Covid-19: Thesen für eine erfolgsträchtige Impfkampagne

Klaus-Dieter Kolenda

Neues Papier um Internisten Schrappe: Immunisierung als Teil einer umfassenden Präventionsstrategie

Als kritischer Mediziner der älteren Generation habe ich in einem ausführlichen Artikel in Telepolis am 13. Dezember zu der Frage Stellung bezogen, ob ich mich gegen Corona impfen lassen würde, wenn mir eine Impfung angeboten wird ("Würdest Du Dich gegen Corona impfen lassen?"). Darin bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass bei Personen meiner Altersgruppe das Risiko einer Impfung gegenüber einer Erkrankung an Covid-19 deutlich geringer einzuschätzen ist.

Weiterhin habe ich in meinem Artikel ausgeführt, dass in Deutschland aufgrund von Alter und Komorbiditäten wahrscheinlich mindestens 30 Millionen Menschen mit einem erhöhten Risiko für einen schweren Verlauf von Covid-19 leben. Sie könnten von einer Impfung direkt profitieren.

Wir bräuchten, schrieb ich im Fazit, zweifellos die Impfung, um die Pandemie einzudämmen. Auch wenn durch eine Impfung zunächst keine Herdenimmunität erzielt wird, werden sich dadurch wahrscheinlich besonders gefährdete Menschen vor schweren Krankheitsverläufen schützen können.

Und wichtig war mir auch, darauf hinzuweisen, dass die Einhaltung der allgemeinen Maßnahmen gegen das Coronavirus wie z. B. die AHA-Regeln (Abstand halten, Hände-Hygiene und Atemschutz) und möglicherweise auch weitere zeitweilige eingreifende Kontaktbeschränkungen wohl noch bis in den Sommer 2021 hinein notwendig bleiben werden, um die Zahl der Infektionen zu kontrollieren.

Vor einigen Tagen nun bin ich auf das gerade veröffentlichte Thesenpapier 7 zur Corona-Pandemie der Arbeitsgruppe um den Mediziner Matthias Schrappe gestoßen, zu der auch Autoren anderer Fachrichtungen wie Juristen, Politologen und Sachverständige für Pflegeberufe gehören. Aufgrund des Umfangs dieses 108 Seiten umfassenden Thesenpapiers war ich zunächst skeptisch, ob sich innerhalb der letzten Wochen zum Thema Impfen tatsächlich so viel neue Gesichtspunkte ergeben haben, die berichtenswert und diskussionswürdig sind.

Im Volltext dieses Thesenpapiers werden in den einzelnen Kapiteln neunzehn aufgeführte Thesen begründet, in denen es inhaltlich um ein weites Spektrum an wichtigen Fragen und Problemen rund um das Thema Impfung und dessen Management geht. Vorgeschaltet sind eine Zusammenfassung und der Abschnitt "Die wichtigsten Botschaften auf einen Blick", auf den ich mich im Folgenden vor allem beziehen werde. Diese beiden Teile erleichtern dem interessierten Leser den Zugang zu diesem langen Text, dessen Lektüre für mich am Ende lohnenswert war, wenn man einmal von einigen Redundanzen absieht.

Als langjähriger in der Rehabilitations- und Präventionsmedizin tätiger Arzt werde ich mich auf die Darstellung des Präventionskonzepts der Autorengruppe beschränken. Über die sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen sich das Impfgeschehen abspielt, und die in dem Thesenpapier ebenfalls kritisch kommentiert werden, ist in Telepolis am 13. Januar ein informativer Artikel von Peter Mühlbauer erschienen (Corona: Clangefühle statt Argumentoffenheit).

Integration der Impfung in ein umfassendes Präventionskonzept

Die sorgfältige Integration der Impfung in ein umfassendes Präventionskonzept ist aus meiner Sicht der wichtigste Aspekt dieses Thesenpapiers. In einem Glossar (S. 19) wird unterschieden zwischen allgemeinen Präventionsmassnahmen zur Kontrolle der Coronavirus-Infektion wie z. B. Kontaktbeschränkungen und Kontaktnachverfolgung und spezifischen Präventionsmassnahmen, bei denen es sich um zielgruppen-spezifische Verfahren für Risikogruppen handelt.

