Corona ist Corona – aber Nepal ist nicht Deutschland
Das deutsche Sozialsystem aus 3.100 Meter Höhe
Eine gelbe Gestalt mit Hasenohren stolpert durch den Schnee über den 3.100 Meter hohen Gebirgs-Pass. "Deine Tochter hat es wohl nicht so mit dem Laufen", rufe ich in die verrauchte Stube hinein, in der ihr Vater mit anderen Bus-Passagieren am warmen Ofen sitzt. Das Lachen, das erfolgt, hat nichts mit Schadenfreude zu tun. 1.000 Meter tiefer hatte ihr Bus, aus Kathmandu kommend, nach 15 Stunden Fahrt angehalten. Dann sagte der Fahrer: "Die Straße ist wegen Schneefall gesperrt, ihr müsst zu Fuß weiter."
Gesperrt ist die Straße schon seit 5 Tagen, und die Passagiere am Ofen ahnen, dass die Busgesellschaft dies gewusst hat und trotzdem den weiten Umweg vermeiden wollte – auch in Nepal steigt und steigt der Benzinpreis.
Aber wie so oft in diesem Land: Der Mensch ist ohnmächtig gegenüber dem Unrecht, es muss trotzdem weiter gehen.
Als die Tochter in die Stube hinein gestolpert kommt, die Hände wärmend um ihre hier aktuell modische Jacke mit Hasenohren drückend, gibt es anerkennenden Applaus.
Wie ihr Vater vor ein paar Minuten stolz erzählt hatte, studiert sie in der Hauptstadt Kathmandu: "Irgendetwas mit Computern (Informatik), und in der Zukunft kann sie damit im Ausland in einem Jahr so viel verdienen wie ich in 15 Jahren als Fahrer in Dubai." Beinahe ein Drittel des Bruttosozialproduktes des Landes erwirtschaften die Auslandsnepalesen.
Ich stelle mir einen Augenblick vor, wie eine normale Busbesatzung in Deutschland spontan 1.000 Höhenmeter aufwärts und abwärts durch den Schnee wandern muss, wobei sich alle fünf Minuten jemand die Knochen brechen könnte. Aber: Deutschland ist nicht Nepal.
Dann wird es politisch am Ofen. Das derzeitige Gesprächsthema Nummer 1 ist ein 500-Millionen-Dollar-Kredit der US-Regierung an Nepal.
Gestern haben deshalb Anhänger der Maoisten (die ehemaligen bewaffneten Rebellen) gewaltsam gegen den Kredit protestiert, dabei sitzt ihre eigene Partei, die CPN (M) als Juniorpartner mit in der Regierung. Die Frage, die einer der Passagiere an mich stellt, ist also nicht mehr als ein alter Witz, in der Hoffnung, dass einer ihn noch nicht kennt: "Sollte Nepal den Kredit annehmen?"
"Ji. Die größte Oppositionspartei UML (Communist Party of Nepal) ist nur dagegen, weil sie garantiert nichts vom Keks abbekommt. Die kleineren Koalitionspartner der Kongress-Partei nur so lange, bis die Keksstücke für sie größer werden." Gelacht wird trotzdem. "Aber so einfach ist die Sache halt nicht: Die böse Politik. Schließlich wählt ihr jedes Jahr die gleichen alten korrupten Köpfe. Und: Für jeden von euch kommt die Familie zuerst. Dazu denkt ihr, alle Menschen in Europa haben die Taschen voller Geld."
"Der wahre Reichtum von Deutschland"
Dann schiebe ich vereinfacht hinterher, dass 50 Prozent meines Einkommens für verschiedene Steuern an den Staat weggehen und ziehe an meinen Hosentaschen: "Die sind meistens leer. Aber wenn ich krank bin, ist der Arzt oder das Krankenhaus umsonst. Genau wie die Schule und das Studium. Es gibt ein funktionierendes Bus- und Bahnsystem, und der Strom fällt im Schnitt pro Haushalt nur zwölf Minuten im Jahr aus. Das ist der wahre Reichtum von Deutschland."
Wer jetzt empörte Gegenrede erwartet, wird enttäuscht werden. Ein junger Medizin-Student ergreift nickend das Wort: "Meine Ausbildung kostet 15 Lakh Rupien[ungefähr 11.000 Euro]. Im Privatkrankenhaus in Nepalganj [Süd-Nepal], in dem ich arbeite, haben wir viele Patienten aus den Bergen. Aktuell zwei mit einer kaputten Leber. Damit ihr Vater noch einen Monat länger leben kann, verkaufen die Angehörigen zum Teil ihr Land – helfen können wir den Patienten trotzdem nicht."
