Coronavirus: Das Aufrechterhalten der Maßnahmen trotz einer dramatisch gesunkenen Sterberate

Seite 3: Mögliche Erklärungen

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Bevor man aber zu solchen Schlüssen kommt, ist es wichtig zu klären, welche Gründe es eigentlich für den Rückgang der Sterberate über die Altersgruppen hinweg geben kann. Letztendlich kommen hierfür vier mögliche Gründe in Frage:

Möglicher Grund 1: Reduzierung der Dunkelziffer durch die Ausweitung der Tests

Ein erster Grund könnte sein, dass durch die extreme Ausweitung der Tests von knapp über 330.000 Mitte April auf über 1,1 Millionen in Kalenderwoche 37 die Dunkelziffer von zwar infizierten, aber nicht entdeckten Fällen deutlich reduziert wurde. Da infizierte, aber nicht gemeldete Personen typischerweise nur milde oder gar keine Symptome zeigen, sinkt durch das zusätzliche Entdecken solcher Personen der Anteil der als infiziert gemeldeten Personen, der verstirbt. Dadurch nähert sich der beobachtete Fall-Verstorbenen-Anteil der eigentlich für die Gefahrenbewertung relevanten Wahrscheinlichkeit an, dass eine infizierte Person an einer Coronavirus-Infektion verstirbt (Infizierten-Verstorbenen-Anteil).

Beispielsweise wurde in der damaligen Antikörper-Studie von Hendrik Streek mittels eines Antikörpertests im Zeitraum vom 31. März bis 6. April eine repräsentative Stichprobe zur Gemeinde Gangelt erhoben (919 zufällig ausgewählte Einwohner), mit dem Ziel, die wahre Gesamtanzahl an infizierten Personen zu bestimmen. Basierend auf diesen Daten wurde geschätzt, dass damals die Zahl der zwar infizierten aber nicht gemeldeten Personen deutschlandweit in etwa 10 Mal höher war als die Zahl der offiziell gemeldeten Fälle, und dass die Wahrscheinlichkeit einer infizierten Person zu versterben in Wirklichkeit nur bei 0,37% liegt. Diese Zahl wurde in einer Analyse der mittlerweile relativ zahlreichen weltweiten Antikörperstudien bestätigt, welche über alle Studien hinweg einen geschätzten Wert von 0,27% ergab.

Möglicher Grund 2: Sinkende Gefährlichkeit des Coronavirus

Allerdings liegen die aus den Antikörperstudien geschätzten Sterberaten noch relativ deutlich über dem aktuell beobachteten Fall-Verstorbenen-Anteil. Es muss demnach noch weitere Gründe für den Rückgang des Anteils versterbender Personen geben. Ein zweiter Grund könnte sein, dass die Gefährlichkeit des Virus mit der Zeit abgenommen hat. Prinzipiell kann es hier zwei Möglichkeiten geben.

Eine erste Möglichkeit könnte sein, dass sich das Virus selbst abgeschwächt hat. So wird beispielsweise diskutiert, ob inzwischen genetische Mutationen aufgetreten sind, welche einen milderen Krankheitsverlauf nach sich ziehen. Christian Drosten sagte hierzu beispielsweise in seinem Podcast:

Die phänotypischen Veränderungen, die dabei entstehen können, wären zum Beispiel, dass das Virus noch besser in der Nase repliziert und besser übertragen wird. Aber in der Nase werden wir nicht allzu krank davon. Das heißt, das Ganze wird auf lange Sicht zu einem Schnupfen, der sich für die Lunge gar nicht mehr interessiert. So etwas könnte passieren.

Christian Drosten

Allerdings gehen manche Experten davon aus, dass sich solche Mutationen nicht so schnell durchsetzen und damit den aktuell beobachteten Rückgang in der Sterberate nicht wirklich erklären können. Eine zweite Möglichkeit, warum die Gefährlichkeit des Virus abgenommen haben könnte, ist die Entwicklung von besseren Behandlungsmöglichkeiten. Während man am Anfang wenig über die Krankheit wusste, gibt es inzwischen zahlreiche wissenschaftliche Studien, was zu einer verbesserten Behandlung der Patienten geführt hat. Zudem haben Ärzte und Krankenhauspersonal auch in der Praxis viel durch die Erfahrungen dazugelernt.

