organisationen allerdings sicher ans Limit.
Darüber hinaus zerbröselt an dieser Stelle die Erzählung der Regierung. Man hatte versucht, Menschen mittels eines Freiheitsversprechens zur Impfung zu bewegen. Wer geimpft ist, für den sei die Pandemie vorbei, der müsse keine weiteren Einschränkungen fürchten.
Wenn die Geimpften nun aber doch jeden zweiten Morgen früher aufstehen müssen, um einen Gurgeltest zu machen, dann löst sich dieses Argument in Luft auf. Mal ganz abgesehen davon, dass die zweifach Geimpften jetzt zum dritten Stich gerufen werden, weil die Immunität schneller als erwartet nachlässt.
Lange Zeit hatte auch der kleine grüne Koalitionspartner betont die Bürgerrechte punktgenau zu achten und niemanden zur Impfung zwingen zu wollen. Jetzt wartet Gesundheitsminister Mückstein mit einer Impfpflicht für medizinisches Personal auf. Die mag sachlich gerechtfertigt sein, kommt aber viel zu spät.
Womöglich bald auch für Geimpfte
Die Belegschaften in den Krankenhäusern sind nach 21 Monaten Pandemie vollkommen ausgelaugt. In Kundgebungen der letzten Woche machte das Personal aus der eigenen Überlastung keinen Hehl. Eindrucksvoll stellten Mitarbeiter ihre Situation dar, dass sie völlig überarbeitet auch in der wenigen Freizeit nur mehr über die logistischen Probleme des Krankenhauses nachdenken würden, um möglichst viele Menschen zu retten. Und nun will Mückstein de facto das Krankenhauspersonal reduzieren, weil die ungeimpften Mitarbeiter freigestellt werden müssen?
Die Widersprüche sind himmelschreiend und das Gebaren der Regierung empörend, da sie offenkundig nur versucht, das eigene Fehlverhalten zu übertünchen, indem sie so tut, als verfolge sie einen Plan, den es schlicht nicht mehr gibt. Uneinigkeit, Inkompetenz und blanke Leugnung der Gefahren haben die Situation immer schlimmer gemacht. Jetzt steht das Land vermutlich vor einem neuen Lockdown auch für Geimpfte. Oder aber man entscheidet sich dazu, so wie beispielsweise Großbritannien, eine deutlich höhere Zahl an Todesfällen in Kauf zu nehmen. Ein guter Ausgang ist kaum mehr in Sicht.