Corona und die Treue zu Maßstäben: Die selektive Empörung der Medien
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Wie mit Fehleinschätzungen von Corona-Experten umgegangen wurde. Welche Maßstäbe zur Bewertung angewendet werden. Was übersehen wurde. Analyse.
Angesichts der Liste von Streecks Irrtümern muss man sich fragen: Wie konnte und kann jemand, der so konsequent danebengelegen hat, so viele Einladungen vor ein Millionenpublikum bekommen?
Christian Schwäger und Joachim Budde, Übermedien
Diese rhetorische Frage stellte eine Medienkritik, die im Februar 2021 bei Übermedien erschien, Titel: "Der Mann, der dauernd falsch liegt, aber immer wieder als Corona-Experte gebucht wird".
Der Text erörtert "zwölf Beispiele für bemerkenswerte Irrtümer und überraschende Kehrtwenden" des Bonner Virologen Hendrik Streeck.
Fehleinschätzungen von Virologen und das Problem
Über falsche Prognosen und Interpretationen kann und muss Journalismus berichten. Das Problem dieses Beitrags ist jedoch, dass er weder die Datengrundlage für den Befund häufiger Irrtümer noch Vergleichszahlen benennt, welche die Bewertung Streecks als untauglichen Corona-Experten begründen könnte.
Es wird nicht erläutert, wie viele Aussagen Streeck insgesamt getätigt hat und wie viele davon richtig, wie viele falsch waren. Und es wird nicht benannt, wie dieser Fehlerquotient bei anderen Wissenschaftlern aussieht, die sich während der Pandemie in den Medien geäußert haben.
Wie oft lag beispielsweise Christian Drosten daneben? Allein sein Podcast "Coronavirus Update" vom NDR bietet da leicht zugängliches Material, und spätestens jetzt im Rückblick wird die eine oder andere Fehleinschätzung Drostens auch benannt.
So prognostizierte Drosten am 18. März 2020 schlimmste Corona-Szenen in Afrika:
(Das Virus kommt nun - Anm. d. A.) nach Afrika. Und Länder, die nichts dagegen machen können, es also organisatorisch überhaupt nicht hinbekommen, solche sozialen Distanzierungsmaßnahmen zu machen, die überhaupt nicht in der Lage sind zu testen, afrikanische Länder, wo es also durchaus aber Großstädte gibt, da werden wir Bilder sehen in der Zeit zwischen Juni und August im Sommer, die wir nur aus Kinofilmen kennen, aus reinen Fantasiefilm.
Da wird es Szenen geben, die wir uns heute noch nicht vorstellen können. Und ich bin mir nicht sicher, was das dann auch bei uns auslöst natürlich, weil das ist dann sehr emotional. Und so ein Ausbruch, der ungebremst läuft, den haben wir mit diesem Virus noch nicht gesehen, in keinem Land der Erde.
Christian Drosten im Podcast "Fest und Flauschig"
Damit lag Drosten reichlich daneben. Aus Afrika kamen dann vor allem Schreckensmeldungen aufgrund der "Distanzierungsmaßnahmen". Womöglich hatte Drosten u.a. die gegenüber Europa völlig andere Bevölkerungsstruktur nicht genügend im Blick.
Die unvorstellbaren Bilder, die fortan auch die deutsche Diskussion maßgeblich prägten, kamen just am Tag des Drosten-Podcasts aus Bergamo in Italien: von Militärlastern, die ein Massensterben symbolisieren sollten.
Zahlreiche weitere Fehleinschätzungen von Virologen lassen sich finden. Wieso sollte also gerade Hendrik Streeck von Journalisten nicht mehr befragt werden?
Das Qualitätskriterium: Maßstabsgerechtigkeit
Das Qualitätskriterium hierzu heißt Maßstabsgerechtigkeit oder Maßstabstreue. Gelegentlich wird damit in der Fachliteratur eine maßstäbliche Abbildung der gesamten Wirklichkeit gefordert. Hier ist es jedoch grundsätzlicher gemeint.
Maßstabsgerechtigkeit verlangt die korrekte Verwendung derselben Maße für Messung und Bewertung bei zu vergleichenden Sachverhalten. Falschbehauptungen von Politikern sind danach unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit festzustellen und zu werten.