Möglicher Grund 3: Sinkende Anzahl von Hoch-Risiko-Personen

Ein dritter Grund für den Rückgang des Fall-Verstorbenen-Anteils könnte sein, dass bereits viele der Hoch-Risiko-Personen an einer Coronavirus-Infektion verstorben sind und damit die Anzahl der Personen, welche potentiell am Coronavirus versterben kann, zunehmend kleiner wird, und damit der Fall-Verstorbenen-Anteil sinkt.

Hinweise darauf liefern beispielsweise Befunde, die zeigen, dass die Anzahl der an und mit dem Coronavirus verstorbenen Personen in einem Land umso geringer ist, umso mehr Personen im Rahmen der Grippewellen in den vergangenen zwei Jahren verstorben sind. Demnach könnte die höhere Anzahl an Coronavirus-Todesfällen in manchen Ländern damit zu erklären sein, dass in solchen Ländern aufgrund der vorherigen schwächeren Grippewellen noch mehr Hoch-Risiko-Personen am Leben waren und deswegen aktuell höhere Sterbezahlen zu verzeichnen sind.

Möglicher Grund 4: Kaum mehr vorhandene Infektionen und zunehmende falsch-positive Testergebnisse

Es gibt noch einen vierten möglichen Grund für den Rückgang des Anteils von gemeldeten Fällen, welcher verstirbt. Über die Zeit hinweg wurde die Anzahl der durchgeführten Tests massiv erhöht. Anfang April wurden wöchentlich in etwa 400.000 Tests durchgeführt, in den Kalenderwochen 35-37 waren es in etwa 1,1 Millionen Tests. Gleichzeitig ist der prozentuale Anteil der erhaltenen positiven Testergebnisse gesunken. Anfang April waren noch 9% der Tests positiv, in den Kalenderwochen 35-37 waren nur noch 0,78% der Tests positiv. Dieses Muster hat eine problematische Konsequenz: Es wurden zunehmend immer mehr Tests an Personen durchgeführt, welche gar keine Infektion aufwiesen. Das ist deswegen ein Problem, weil ein medizinischer Test ein positives Testergebnis liefern kann, obwohl die getestete Person in Wirklichkeit gar nicht infiziert ist - man spricht hier von falsch-positiven Testergebnissen. So hat sich in einer Validierungstudie eines Forscherteams um Christian Drosten zur Qualität der aktuellen Corona-PCR-Tests gezeigt, dass Labore bei Proben, welche das Virus SARS-CoV-2 nicht enthalten, im Schnitt trotzdem in 0,7% der Fälle ein positives Testergebnis rückmelden.

Führt man nun zunehmend immer mehr Tests an nicht infizierten Personen durch, steigt zunehmend die Anzahl der erhaltenen falsch-positiven Ergebnisse. Unter den als infiziert gemeldeten Personen befinden sich also zunehmend immer mehr Personen, die in Wirklichkeit gesund sind und nur ein falsch-positives Testergebnis erhalten haben. Da nicht infizierte Personen, welche nur fälschlicherweise ein positives Testergebnis erhalten, nicht am Coronavirus versterben können, würde der Anteil gemeldeter Fälle, welcher verstirbt, damit zunehmend sinken. Das beobachtete Sinken des Fall-Verstorbenen-Anteils könnte demnach auch darauf zurückzuführen sein, dass zunehmend mehr der gemeldeten Fälle in Wirklichkeit gar nicht infiziert sind, sondern nur ein falsch-positives Testergebnis erhalten haben.

