Corona-Pandemie: von Viren und Verschwörungstheorien

Seite 2: "Gates kapert Deutschland!"

Die mit Sicherheit prominentesten Corona-Verschwörungstheorien sind im Jahr 2020 jene, in denen Bill Gates in den Mittelpunkt eines globalen Komplotts gerückt wird. Dem Multimilliardär und Microsoft-Gründer wird unterstellt, er wolle mit seiner philanthropischen Stiftungsarbeit – Gates ist zusammen mit seiner Frau der Lenker der weltweit vermögensstärksten Stiftung, der Bill & Melinda Gates Foundation – vor allem Macht ausüben und geheime Pläne umsetzen.

So sei Gates über diverse von der Stiftung geförderte Projekte dabei, implantierbare Mikrochips zur Kontrolle der Weltbevölkerung zu entwickeln oder diese im Rahmen "eugenischer Programme" zu reduzieren. Am besten kommt der Multimilliardär noch in jenen Deutungen weg, nach denen es ihm nur um Geld- oder Machtzuwachs gehe. In Anlehnung an die Kampagne "Gib AIDS keine Chance" der 1980er-Jahre verbreitete sich in Online-Medien und auf T-Shirts oder Transparenten bei Hygiene-Protesten das Meme "GIB GATES KEINE CHANCE".

Ein Video in dem bekannten deutschsprachigen Internet-Medium KenFM6 nimmt Bill Gates ebenfalls ins Visier. In dem 30-minütigen Beitrag Gates kapert Deutschland!, der am 4. Mai 2020 anlässlich der EU-Impfstoff-Geberkonferenz auf dem - mittlerweile auf YouTube gelöschten - Medienkanal von KenFM hochgeladen wurde, kritisiert der Journalist und Aktivist Ken Jebsen die WHO und ihre Beziehungen zur Bill & Melinda Gates Foundation. Die Weltgesundheitsorganisation werde "von Bill & Melinda Gates kontrolliert", so eine Behauptung in dem Beschreibungstext. Weiter heißt es bei KenFM:

Gates setzt auf Impfstoffe und zieht dazu alle Register. Er kauft sich überall ein. Die Impfallianz GAVI wird zu 75 Prozent von ihm finanziert. Das RKI bekommt Geld von Gates. Auch Drosten von der Charité. Die Hopkins-Universität. Der Spiegel, Die Zeit. Und auch die meisten Firmen, die an Covid-19-Impfstoffen forschen, werden von Gates unterstützt.

Das Video wurde innerhalb von wenigen Tagen mehrere Millionen Mal aufgerufen und auch wegen dieser großen Sichtbarkeit von diversen Leit- und Alternativmedien rezipiert und Faktenchecks unterzogen. Dies bescherte dem Video viele neue Klicks und es wurde zu einem der erfolgreichsten Videos von KenFM.

Dass ausgerechnet Bill Gates im Fokus weitverbreiteter Verschwörungstheorien steht, hängt sicher auch mit der tatsächlichen Macht (ökonomisch, sozial, kulturell) der Gates-Foundation zusammen. Im Bereich der Gesundheitspolitik und überall da, wo es um die Produktion und Verteilung von Impfstoffen geht, ist die Stiftung weltweit führend - aber nicht nur dort.

Der Journalist Paul Schreyer macht darauf aufmerksam, dass die Gates-Foundation, gemeinsam mit anderen Stiftungen und Organisationen, massiv in den Bereich der Biosicherheit investiert und dafür weltweit Lobbying betreibt.

Biosicherheit ist ein Sammelbegriff für verschiedene Maßnahmen zur Eindämmung und zur Kontrolle infektiöser Mikroorganismen und gefährlicher biologischer Materialien. 2017 warnte Gates auf der Münchner Sicherheitskonferenz: "Eine hochgradig tödliche globale Pandemie wird noch zu unseren Lebzeiten auftreten." Und weiter: "Wir müssen uns auf Epidemien vorbereiten, wie sich das Militär auf den Krieg vorbereitet."7

Kurz zuvor hatte Gates auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos vor den Gefahren bio-terroristischer Angriffe gewarnt und gemahnt, die Welt müsse sich besser darauf vorbereiten.8 Schreyer zufolge handelt es sich beim Wort Biosicherheit um einen "Propagandabegriff", der unzulässigerweise unterstelle, "dass alle gesellschaftlichen Gruppen" im Katastrophen- oder Krisenfall "ein gemeinsames Interesse hätten - nämlich Sicherheit."