Außerdem wird zwischen den Begriffen Impfung und Impfkampagne unterschieden. Während es sich bei Ersterer um eine medikamentöse Intervention mit dem Ziel des Aufbaus einer gezielten Immunität handelt, versteht man unter Letzterer die Gesamtheit aller Maßnahmen und Regelungen, die zur Impfung einer Population ergriffen werden, einschließlich der Maßnahmen zur parallelen nicht-medikamentösen Prävention. Die Impfung selbst ist Bestandteil der Impfkampagne.

Impfung und Impfkampagne als Maßnahmen der Prävention bilden also eine untrennbare Einheit mit nicht-pharmakologischen Präventionsmaßnahmen allgemeiner (z.B. Kontaktbeschränkungen) und spezifischer Natur (z.B. Schutz vulnerabler Gruppen).

Zu Beginn der Impfkampagne greift die Impfung auf der Ebene der Zielgruppen-orientierten Prävention ein. Die Diskussion zur priorisierten Vergabe des Impfstoffes hat zu dem Ergebnis geführt, dass zunächst ältere Menschen geimpft werden sollen. Der auf Zielgruppen ausgerichtete Start der Impfkampagne ist angemessen und notwendig, denn Covid-19 ist vor allem eine Erkrankung der Älteren.

Mit zunehmendem Fortschreiten der Kampagne und schrittweiser Einbeziehung der ganzen Bevölkerung geht die Impfung jedoch in eine Strategie der allgemeinen Prävention über.

In dem Thesenpapier wird festgestellt, dass die von der Politik bei uns präferierte allgemeine Präventionsstrategie nicht zu einem Erfolg geführt hat: Die Lockdown-Politik ist gerade für die vulnerablen Gruppen wirkungslos. Die vorübergehende Abflachung der Meldezahlen, also der Anzahl der auf das Corona-Virus positiv getesteten Personen, vor Weihnachten war in allen Altersgruppen zu beobachten, nur nicht in den höheren Altersgruppen über 85 Jahre.

Nach Auffassung der Autorengruppe besteht die paradoxe Situation, dass eine mit hohen gesellschaftlichen Kosten verbundene Lockdown-Politik durchgesetzt wird, ohne andere Optionen in Betracht zu ziehen und über einen dringend notwendigen Strategiewechsel überhaupt nur nachzudenken. Und dies, obwohl die am stärksten Betroffenen – die höheren Altersgruppen und Pflegeheimbewohner/innen – durch einen Lockdown nicht geschützt werden.

Obwohl die Leidtragenden dieser Politik, die älteren Mitbürger und Mitbürgerinnen, dringend auf ausreichende Versorgung, z. B. auch auf Intensivstationen, angewiesen sind, sei es seit Juli 2020 zu einem ungeklärten Verlust von 6.000 gemeldeten Intensivbetten gekommen (S. 29/30). Diese Einschätzung ist allerdings umstritten. Es scheint, als ob der Rückgang der Intensivbetten von Juli bis Dezember 2020 eher auf eine geänderte Zählweise zurückzuführen ist.

Von der Autorengruppe wird auch beklagt, dass eine nationale und umfassende Anstrengung zur Rekrutierung von genügend Pflegekräften und zum Management der Intensivpflegekapazitäten bis heute unterblieben ist (ibd.), so dass jetzt über die Triage von Krankenhaus-Patienten nachgedacht wird.

Die Defizite in der spezifischen Prävention machten sich bislang vor allem im Bereich der Pflegeheime bemerkbar. Bis zum 5. Januar 2021 waren allein in den Pflegeheimen kumulativ 10.149 Covid-19-assoziierte Todesfälle aufgetreten, entsprechend 28 Prozent aller Covid-19-Todesfälle in Deutschland (n = 36.537 Todesfälle). Auch mit Start der Impfungen sind daher parallellaufend alle präventiven Maßnahmen in Pflege- und Behinderteneinrichtungen, in Kliniken und im ambulanten Versorgungssetting – bis nach einer Durchimpfung entsprechende Erkenntnisse vorliegen – durchzuführen.

Dazu gehören neben den AHA-Regeln das Tragen von FFP2-Masken, das regelhafte Testen vor allem von eintreffenden Besuchern, Beschäftigten und Leistungserbringern im jeweiligen Versorgungsbereich. Entsprechende Unterstützung der Heime mit Personal und finanziellen Mitteln ist unverzichtbar.