Dabei muss es sich nicht um allgemeinverbindliche Maßstäbe handeln, wie sie etwa der TÜV bei der Verkehrssicherheitsprüfung von Autos anlegt und die unabhängig von Preis, Marke oder Alter des Fahrzeugs sind.
Maßstäbe können auch individuell vom Medium oder dem einzelnen Journalisten festgesetzt werden. Um ein Orientierungsangebot machen zu können, müssen diese dann jedoch konsistent angewendet werden.
Praktische Bedeutung hat die Maßstabsgerechtigkeit oder Maßstabstreue vor allem in zwei Bereichen: bei der Relevanzzumessung von Themen, Ereignissen oder Personen und bei deren Bewertung bzw. Einordnung.
Relevanz
Die Relevanz eines einzelnen journalistischen Beitrags mit neuem Thema lässt sich kaum absolut bestimmen. Die meisten Versuche dazu nutzen Vergleiche zwischen einem Test-Medium und einem Mix als qualitativ hochwertig angesehener Medien wie überregionale Tageszeitungen, Tagesschau etc.
Prof. Michael Haller hat dieses sogenannte Benchmark-Verfahren häufiger eingesetzt: Nachrichten, die in dem Medien-Mix "der Besten" vorkommen, gelten als relevant – ihr Fehlen in Test-Medien wie Lokalzeitungen entsprechend als Qualitätsdefizit.
Ein anderer Ansatz vergibt normativ Punkte für die Relevanz. Themen, die viele Menschen betreffen, gelten dann als relevanter als solche, die (vermutlich) nur wenige Menschen betreffen. Das Schweizer Langzeitprojekt "Qualität der Medien " geht so vor.
Mit solchen Vergleichen oder fixen Zuschreibungen haben es Innovation bzw. Investigation jedoch schwer. Denn über deren Relevanz kann regelmäßig erst nach Veröffentlichung (irgendwann und irgendwie) entschieden werden.
Praktikablere Bezugspunkte sind hingegen die eigenen Veröffentlichungen eines Mediums. Denn mit einer ersten Publikation behauptet ein Medium nicht nur Relevanz (Irrelevantes kann nicht der Orientierung dienen, es erschwert sie vielmehr), sondern es trägt auch Verantwortung für dessen Einordnung und ggf. Korrektur (Updates).
Maßstabsgerechtigkeit verlangt zunächst nicht mehr und nicht weniger, als darzulegen, welches Themenfeld zu erörtern man für relevant hält.
Maßstabsgerechtigkeit ist das Gegenstück zur Willkür
Und von allen Bewertungen im Beitrag verlangt das Kriterium Maßstabsgerechtigkeit, dass diese konsistent mit Blick auf Vergleichbares in diesem Medium sind.
Maßstabsgerechtigkeit bedeutet, mit dem passenden Maßstab zu arbeiten und diesen nicht nach Belieben zu verändern: Gleiches muss gleich behandelt werden. Maßstabsgerechtigkeit ist das Gegenstück zur Willkür, zum Agieren aus dem Bauch heraus.
In der Corona-Politik galt bei Verwaltungen wie Medien die Parole, jeder Tote, ja jeder Kranke sei ein Fall zu viel, müsse daher unter allen Umständen verhindert werden.
Bundeskanzler Olaf Scholz sagte:
Wir werden alles tun, was notwendig ist, es gibt da für die Bundesregierung keine roten Linien.
Ministerpräsident Markus Söder:
"Jede Infektion, jeder Tote ist zu viel."
Insbesondere Freiheitsinteressen dürfe oder könne man dagegen nicht ins Feld führen.
Wo ist der Maßstab im Ukraine-Krieg?
Wo war und ist dieser Maßstab aber beim Ukraine-Krieg, der bisher wohl mehr als eine viertel Million Soldaten ihr Leben gekostet und unzählige verletzt und traumatisiert hat?
Es passt nicht zusammen, im Falle Corona zu werten "lieber unfrei als tot", im Falle Russlands aber genau das Gegenteil als Bewertungsmaßstab auszugeben.