Alle Menschen am Ofen stimmen zu, dass so ein Sozialsystem wie in Deutschland anzustreben wäre, doch dann herrscht Schweigen. Schon die augenblickliche Situation der Busreisenden, die gleich einen rutschigen Abstieg von 1.000 Höhenmetern vor sich haben, zeigt, dass meine "Anregungen" nicht so einfach umzusetzen sind. Doch dann lache ich die Studentin in ihrer gelben Hasenohrjacke an und sage:
"Vor 19 Jahren bin ich hier herumgewandert. Da gab es anstatt einer Straße maoistische Rebellen, die gegen königliche Soldaten kämpften, und die Wege jedes Dorfes bestanden aus Büffelmist. Strom kannten die Menschen hier nur vom Hörensagen aus Kathmandu. Heute kannst du selbst hier auf dem Pass dein Smartphone benutzen".
Dann komme ich ins Stottern: "Äh, na gut, die Straße. Die ist aktuell nicht ganz so brauchbar…" Die Frauen und Männer lachen, ohne Bösartigkeit.
Der Gedanke ist wirklich zu simpel, dass Nepal nur schnell wie Deutschland werden müsse. Beide Länder trennt eine wirtschaftliche Entwicklung von fast 200 Jahren und knapp 100, wenn man die politische Entwicklung betrachtet. Nepal ist erst vor 16 Jahren die Monarchie losgeworden, in der ihr König als Reinkarnation von Lord Bishnu galt.
Ja, Deutschland hat im Vergleich zu den meisten anderen Ländern (noch) ein gut ausgebautes Sozialsystem, aber was ist der Anteil der meisten Bürger daran? Sie sind in das System hineingeboren worden und funktionieren, so wie die Buspassagiere hier am Ofen im System Nepal funktionieren, die ohne Zögern mit Sack und Pack zum Pass hinauf marschiert sind. So funktionieren auch die meisten Bürger in Deutschland tadellos weiter, obwohl ihr Sozialsystem Schritt für Schritt abgebaut wird – und diese "Verschwörung" begann lange vor Corona.
Seit Jahrzehnten kaufen die meisten Bürger Deutschlands ihre Kleidung und Leder aus Billiglohnländern und klagen dann Länder wie Bangladesch an, dass die mit ihrer dreckigen Textil-Industrie ihre Flüsse vergiften oder Indien mit ihren dreckigen Gerbereien. Mit den Rohstoffen für die neuen Energien ist es ähnlich.
Zeigt nicht der unaufhaltsame Klimawandel, dass es für eine Verlangsamung des Temperaturanstiegs kaum ausreicht, nur an seine Familie oder sein Land zu denken?
Weiter denken
Indien, das nun Kohle verbrennt wie früher der Westen, macht nichts anderes als das, was der Westen vorgelebt hat: Wirtschaftswachstum um jeden Preis. Trotzdem sind es in Deutschland gerade die Konservativen, die Indien vorwerfen, einer der Haupttreiber des Klimawandels zu sein.
Menschen eines Landes, die es trotz des Entwicklungsvorsprungs von mindestens 30 Jahren gegenüber Indien nicht geschafft haben, sich selbst mit Kleidung oder Leder zu versorgen (Deutschland ist der zweitgrößte Ledereinkäufer in Indien) aufgrund der hier geltenden strengen Umweltgesetze.
Dass es in Deutschland überhaupt zu diesen Gesetzen kam, haben wir engagierten Menschen in Wollpullis vor 40 Jahren zu verdanken. Ihre Forderungen wurden damals von den Konservativen empört abgelehnt, mit der Begründung, die Bundesrepublik würde im Mittelalter landen – ähnlich wie sie heute auf die Forderungen von Fridays for Future reagieren.
Nicht korrupte Politiker
Während sich die ersten Buspassagiere auf den Weg den Pass hinunter machen und dabei vom Hotelhund begleitet werden, werfe ich den Namen Janardan Sharma in die verbleibende Runde am Ofen. Es ertönt anerkennendes Murmeln, dazu der Name Kul Man Ghising.
