Corona-Todesfälle: Die Mär von den zehn verlorenen Lebensjahren
- Corona-Todesfälle: Die Mär von den zehn verlorenen Lebensjahren
- Das Gegenargument der fehlenden Übersterblichkeit
- Mögliche Erklärungen der fehlenden Übersterblichkeit
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Wie eine Studie des RKI die Öffentlichkeit in die Irre führt
Um die bevölkerungsbezogenen Auswirkungen von Erkrankungen zu beurteilen, ist neben der Betrachtung der Anzahl der an einer Erkrankung verstorbenen Personen eine Betrachtung der durch einen erkrankungsbedingten Tod verloren gegangenen Lebensjahre wichtig; wie viele Jahre eine an einer Erkrankung verstorbene Person also ohne die Erkrankung noch zu leben gehabt hätte.
Die vom RKI geschätzte Zahl an verlorenen Lebensjahren
Vom Robert Koch-Institut wurde diesbezüglich kürzlich eine Studie im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht, die zu errechnen versuchte, wie viele Jahre eine Person noch zu leben gehabt hätte, welche laut diagnostizierter Todesursache an Covid-19 verstorben ist. Im Ergebnisteil der Studie heißt es:
Insgesamt gingen im Jahr 2020 durch Covid-19-Todesfälle in Deutschland 303 608 Lebensjahre verloren. Auf Frauen entfielen 121 114 (39,9 Prozent) und auf Männer 182 494 YLL [Years Life Lost] (60,1 Prozent). Durchschnittlich verlor jede verstorbene Person 9,6 Lebensjahre.
Dieses Ergebnis wurde von zahlreichen Medien unkritisch aufgegriffen. So titelte die Tageszeitung Die Welt:
Corona-Opfer verloren laut RKI-Analyse im Schnitt 9,6 Jahre Lebenszeit.
In der Süddeutschen Zeitung findet sich folgender Titel. (Der Unterschied in der genannten Zahl an insgesamt verlorenen Lebensjahren zum obigen RKI-Zitat beruht darauf, dass von der Süddeutschen Zeitung noch die verlorenen Lebensjahre aufgrund von gesundheitlichen Einschränkungen von zwar an Covid-19 Erkrankten, aber nicht daran Verstorbenen dazugezählt wurden, welche vom RKI auf 2.033 Jahre geschätzt wurden):
305.641 verlorene Lebensjahre durch Covid-19: Das RKI hat erstmals die eingebüßte Lebenszeit durch das Coronavirus berechnet. Rund zehn Jahre hätte jeder Verstorbene noch zu leben gehabt.
Besonders eindrücklich war die Darstellung im Nachrichtenportal n-tv.
Methodische Probleme der RKI-Schätzung
Auf den ersten Blick sind das sehr besorgniserregende Zahlen, welche die Angst vor dem Coronavirus schüren. Sobald man aber anfängt den Fachartikel des RKI genauer zu lesen, stellen sich fundamentale Fragen. Um die durchschnittliche Anzahl an Jahren zu bestimmen, welche eine laut Diagnose an Covid-19 verstorbene Person noch zu leben gehabt hätte, wurde vom RKI einfach nur die jeweils statistische Restlebenserwartung einer verstorbenen Person bestimmt, ohne die bei Covid-19-Verstorbenen vorhandenen Vorerkrankungen einzuberechnen. Im RKI-Artikel heißt es konkret:
Andere Krankheitslaststudien zu Covid-19 adjustieren bei Berechnung der YLL [Years Life Lost] die Restlebenserwartung für bestehende Vorerkrankungen. Demgegenüber wurde hier, angelehnt an die "Global Burden of Disease"-Studie, für alle Verstorbenen eine krankheitsunabhängige altersspezifische Restlebenserwartung angelegt. Dadurch wird die mittlere erreichbare Lebenserwartung zum Maßstab für den Verlust an Lebenszeit.
Ein solches Vorgehen ist aber in Bezug auf verstorbene Personen mit der diagnostizierten Todesursache Covid-19 fragwürdig, da der allergrößte Teil dieser Personen an Vorerkrankungen litt. So ergab eine aktuelle Untersuchung von 618 Covid-19-Todesfällen des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, dass nur ein Prozent der Verstorbenen keine Vorerkrankungen hatte, die meisten wiesen mehrere Vorerkrankungen auf. Bestätigt wird das in einem Faktencheck der Mainpost, dort heißt es:
Nach Angaben des RKI litt der allergrößte Teil der Corona-Toten in Deutschland an einer oder mehreren Vorerkrankungen, fast die Hälfte war in Alten- oder Pflegeheimen untergebracht.