Hinsichtlich der Wirksamkeit muss die Impfung nach der Methodik der Evidenz-basierten Medizin analysiert werden. In der Zulassungsstudie des Biontech/Pfizer-Impfstoffes (43.548 Teilnehmer, randomisiert) zeigten sich 162 symptomatische Covid-19-Infektionen in der Placebogruppe gegenüber acht symptomatischen Infektionen in der Verumgruppe.

Der mRNA-Impfstoff von Moderna (30.420 Teilnehmer, ebenfalls randomisiert) zeigte 185 symptomatische Infektionen in der Placebogruppe gegenüber elf in der Verumgruppe. Schwere Erkrankungen traten bei keinem Erkrankten in der Verum- und bei 30 Erkrankten in der Plazebogruppe auf.

Die Angaben wie "95-prozentiger Schutz" durch die Impfung beziehen sich auf das Verhältnis von symptomatischen Fällen zwischen Verum und Plazebo. Bei Infektion mit dem Coronavirus haben Geimpfte also ein 20-mal niedrigeres Risiko einer symptomatischen Covid-19-Erkrankung als nicht Geimpfte. Bei den Unerwünschten Arzneimittelwirkungen imponieren besonders die schweren allergischen Reaktionen, die jedoch beherrschbar sind. Die Fallzahlen sind noch gering.

Impfkampagne resilient gestalten und wissenschaftlich begleiten

Auch eine wirksame Impfung muss im Alltag einer Impfkampagne bestehen und umgesetzt werden. Gerade die erste Phase der Impfkampagne, nämlich die anspruchsvolle Organisation der Impfung von Hochaltrigen, wird prägend für den weiteren Verlauf der Kampagne sein. Deshalb sind Sorgfalt, gute Information und genügend Zeit anfangs wichtiger als hohe oder gar falsche zeitliche Erwartung.

Erfolgsdruck mit der Folge organisatorischer Fehlleistungen sind ebenso wenig zielführend wie schlechte Kommunikation. Ein gutes Impfergebnis bei dieser wichtigen vulnerablen Zielgruppe ist überzeugender als ein schneller Abschluss bei fehlender Akzeptanz.

Das Thesenpapier weist darauf hin, dass die individuelle Aufklärung der zu Impfenden ein wichtiger Prozess und Teil der notwendigen allgemeinen Information und Beratung der Menschen über die Impfstoffe ist. Aufklärung ist ein Teil der Legitimation der Impfung und ihrer Praxis.

Der Umfang und der Inhalt der Aufklärung über den zu applizierenden Impfstoff sind abhängig von unserem Wissen über seine Eigenschaften. Die Aufklärung ist Teil der ärztlichen Behandlung, d.h. Impfung auf vertraglicher Basis. Jede zu impfender Person hat Anspruch auf die persönliche individuelle Aufklärung im Gespräch mit einer Ärztin oder einem Arzt. Merkblätter/Formulare oder Videos über die Impfstoffe können das individuelle Gespräch mit dem Arzt nicht ersetzen, sondern bestenfalls vorbereiten.

Eine Impfkampagne ist kein Selbstläufer, sie kann aufgrund zunächst vernachlässigbar erscheinender Ereignisse oder z.B. der Einstellungsveränderung von Einzelnen oder Gruppen Schaden nehmen oder gar scheitern. Es ist daher unumgänglich, von Beginn an mit Analysen von Outcome-Daten (Schutz vor Erkrankung, Unerwünschte Arzneimittelwirkungen u.a.) einschließlich der Bildung einer nicht-geimpften Kontrollgruppe die Wirkung der Kampagne zu analysieren, und durch Versorgungsforschungsansätze (z.B. Befragungen) sowie durch die gezielte Analyse von Umfeldfaktoren (Ökonomie, Politik etc.) eine zeitnahe Begleitforschung zu etablieren.

Ein sinnvolles Rahmenkonzept für die Impfkampagne ist dabei eine zentrale Aufgabe der Politik und umfasst die Formulierung eines Zieles und einer abgeleiteten Strategie. Im Mittelpunkt sollte nach Auffassung der Autorengruppe das Konzept der "Stabilen Kontrolle" stehen.

Unter Stabiler Kontrolle versteht man ein Konzept zur Kontrolle und Steuerung der Epidemie, bei der eine Eradikation, d. h. eine vollständige Auslöschung des Erregers, nicht möglich ist, weil die infizierten Personen nicht erkennbar sind und die Übertragung mindestens teilweise durch asymptomatische Träger stattfindet (S. 19).