Der damalige Energieminister Sharma und Ghising deckten im Jahr 2017 auf, dass einige Direktoren der Nepal Electricity Authority (NEA) Strom zu Dumpingpreisen an indische Industrien verhökert hatten. Mittlerweile ist die Energieversorgung weitgehend stabil, 23 von 24 Stunden funktioniert das nepalesische Stromnetz.
Es gibt sie also in Nepal, die nicht korrupten Politiker, und die Menschen erkennen sie: Sharma wurde seitdem bei Wahlen regelmäßig als Abgeordneter bestätigt und ist mittlerweile Finanzminister Nepals.
Korruption ist jedoch weiterhin ein großes Problem, daran zweifelt nicht einmal der Vize-Präsident der Regierungspartei Nepal Kongress (NC) im Distrikt Baglung. Eine Woche zuvor traf ich ihn 2.000 Höhenmeter tiefer und fragte ihn nach den Gründen für die Korruption in seinem Land:
"Unsere Bürokraten in den Distrikten sind die Hauptschuldigen. Sie zeigen den gewählten Politikern, wie man gemeinsam aus lokalen Projekten Geld für sich abzweigen kann."
Ich wiederhole meine Frage, um eventuelle Missverständnisse wegen Sprachschwierigkeiten auszuschließen, doch er blieb bei seiner Aussage. Den Satz "Na, dagegen können die Politiker nichts machen" konnte ich mir ihm gegenüber nicht verkneifen. Doch in einer anderen wichtigen Angelegenheit schien er sein Ohr bei den Bürgern zu haben. "Wir können den Menschen eigentlich keinen weiteren [Corona-]Lockdown mehr zumuten", sagte er – und seine Niedergeschlagenheit bei diesem Thema erscheint mir glaubwürdig.
Bei meiner Rückkehr in die Basarstadt Tansen am 6. Dezember ist die Stimmung bedrückt. Die Coronazahlen im benachbarten Indien steigen stark an, und es gibt dort die ersten Nacht- und Wochenend-Lockdowns.
Lockdown: Nackte Existenzangst
Mangels eigener Ideen und Konzepte macht die jeweilige Regierung Nepals in der Regel das nach, was ihr südlicher Nachbar macht – auch ohne aussagekräftige Zahlen aus dem eigenen Land. Im Missionskrankenhaus in Tansen haben sich 9 Mitarbeiter mit Corona infiziert, was auf Nachfrage bestätigt wurde. Unter den meisten Menschen Tansens herrscht nackte Existenzangst.
Nein, nicht vor einer Ansteckung mit Corona, sondern vor einem erneuten Lockdown. Gerade vielen Städtern mit ihren Fixkosten wurden durch die ersten beiden Lockdowns alle Ersparnisse weggefressen. Auch in Nepals Städten steigen die Mieten, und dabei gibt es eine Gemeinsamkeit mit Deutschland: vorwiegend aus Spekulationsgründen.
Ansonsten sind die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme in Nepal und Deutschland auch unter Corona-Bedingungen kaum vergleichbar. Wie beschrieben, Nepal ist ein Land ohne staatliche soziale Absicherung. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung beträgt 24,6 Jahre.
Der Anteil der Menschen, die es sich problemlos leisten können, ein gutes Krankenhaus in Indien aufzusuchen, liegt im einstelligen Prozentbereich. In Bergdistrikten wie Rolpa läuft die lokale Bevölkerung dagegen noch zum Teil in Plastiksandalen durch den Schnee.
Nicht einmal 37 Prozent der Bevölkerung Nepals ist zweimal gegen das Covid-Virus geimpft. Bei 40 Prozent will die Regierung mit der dritten Impfung beginnen. Doch jetzt, wo das Land zum ersten Mal genug Impfstoff hat, sehen viele, die zwei Jahre lang darauf warten mussten, keinen Grund mehr für eine Impfung.
Auf dem Pass trifft sechs Tage nach dem Schneefall von der Baglung-Seite das erste Räumfahrzeug ein – ein alter Bagger. Von der westlichen Rukum-Seite soll es in fünf Tagen so weit sein. Drei Tage später schneit es wieder. Trotz Straße geht es also erst einmal weiter wie zu Königszeiten – zu Fuß.
Auch dies macht schnelle Fortschritte in Nepal nicht einfacher, während die Uhr für die Menschheit des ganzen Planeten immer schneller abläuft. Und Corona ist dabei nichts anderes als ein Trump: eines von vielen Symptomen der Krankheit – Wirtschaftswachstum um jeden Preis.