Corona-Politik: Kinder mal wieder "vergessen"?
In Berlin sollten Minderjährige systematisch ausgesperrt werden. Nun wurde die Regel gekippt und die Opposition spottet. Es war nicht der erste Unfall dieser Art
Der Berliner Senat hat seine am Dienstag beschlossene harte G-2-Optionsregeln nach nur einem Tag wieder gekippt. In der Gastronomie und bei Veranstaltung können die Verantwortlichen demnach zwar auch in der Bundeshauptstadt weiter entscheiden, ob sie die bisherigen Zugangsregeln beibehalten oder fortan nur noch Geimpften und Genesenen den Zugang gewähren.
Kinder bis zwölf Jahre sind von der Regel nun aber ausgenommen, weil für sie gar keine Möglichkeit zur Impfung besteht. Zuvor hatte es massive Kritik an der ursprünglichen Regel der rot-rot-grünen Koalition gegeben.
Noch am Dienstag hatte die SPD-Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci auf eine harte G-2-Regelung bestanden. Kinder von den Zugangsbeschränkungen auszunehmen, würde keinen Sinn ergeben, sagte die Sozialdemokratin – offenbar ohne Rücksprache mit ihren Genossinnen und Genossen sowie Koalitionspartnern.
Keine 24 Stunden nach seiner Bekanntgabe wurde der Beschluss daher wieder gekippt: Es war die wohl kurzlebigste Verordnung der scheidenden Berliner Regierungskoalition vor der Abgeordnetenhauswahl, die am 26. September parallel zur Bundestagswahl stattfindet.
Der Berliner Senat und vor allem Kalayci hatten mit der ursprünglichen Regelung einen Sonderweg eingeschlagen. Denn auch andere Bundesländer wie das benachbarte Brandenburg, Hamburg und Rheinland-Pfalz wollen Gastronomen und Veranstaltern anheimstellen, nur noch Geimpfte und Genesene einzulassen.
Von politischer Seite geht es dabei auch darum, den Druck auf Bürgerinnen und Bürger zu erhöhen, die bislang ohne anerkannte medizinische Begründung eine Immunisierung gegen den neuartigen Corona-Virus Sars-CoV-2 ablehnen.
Allerdings wollte Berlins Senat zunächst keinerlei Ausnahmen zulassen. Gesundheitssenatorin Kalayci verwies am Vortag darauf, dass weiterhin auch 3G möglich sei und eine und 2-G-Regel mit Ausnahmen faktisch auf 3G hinauslaufe. Ausnahme gelten nun aber weiterhin auch für Personen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können, schwangere Frauen etwa.
Rückrudern und Schadensbegrenzung
Angesichts der massiven Kritik - auch aus den eigenen Reihen - versucht man sich bei den Berliner Regierungsparteien nun in Schadensbegrenzung. Medien sowie Bürgerinnen und Bürger hatten zuvor mit Unverständnis darauf reagiert, dass sich politische Mandatsträger aus SPD, Grünen und Linken gegen einen Beschluss wenden, den sie noch am Vortag selbst mitgetragen haben.
Die Nachrichtenagentur dpa berichtete den Ablauf unter Berufung auf einen "hochrangigen Vertreter der Koalition" wie folgt: Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) habe die geplante Regelung den Senatsmitgliedern gegenüber zusammenfassend dargestellt, ohne auf Details einzugehen oder das Thema der Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen besonders hervorzuheben.
Die übrigen Mitglieder hätten die vorgestellte Berliner Variante der G-2-Regeln dann so mitgetragen. Erst nach teils heftigen Reaktionen aus den eigenen Parteien, aber auch von Verbänden und Medien sei man zurückgerudert. Es sei klar gewesen, zitiert die dpa den namentlich nicht genannten Senatsvertreter, dass man mit der "harten" G-2-Regel verklagt worden wäre.
Kurz vor der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus wird der Fauxpas nun zum Politikum. Die Spitzenkandidatin der Grünen, Bettina Jarasch griff Kalayci an, die sich offenbar "verrannt" habe. Die Grünen-Wirtschaftssenatorin Ramona Pop übte auf Twitter Selbstkritik und SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey forderte eine Korrektur, als ob sie an der Vortagsentscheidung nicht beteiligt gewesen sei. Seltsam unbeteiligt wirkte auch der Tweet von Kalayci selbst.
Der Spitzenkandidat und Landeschef der Berliner CDU, Kai Wegner, nutze das Thema umgehend für seine Wahlkampagne. Der rot-rot-grüne Senat brauche offenbar eine "1D2H-Regel", schrieb er: "Erst-Denken-Dann-Handeln". Wegner weiter: "Die Schaffung eines 2-G-Optionsmodells ist grundsätzlich wünschenswert, um das Infektionsgeschehen weiter einzudämmen".
Die AfD kritisierte eine "vertane Chance" und "komplizierte Regelungen"; die FDP sah erneut eine "Impfflicht durch die Hintertür".
Ähnlicher Fall im Juni in Mecklenburg-Vorpommern
Wie genau die Geschehnisse in Berlin zu bewerten sind, wird wohl noch aufgearbeitet werden Schon jetzt aber decken sich die etablierten Parteien trotz des Wahlkampfesgegenseitig. So sagte die Grünen-Spitzenkandidatin Jarasch gegenüber dem Inforadio des Rundfunks Berlin-Brandenburg, man habe am Dienstag die Kinder und Jugendlichen offenbar schlichtweg "vergessen".
Dieser Darstellung stehen aber die deutlichen Äußerungen von Gesundheitssenatorin Kalayci entgegen, die eine Ausnahme für Minderjährige, die nicht geimpft werden können, ausdrücklich abgelehnt hat.
Wahrscheinlicher ist also, dass den Verantwortlichen die politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen ihrer Beschlüsse gar nicht bewusst waren. Der Berliner Fall macht daher zwei grundlegende Probleme der Corona-Politik deutlich: Erstens die Abkopplung politischer Entscheidungsträger von der Lebensrealität der Menschen im Land. Und zweitens die Bereitschaft, das eigene Unvermögen bei der Einhegung des Virus zulasten derjenigen zu kompensieren, die sich (vermeintlich) am wenigsten wehren können.
Das ist nicht neu. Im Juni erst hatte die SPD-Regierung in Mecklenburg-Vorpommern für eine ganz ähnliche Debatte gesorgt. Sie hatte eine Corona-Verordnung erlassen, die nur Geimpften und Genesenen die Einreise in das Bundesland erlaubte. Die vor allem bei Familien beliebten Ostseestränden wären damit für Kinder tabu gewesen.
Erst nach Protesten hatte die Landesregierung von Ministerpräsidentin Manuela Schwesig die Regelung korrigiert und alles mit einem Missverständnis erklärt. Man sei, so hieß es in der Landeshauptstadt Schwerin, davon ausgegangen, dass Kinder von den Einreiseverboten nicht erfasst seien, weil sie ja nicht geimpft werden können. Erst auf zahlreiche kritische Nachfragen und Nachbesserungsforderungen unter anderem des Oberverwaltungsgerichts Greifswald wurde die Regelung nachgearbeitet.
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