Der Blick der Faktenchecks
Fehlende Maßstabsgerechtigkeit (bzw. hier deutlicher: Maßstabsgleichheit) trat auch bei vielen Faktenchecks während der Pandemie zutage, denen genügte, dass etwas unbelegt oder unbewiesen sei.
Denn solche Faktenchecks gab es praktisch nur, wenn damit Kritik an der Corona-Politik entkräftet werden sollte. Aussagen, die schärfere Maßnahmen forderten oder ihren Nutzen priesen, blieben überwiegend ungecheckt.
So etwa bei Correctiv. Nach der dortigen Logik hätten fast alle Aussagen von Politikern und Wissenschaftlern zur weiteren Entwicklung der Pandemie, alle Prognose zu Wirkungen politischer Maßnahmen oder Behauptungen zur Notwendigkeit einer Impfpflicht als "unbelegt" bezeichnet werden müssen.
Und spätestens im Nachhinein wäre die Enthüllung solcher Falschaussagen für den Diskurs hilfreich gewesen. Doch es findet sich dafür bei Correctiv kein Beispiel. Es wird schlicht kein einheitlicher Maßstab angelegt, was einer Korrektur bedarf oder als "unbelegt" zu diskreditieren ist.
Bei Correctiv erschien zwar ein eigener Faktencheck, weil das RKI die "Zahl der ungeimpften Omikron-Infizierten im Wochenbericht von 186 auf 1.097" nach oben korrigiert hatte, was Maßnahmen-Kritiker (noch) nicht wahrgenommen haben sollten.
Es findet sich aber kein vergleichbarer Check, als der Gruppe ungeimpfter Corona-Patienten pauschal auch alle zugeordnet wurden, deren Impfstatus gar nicht bekannt war.
Maßstabsgerechtigkeit beim Sprachgebrauch
Auch beim Sprachgebrauch fehlt oft die Maßstabsgerechtigkeit, sowohl bei der Beschreibung von Tatsachen als auch bei ihrer Bewertung.
Der Begriff "Zwangsimpfung" wurde in den Medien nahezu unisono zurückgewiesen, schließlich werde nirgends Zwang ausgeübt. Den von einer Impfpflicht Betroffenen in Bundeswehr und Gesundheitswesen stehe es jederzeit frei, die Konsequenzen für einen Verzicht auf die Impfung zu tragen – konkret also den Job zu wechseln (BVergG - 1 BvR 2649/21, Randnummer 209).
Als Russland jedoch Gesundheits-Checks von Ausländern verlangte, sprachen dieselben Medien von "Zwangsuntersuchung", obwohl ebenso "Wahlfreiheit" bestand – dort eben, das Land zu verlassen.
Wer behauptet, Deutschland oder ein einzelnes Bundesland sei verhältnismäßig gut durch die Corona-Pandemie gekommen, muss zunächst benennen, was dafür gemessen wurde, welche Bewertungsskala dann an dieses Messergebnis angelegt wird und wie – nicht beliebig herausgepickte – Vergleichswerte aussehen.
Krankschreibungen nach der Corona-Impfung galten als unzulässige Maßeinheit für Nebenwirkungen, Krankschreibungen nach Corona waren medial akzeptiert – eine klassische Wertung mit zweierlei Maß.
Einmal werden aus einer Online-Umfrage gewonnene Gesundheitsdaten problematisiert (Thema: Impfnebenwirkungen), in einem anderen Fall im selben Medium ohne jede Methodenkritik referiert (Thema: Long Covid).
Ein letztes Beispiel für die Verletzung der Maßstabsgerechtigkeit bei der Relevanz eines Themas: Flächendeckend wurde Ende Januar 2021 berichtet:
"Mehr als 100.000 Menschen starben in Deutschland im Dezember – so viele wie seit 1969 nicht mehr." (Tagesschau)
Doch zu einer noch dramatischeren Zahl zwei Jahre zuvor findet sich nichts in den Archiven von Tagesschau und Co: Im März 2018 starben in Deutschland 107.104 Menschen – so viele, wie niemals sonst in einem März, auch nicht im März 2020.