Die Lösung von Ziel- und Umsetzungskonflikten ist von größter Bedeutung, insbesondere hinsichtlich der Anreize, der Motivation, der Konflikte mit anderen gesellschaftlichen Zielen (z.B. Datenschutz), der Integration von Nicht-Geimpften und in der Kommunikation von Wirkung und Unerwünschten Arzneimittelwirkungen.

Eine Erfolgskontrolle der Impfkampagne anhand eines Einzelkriteriums (wie z.B. der Impfquote) ist dringend zu vermeiden, da sie störanfällig ist und u.U. zu falscher Sicherheit Anlass gibt. Empfohlen wird hier die Nutzung eines multidimensionalen Scores unter Einbeziehung von Inanspruchnahme (z.B. Impfquote), Wirkung, Komplikationen, Compliance, Umsetzung in den Organisationen und Haltung der Führungsebene.

Ein solcher Score, der sich auf Befragungen gründet, kann helfen, Schwächen in der Kampagne früh zu erkennen und rechtzeitig gegenzusteuern.

Dabei stellt die verlässliche Rückkopplung des Erfolges einen entscheidenden Parameter für das Gelingen einer Impfkampagne dar. Eine überschlagsmäßige modellhafte Skizzierung erbringt den klaren Befund, dass die Impfung der Hochrisikogruppen kurz- bis mittelfristig zu einer Reduzierung der Mortalität und Morbidität, aber nicht der Melderaten führen wird.

Bei Annahme einer hohen Wirksamkeit der Impfung auf die Rate der Infektionen (die Zulassungsstudien beziehen sich ja nur auf die symptomatischen Verläufe bei bereits Infizierten) werden in der ersten Märzwoche 2021 nur rund 20.000 von insgesamt 150.000 gemeldeten Infektionen (13 Prozent), aber in den Alterskohorten über 80 Jahre 3.200 von 4.700 Sterbefällen (68 Prozent) zu verhindern sein. Dies stellt ein weiteres Argument dafür dar, die Melderate und die daraus abgeleiteten Grenzwerte in den Begründungsszenarien der Politik zu relativieren.

Am Schluss dieses Einblicks in das siebten Thesenpapiers der Autorengruppe um Matthias Schrappe möchte ich eine der dort zu findenden neunzehn Thesen hier beispielhaft anführen (S. 35):

These 3: Die Realität der Covid-19-Epidemie im Jahr 2021 wird nicht durch "die Impfung", sondern durch das Handling und den möglichen Verlauf einer "Impfkampagne im nationalen (europäischen) Maßstab" gestaltet. Es droht allerdings ein Auseinanderfallen der Impf-basierten Prävention und der allgemeinen bzw. spezifischen nicht-pharmakologischen Prävention. Wird Letztere vernachlässigt, kann die Impfkampagne nicht erfolgreich sein, denn es wird immer die Notwendigkeit bestehen, für Impfversager (die Wirksamkeit liegt nicht bei 100 Prozent) und für den Schutz nicht-geimpfter Personen zu sorgen (fehlende Einwilligung, Kontraindikationen etc.). Es ist daher unumgänglich, die Wirksamkeitsprüfung der Impfstoffe durch eine Evaluation der von zahlreichen Umfeldfaktoren abhängigen Impfkampagne zu ergänzen (Versorgungsforschung).

Schlussfolgerungen

Das umfangreiche inzwischen siebte Thesenpapier der Autorengruppe um Matthias Schrappe enthält eine Reihe plausibel erscheinender Vorschläge für eine Verbesserung der Durchführung der angelaufenen Impfkampagne, die sich an die Verantwortlichen in Politik und Gesundheitswesen, aber auch die Öffentlichkeit richten.

Es lässt den interessierten Leser aber weitgehend im Unklaren, wie diese Vorschläge umgesetzt werden können. Das betrifft z. B. die Versorgungsforschung, die die Impfkampagne begleiten sollte, aber auch die Frage, wie die Meldung von Unerwünschten Arzneimittelwirkungen, die im deutschen Gesundheitswesen nicht gut etabliert ist, verbessert werden kann.

Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin- Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin- Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane.

Er ist Mitglied des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Nikotin-Tabakforschung e.V. (DGNTF) und arbeitet in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit.

E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de