Nach Medienberichten könnten sogar bis zu zwei Drittel der mit der Diagnose Covid-19 verstorbenen Personen auf Alten- und Pflegeheime entfallen (Pressemitteilung des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin vom 10.12.2020). Offizielle Zahlen gibt es beispielsweise aus Bayern. Laut einer Anfrage der Süddeutschen Zeitung an das Bayerische Gesundheitsministerium war in Bayern seit Beginn der Pandemie fast jeder zweite der mit der Diagnose Covid-19 Verstorbenen ein Bewohner oder eine Bewohnerin einer stationären Pflegeeinrichtung (48,7 Prozent). Hier ist die Anmerkung wichtig, dass hier beispielsweise Personen, welche zu Hause gepflegt wurden, noch gar nicht mitgezählt sind.
Ausgehend von solchen Zahlen kann man grob überschlagen, inwiefern es auch nur annähernd realistisch ist, dass durchschnittlich jede der mit der Diagnose Covid-19 verstorbenen Personen tatsächlich noch 9,6 Lebensjahre zu leben gehabt hätte. Dazu kann man zunächst die Lebenserwartung von in Pflegeheimen wohnenden Personen bestimmen. Laut Angabe des Biva-Pflegeschutzbundes beträgt die mittlere Verweildauer in Pflegeheimen etwa eineinhalb bis zwei Jahre:
Die durchschnittliche Verweildauer im Pflegeheim liegt je nach Statistik zwischen anderthalb und zwei Jahren.
Demnach hat eine neu in einer Pflegeeinrichtung aufgenommene Person eine durchschnittliche Lebenserwartung von in etwa eineinhalb bis zwei Jahren. Da Corona sowohl Personen betrifft, welche erst vor Kurzem aufgenommen wurden, als auch Personen, welche schon länger im Pflegeheim sind, kann man damit grob schätzen, dass die vom Coronavirus betroffenen Menschen in Pflegeheimen noch in etwa eine durchschnittliche Lebenserwartung von einem Jahr hatten (in etwa die Hälfte der lebenserwartung bei Neuaufnahme). Nimmt man die bayerischen Zahlen als Grundlage, so hätte demnach bereits in etwa die Hälfte der mit der Diagnose Covid-19 verstorbenen Personen nicht noch 9,6 Jahre zu leben gehabt, sondern in Wirklichkeit "nur" noch in etwa ein Jahr.
Das heißt wiederum: Um auf den vom RKI für die Gesamtgruppe der mit der Diagnose Covid-19 verstorbenen Personen geschätzten Wert von 9,6 verlorenen Lebensjahren zu kommen, müssten demnach die 50 Prozent der Personen, die außerhalb der Pflegeheime verstorben sind, eine durchschnittliche (!) Lebenserwartung von 18,2 Jahren gehabt haben. Das ist aber höchst unwahrscheinlich. Die folgende Abbildung zeigt die Altersverteilung der mit der Diagnose "Covid-19" verstorbenen Personen (Quelle: Statista):
Gegeben, dass es sich demnach auch bei den außerhalb der Pflegeheime mit der Diagnose Covid-19 verstorbenen Personen zu großen Teilen um Hochbetagte mit Vorerkrankungen handelte, erscheint eine durchschnittliche (!) Restlebenserwartung von 18,2 Jahren äußerst unrealistisch.
Wichtig ist anzumerken, dass es sich hier nur um einen groben Überschlag von Zahlen handelt. Eine genauere Bestimmung der tatsächlich verlorenen Lebenszeit unter Einberechnung der Vorerkrankungen ist leider nicht möglich, da diese Daten nicht verfügbar sind – ein Problem, auf welches das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin immer wieder hingewiesen hat (Presseerklärung vom 10. Dezember):
Die Todesraten während der Pandemie sind wesentlich durch die Sterblichkeit von hochaltrigen und pflegebedürftigen Mitbürger*innen bestimmt. Insbesondere Pflegeheimbewohner*innen sind betroffen. Laut Medienbeiträgen könnten in Deutschland bis zu zwei Drittel der Covid-19 assoziierten Todesfälle auf Alten- und Pflegeheime entfallen. Eine systematische wissenschaftliche Datenerhebung gibt es jedoch nicht. Auch die näheren Umstände und Ursachen der Todesfälle von Pflegeheimbewohner*innen bleiben weitgehend ungeklärt. Eine gezielte Dokumentation und Berichterstattung aus der Altenpflege fehlen.
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