Dabei bedeuten Krisen wie die aktuelle Corona-Pandemie "für verschiedene Gruppen Unterschiedliches": für die Bevölkerung Bedrohung oder Existenznöte; für Regierungen Profilierungsmöglichkeiten und/oder Handlungsdruck; für die pharmazeutische Industrie Investitions- und Profitmöglichkeiten; für das Militär die Erforschung einer "potenziell nutzbaren Waffe".9

Es dreht sich in diesem Sinne auch bei vielen Corona-Verschwörungstheorien letztlich um eine für Verschwörungstheorien im Allgemeinen typische Frage: Wer profitiert auf welche Weise von dieser Krise - oder kurz: Cui bono?

Die Konjunktur der Faktenchecker und die "Infodemie"

Das KenFM-Video "Gates kapert Deutschland!" ging nicht nur in den sozialen Medien viral, es wurde auch diversen Faktenchecks unterzogen. Dabei zeigte sich, dass einige Aussagen von Ken Jebsen über Bill Gates und seine Stiftung übertrieben, undifferenziert oder schlichtweg falsch waren, etwa die Behauptung, Bill Gates kontrolliere die WHO. So stellt der WR3-Faktencheck fest:

Bill Gates hat also sicher ein Interesse an der Forschung und dem Vorantreiben der Entwicklung von Impfstoffen, er ist aber mit seiner Stiftung und rund 10 Prozent der Anteile an der Finanzierung der WHO sicher nicht derjenige, der die Maßnahmen für die Welt festlegt, was auch die unterschiedlichen Beschränkungen und Vorgehensweisen der Länder in der Corona-Krise belegen.

Insgesamt widerlegt der SWR-Faktencheck fünf Behauptungen von KenFM zur Corona-Pandemie und geht anschließend auf den Hintergrund von Ken Jebsen ein, um ihn als unglaubwürdige, zweifelhafte Person darzustellen.

Derartige Faktenchecks verweisen oft auf andere Faktenchecks, es entsteht eine Art zirkuläre Verfestigung des Anspruchs, "Wahrheit" gegen "Unwahrheit" zu setzen. Allein schon der Begriff "Faktencheck" suggeriert, dass hier fragwürdige Behauptungen von einer kompetenten Instanz auf deren objektiven Wahrheitsgehalt geprüft werden.

Ob dies immer der Realität entspricht, sei dahingestellt. Unklar bleibt in vielen Fällen, was die "Faktenchecker" überhaupt dazu qualifiziert, bestimmte Aussagen zu bewerten und als "Wächter der Wahrheit" aufzutreten.

Dies soll kein genereller Einwand gegen Faktenchecks sein. Doch auch Faktenchecks müssen es sich gefallen lassen, dass sie und die von ihnen präsentierten "Fakten" einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. In vielen Fällen tragen Faktenchecks Wesentliches zur Widerlegung von Falschinformationen oder auch Verschwörungstheorien bei. Beispielhaft sei hier ein Correctiv-Faktencheck über die vermeintliche Änderung der

WHO-Pandemiekriterien genannt, der einerseits aufwendig Quellen recherchiert und gleichzeitig sachlich argumentiert. Es wird gezeigt, weshalb die in diversen Online-Medien zirkulierende Behauptung, nach WHO-Kriterien von vor 2009 würde die Corona-Pandemie von 2020 keine echte Pandemie sein, "größtenteils falsch" ist.10

Deutlich verkannt wird durch die Technik des Faktenchecks jedoch die appellative Funktion von Verschwörungstheorien: Sie sind oftmals Ausdruck von Sorgen oder Misstrauen, wollen auf mögliche Probleme, Intransparenz, Widersprüche, Zusammenhänge oder Gefahren aufmerksam machen. Das heißt, sie antizipieren mögliche Entwicklungen.11 Wenn dabei Behauptungen oder Vermutungen aufgestellt werden, die sich letztlich als falsch erweisen, delegitimiert dies nicht zwangsläufig die dahinterliegende Grundhaltung oder Intention.