Um sich über die Größenordnung dieses Problems klar zu werden, kann man sich die Testzahlen für den Zeitraum der Kalenderwochen 35-37 ansehen. Ausgehend von der Gesamtanzahl der Tests (3.273.259) und der Anzahl der erhaltenen positiven Ergebnisse (25.607) kann man über die falsch-positiv Rate (laut der erwähnten Validierungsstudie um Christian Drosten 0,7%) und die Sensitivität (Wahrscheinlichkeit, dass der Test bei tatsächlich infizierten Personen auch wirklich ein positives Testergebnis liefert; laut der Validierungsstudie um Christian Drosten liegt dieser Wert bei den aktuellen PCR-Tests bei 95,7%) eines Tests die wahre Anzahl an Infektionen und die Anzahl an erhaltenen echt-positiven und falsch-positiven Testergebnissen statistisch schätzen. Die folgende Abbildung 2 zeigt die entsprechenden Ergebnisse für den Zeitraum der Kalenderwochen 35-37:

Abbildung 2: Die statistisch geschätzte wahre Anzahl von Proben mit SARS-CoV-2 Infektion in den Kalenderwochen 35-37 und die statistisch geschätzte Anzahl von erhaltenen echt-positiven und falsch-positiven Testergebnissen.

Wie Abbildung 2 zeigt, wurden in den Kalenderwochen 35-37 zwar 25.607 positive Testergebnisse registriert. Berechnet man aber ausgehend von einer Sensitivität von 95,7% und einer falsch-positiv Rate von 0,7% die Anzahl an tatsächlich mit dem Coronavirus infizierten Proben, waren in Wirklichkeit nur 2.836 der getesteten 3.273.259 Proben infiziert (0,09%). Von den tatsächlich infizierten Proben erhielten 2.714 korrekterweise ein positives Testergebnis, von den nicht infizierten Proben erhielten 22.893 Proben fälschlicherweise ein positives Testergebnis. Von den insgesamt beobachteten 25.607 positiven Testergebnissen handelte es sich demnach bei 89,4 Prozent in Wirklichkeit um falsch-positive Testergebnisse.

Da mögliche falsch-positive Testergebnisse bei der Berechnung des Fall-Verstorbenen-Anteils vom RKI nicht miteinbezogen werden, könnte der Rückgang des beobachteten Fall-Verstorbenen-Anteils also auch darauf beruhen, dass der Anteil echter Infektionen unter den gemeldeten Fällen stark gesunken, und dafür der Anteil fälschlicherweise als "positiv" diagnostizierten Fälle stark gestiegen ist.

Hier ist allerdings noch ein weiteres interessantes Problem zu beachten: Die falsch-positiv Rate des Corona-PCR-Tests kann auch die Anzahl der gemeldeten "Coronavirus-Todesfälle" verfälschen und künstlich nach oben ziehen. Wie eingangs bereits erwähnt, wird nach wie vor ein Todesfall selbst dann als "Coronavirus-Todesfall" gezählt, wenn die Person zwar an anderen Ursachen verstorben ist, aber ein positives Coronavirus-Testergebnis aufweist. Aufgrund dieser eigenartigen Art der Diagnostik wirken sich falsch-positive Testergebnisse auch auf die Anzahl der gemeldeten Coronavirus-Todesfälle aus. Denn wenn eine eigentlich an anderen Ursachen verstorbene Person fälschlicherweise ein falsch-positives Testergebnis erhalten hat, wird diese Person fälschlicherweise als "Coronavirus-Todesfall gezählt".

Ein Rechenbeispiel: Würde man beispielsweise an 10% der aktuell in Deutschland pro Tag ca. 2.500 versterbenden Personen einen Coronavirus-Test durchführen, so würde man bei einer falsch-positiv Rate von 0,7% selbst dann statistisch im Schnitt 1,75 "Coronavirus-Todesfälle" pro Tag registrieren, wenn in Wirklichkeit keine einzige der 2.500 verstorbenen Personen mit dem Coronavirus infiziert war. Insbesondere wenn wie aktuell pro Tag nur eine sehr geringe Anzahl an Coronavirus-Todesfälle zu verzeichnen ist, würde dadurch die wahre Anzahl der Coronavirus-Todesfälle - und damit auch die Sterberate - deutlich überschätzt. Auch bei den Todesfällen ist es so, dass mögliche falsch-positive Testergebnisse vom RKI bei der Berechnung der Anzahl nicht miteinbezogen werden, was eigentlich bei einer diagnostisch validen Bestimmung der Sterberate gemacht werden müsste.