Corona durch die DIVI-Brille betrachtet

Seite 2: Wie bedrohlich sind "steigende Neuinfektionen"?

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Alle längerfristigen Corona-Hochrechnungen haben sich bislang als falsch herausgestellt, aber dennoch hat sich Bundeskanzlerin Merkel zu einem möglichen Szenario mit täglich "19.200 neuen Infektionen" im Dezember hinreißen lassen. Auch wenn sich die Rechnung als Zufallstreffer erweisen sollte, hat sie mehr mit Statistiktricks als mit Exponentialrechnung zu tun. Merkel hat sie präsentiert, um die Bedrohlichkeit des aktuellen Infektionsgeschehens zu betonen.

Aber sind 19.200 Neuinfektionen überhaupt bedrohlich? Ich nehme das Merkel-Szenario gerne beispielhaft auf, um zu zeigen, was eine deutliche Fallzahlensteigerung für die intensivmedizinische Versorgung in Deutschland bedeuten könnte. Bezeichnenderweise hat Frau Merkel bis zu diesem entscheidenden Punkt gar nicht weitergedacht - zumindest nicht öffentlich. Mit typischem Tunnelblick reduzieren politische Entscheider das Infektionsgeschehen seit Monaten auf "Neuinfektionen".

Das Merkel-Szenario zu Ende gerechnet

• Wenn es dabei bleibt, dass 3 % aller Positiv-Getesteten einen ITS-Platz benötigen, dann kommen auf 19.200 Fälle 576 ITS-Einweisungen.

• Bei einer Aufenthaltsdauer von 8 Tagen werden somit 4.608 ITS-Betten benötigt.

Nochmals zum Vergleich: Mitte April erhielten knapp 3.000 Covid-19-Patienten einen ITS-Platz. Dennoch zeigte DIVI immer noch über 12.000 freie Betten an - ohne die 12.300 Intensivbetten-Notfallreserve.

Bad-Case-Szenario

Das Merkel-Szenario verweist nicht auf eine Überlastungssituation. Diese träte möglicherweise ein, wenn wir nicht 19.200, sondern über einen längeren Zeitraum 30.000 tägliche Fälle hätten (Frankreich hat diesen Wert punktuell bereits erreicht), und sich dabei auch noch die ITS-Quote auf 4 % erhöhen würde. In diesem Fall wären 9.600 Intensivplätze für Covid-19-Patienten nötig.

• DIVI beziffert die in Deutschland verfügbaren Intensivbetten auf etwa 30.000.

• 20.000 Plätze sind derzeit von Nicht-Coronafällen belegt, sodass die Restkapazität von 10.000 Plätzen (ohne ITS-Notfallbetten) theoretisch ausreichend wäre.

Den Zahlen nach wäre selbst dieses Bad-Case-Szenario beherrschbar, aber die Praxis sieht offensichtlich etwas anders aus. Personalprobleme im Krankenhauswesen sind seit langem bekannt.

Entsprechend bereiten sich einige Kliniken bereits darauf vor, "planbare Eingriffe" auf unbestimmte Zeit zu verschieben, um Kapazitäten für Covid-19-Patentienten bereithalten zu können.

Wie gehts weiter?

Eine Jahreszeit-typische Häufung von Atemwegsinfektionen sowie ein seit Wochen zu beobachtender Trend lassen einen weiteren Anstieg der Positiv-Getesteten-Zahlen zum Winter hin vermuten. Dabei kann derzeit leider nicht angenommen werden, dass steigende Positivzahlen für die Zunahme von schweren Covid-19-Fällen von untergeordneter Bedeutung seien: Der Anteil der Covid-19-Intensivpatienten an der Gesamtzahl aller Positiv-Getesteten ist seit zehn Wochen recht stabil, was zumindest temporär auf eine Kopplung der Positivzahlen-Entwicklung an die Zahlenentwicklung der ITS-Patienten hinweist.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die alte Maxime 'Überlastung des Gesundheitssystems vermeiden' wieder in den Vordergrund rückt. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass selbst bei einer Verdreifachung der aktuellen Positivzahlen die intensivmedizinische Versorgung nicht gefährdet ist. Wir hätten dann zwar eine etwas höhere Auslastungssituation als im April - damals waren wir jedoch weit von einer Überlastung entfernt.

Versorgungsengpässe würden nach DIVI-Datenlage (und abhängig von der ITS-Quote) erst bei mehr als 30.000 Positiv-Getesteten pro Tag auftreten, eine Zahl, die derzeit extrem spekulativ erscheint.

Aber auch bei niedrigeren Fallzahlen stellt sich die Frage, ob das deutsche ITS-System annähernd so leistungsstark ist, wie es die Menge der vorhandenen Intensivplätze suggeriert. Einen echten Stresstest wünscht man sich ganz bestimmt nicht.

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