Die Corona-Pandemie hat einer ganzen Reihe von Faktencheck-Seiten neue Aufgaben und Ressourcen gebracht und viele neue Portale geschaffen. Mit der Konjunktur von Verschwörungstheorien geht insofern auch eine Konjunktur von Faktenchecks einher, die sich in den letzten Jahren fast schon zu einer eigenen journalistischen Sparte entwickelt haben.

Die Geschichte des Kampfes gegen (vermeintliche) Desinformation und Verschwörungstheorien in der Pandemie reicht bis in die Zeit vor Covid-19 zurück. Bereits im Pandemie-Planspiel "Event 201", das im Oktober 2019 an der Johns-Hopkins-Universität den Ausbruch einer globalen Corona-Pandemie simulierte und an dem hochrangige Vertreter aus Wirtschaft, Politik, Medien sowie dem PR- und Geheimdienst-Bereich teilnahmen, wird vor der "Ausbreitung von Desinformation" im Rahmen einer Pandemie gewarnt.

Die verschiedenen Experten sind sich darin einig, dass die "Kontrolle und Reduzierung von Information" das richtige Mittel sei, um mit einer pandemischen Krisensituation angemessen umgehen zu können. Dafür wird unter anderem eine später von der WHO adaptierte "Flutung-Strategie" vorgeschlagen, in welcher die etablierten Massenmedien global koordiniert (und zentral reguliert) mit "Fakten" versorgt werden sollten.

In der antizipierten Krise sei durch mediale Berichterstattung unterstütztes Vertrauen in Pharma-Unternehmen und Regierungen besonders wichtig, betont die anwesende Vizepräsidentin von NBCUniversal, da ansonsten behauptet werden könnte, die Vereinten Nationen oder die Pharmaindustrie hätten die Krise selbst inszeniert.

Mehrfach wird in der simulierten Krisen-Diskussion auch konkret vor der Verbreitung von Verschwörungstheorien gewarnt. Gesponsert wurde die "Event-201"-Übung unter anderem vom Weltwirtschaftsforum und der Bill & Melinda Gates Foundation. Die auffälligen Ähnlichkeiten zwischen der simulierten Krise im Planspiel und der echten Pandemie sind nach einem Faktencheck von USA Today reiner Zufall.

Es mag wenig verwundern, dass später im Rahmen der echten Corona-Pandemie sowohl Event 201 und ähnliche Vorgänger-Simulationen als auch die daran beteiligten Akteure12 samt der WHO Gegenstand von Verschwörungstheorien wurden. Wenige Monate nach der Simulation, am 8. Februar 2020, gab WHO-Generalsekretär Tedros Adhanom ein Statement ab, in dem er zum Kampf gegen die "Infodemie", d. h. die digitale Epidemie von Falschinformationen und Verschwörungstheorien, aufruft:

Bei der WHO bekämpfen wir nicht nur das Virus: Wir bekämpfen auch die Trolle und Verschwörungstheoretiker, die Falschinformationen verbreiten und die Reaktionen auf den Ausbruch unterminieren.

Adhanom erklärt, dass die WHO, gemeinsam mit Partnern aus dem Bereich der großen digitalen Unternehmen (Facebook, Google, Tencent, Baidu, Twitter, TikTok, Weibo, Pinterest und anderen), eine Offensive gegenüber der "Flut der Falschinformation" plane. Diese umfasse das Herausfiltern falscher Informationen sowie die Kooperation mit Influencern, die unter anderem auf Instagram und YouTube ihre Follower mit faktenbasierten Informationen versorgen sollten.

Ein eigens dafür eingerichtetes "Infodemie-Team" ist seither mit der Aufgabe betraut, ein globales Informationsmanagement zu betreiben. Im April 2020 greift auch der UN-Generalsekretär auf diese Agenda zurück und ruft die globale Zivilgesellschaft zu einem "Kampf gegen wilde Verschwörungstheorien" auf, die "das Internet infizieren."