Corona-Pandemie: Droht eine zweite Grenfell-Katastrophe in Studentenwohnheimen?

Marsden House und Leeds Student Village in Leeds. Bild: Mark Stevenson/CC BY-SA-2.0

Diese Befürchtung haben zumindest die britischen Gewerkschaften UCU und FBU. Erstere organisiert das wissenschaftliche Personal an britischen Universitäten, letztere ist für die Feuerwehrleute auf der Insel zuständig

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Am 30.September gingen die Gewerkschaften mit einer gemeinsamen Stellungnahme an die Öffentlichkeit, um auf die zunehmend untragbare Situation in britischen Studentenwohnheimen hinzuweisen. Seit Ende September ist eine wachsende Zahl von Studierenden in einer Reihe von Städten in ihren Wohnheimen aufgrund von Quarantänemaßnahmen eingesperrt. Vor den Türen stehen private Securities, welche das Verlassen der Gebäude verhindern.

Vor allem Erstsemesterstudierende verbringen in Großbritannien in der Regel das erste Jahr an ihrer Uni in einem Wohnheim. Für viele ist das quasi ein "Coming of Age" Erlebnis - das erste Mal ohne Eltern in einer anderen Stadt, gemeinsam mit dutzenden Gleichaltrigen auf einem Flur, kleinen Zimmern, mit Gemeinschaftsküche und einer eher überschaubaren Zahl von sanitären Einrichtungen und Duschen. Die Gemeinschaftsküchen werden traditionell zur Partyzone, gemeinsam mit den anderen Mitbewohnern erkundet man die neue Stadt.

Dieses Jahr ist alles anders. Coronabedingt finden Studiengänge zunehmend Online statt. Es gibt eigentlich gar keinen Grund vor Ort am Campusgelände zu sein. Doch die britischen Universitäten bestanden auf Anwesenheitspflicht. Die Zusammenpferchung von Zehntausenden jungen Menschen auf eher engem Raum ging nur wenige Tage gut, seitdem häufen sich die Infektionsfälle. Insgesamt 5000 Coronafälle unter Studierenden und Lehrenden meldete die Tageszeitung "Guardian" am 6. Oktober. Deshalb werden immer mehr Wohnheime unter Quarantäne gestellt. Betroffen sind unter anderem Glasgow und Manchester.

Mit der Quarantäne gingen die Probleme erst richtig los. Weil die Bewohner ihre Wohnheime nicht mehr zum Einkaufen verlassen dürfen, kommt es teilweise zu Engpässen bei der Nahrungsmittelversorgung. Besorgte Eltern, die mit Care-Paketen für ihre Zöglinge vorbeischauen, werden von Securities abgewiesen. Als die Bewohner eines zur Manchester Metropolitan University gehörenden Wohnheims Protestplakate aufhängten, reagierte die Universitätsleitung mit Zensur und drohte mit Exmatrikulation. In Glasgow sind die Dinge bereits weiter eskaliert, dort wird unter den Bewohnern eines Wohnheimes für einen Mietstreik mobilisiert.

Die Feuerwehrgewerkschaft interessiert sich für diese Vorgänge spätestens seit dem 28. September, als in sozialen Medien Fotos aus einem Wohnheim in Leeds zu zirkulieren begannen. Diese zeigten einen - wahrscheinlich aus Quarantänegründen - mit Kabelbindern versperrten Notausgang. Die lokale Feuerwehr musste extra anreisen, um ihn wieder zu entsperren.

In ihrem gemeinsam Schreiben verweisen die Gewerkschaften auf ein Feuer, welches im Jahr 2019 in einem Wohnheim in Bolton ausgebrochen war. Wären die Notausgänge dort so versperrt gewesen wie in Leeds, hätte es mit Sicherheit Tote unter den 200 evakuierten Studierenden gegeben. An dieser Stelle verweisen die Gewerkschaften auf den Brand im Londoner Grenfell Tower im Jahr 2017. Auch hier hätten unzureichende Feuerschutzmaßnahmen viele Todesopfer gefordert. "Wir dürfen nicht zulassen, dass ein solches Desaster in Studierendenwohnheimen geschieht. Und wir dürfen nicht zulassen, dass gewinnorientierte Unternehmen sich noch einmal so eklatant über das Gemeinwohl hinwegsetzen", so eine Schlussfolgerung des Schreibens.

Bildungswesen ist kommerzialisiert, mit Wohnheimen wird Reibach gemacht

Tatsächlich ist das britische Bildungswesen inzwischen ausschließlich profitorientiert, wie so vieles auf der Insel. In den 1990ern wurden von der New Labour-Regierung unter Tony Blair Studiengebühren eingeführt. Anfang der 2000er Jahre kostete ein Studienjahr rund 1.500 Pfund. 2010 legte die damals neu gewählte konservativ-liberaldemokratische Koalitionsregierung nach und ermöglichte den Universitäten eine drastische Erhöhung von Studiengebühren und kommerziellen Aktivitäten. Heute zahlt man für das akademische Bildungsprivileg rund 9.000 Pfund jährlich. Dagegen gab es zu Beginn dieses Jahrzehnts eine massive Studierendenbewegung an deren Höhepunkt die militante Besetzung der konservativen Parteizentrale in London stand.

Zwar legte die damalige Bewegung den Grundstein für eine nachhaltige Politisierung, zu deren Ergebnissen die gescheiterten Wahlkämpfe des ehemaligen Labour-Parteichefs Jeremy Corbyn, Streiks im Fast Food-Sektor und die Entstehung neuer Mietergewerkschaften zählen, der fortschreitenden Kommerzialisierung der Universitätscampusse konnte sie aber nichts entgegensetzen.

Ein zentrales Element dieser Kommerzialisierung war und ist der Bau von Wohnheimen. Er ist eine wichtige Säule der britischen Bauwirtschaft und auch der Finanzierung des Universitätsbetriebs geworden. Ganze Innenstädte sind von den Wohnheimen finanziell abhängig. Die Universitäten verdienen Millionenbeträge über die Vermietung, und börsennotierte Betreibergesellschaften machen ebenfalls einen riesigen Reibach.

Konkrete Zahlen liefert der "UK Student Accomodation Report" aus dem Dezember 2019. 2019 sei "ein weiteres starkes Jahr für den Studierendenwohnungsmarkt" gewesen. Die Nachfrage sei immer noch größer als das Wachstum. 32.000 neue Betten seien allein in diesem Jahr entstanden. 87% aller neuen Betten würden durch "private Dienstleister" bereitgestellt. 114.000 neue Studierendenbetten seien "in der Pipeline". Bis Oktober 2019 seien Deals im Wert von 2.5 Milliarden Pfund abgeschlossen worden, über weitere 2 Milliarden Pfund werde noch verhandelt. Für das Jahr 2020 rechnete die Branche mit der Bereitstellung von 25.000 weiteren Betten. Diese Prognose wurde noch vor Beginn der Corona-Pandemie erstellt.

Insgesamt leben 600.000 britische Studierende in privat betriebenen Wohnheimen. Das ist ein Drittel der gesamten studentischen Bevölkerung Großbritanniens. Der britische Studierendenmarkt wird dabei unter multinationalen Großkonzernen aufgeteilt. Zu den großen hier aktiven Namen gehören unter anderem Goldman Sachs und Blackstone. Jetzt kommt dieses Geschäftsmodell durch Corona unter Druck. Für die unter Quarantäne gestellten Studierenden ist das wohl nur ein schwacher Trost.