Covid-19 und das Wetter

Sommer, Sonne - Saisonalität des Infektionsgeschehens? Foto: TreptowerAlex auf Pixabay (Public Domain)

Inzidenz auf Talfahrt: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Übertragung von Sars-CoV-2 und Saison? Mobilität, Wohnen und urbane Dichte sind wichtige Parameter

Das Wetter scheint Einfluss auf die Übertragung von Sars-CoV-2 zu haben. Seit Ende April schmelzen die Infektionszahlen dahin. Mancher hoffte schon im "Coronajahr" 2020, dass die Sommersonne dem Spuk der Pandemie ein Ende setzte. Doch mit der ersten Abkühlung im Herbst rollte eine zweite Infektionswelle heran, die das öffentliche Leben wieder lahmlegte.

Ist ein Zusammenhang real?

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach räumte Mitte Juni gegenüber der Bild ein, dass der Virologe Hendrik Streeck bezüglich der Saisonalität des Infektionsgeschehens recht gehabt haben könnte. Streeck hatte Anfang des Jahres gesagt, die Jahreszeit und das damit einhergehende Wetter hätten Einfluss auf die Infektionszahlen. Es sei "das typische Verhalten von Coronaviren", so Streeck , dass sie sich "über die Sommermonate hinweg nur noch auf einem niedrigen Level verbreiten". In der ZDF-Talkshow Markus Lanz hatte diese Position am 8. April noch für einen Lacher gesorgt.

Auf Twitter wies Lauterbach Mitte Juni auf eine "spannende und überraschende Studie zur Saisonalität der Sars-Cov2-Übertragung" hin. "Könnte bei über 40 Prozent liegen", schrieb er. "Bisherige Studien gaben viel geringere Werte. Ich ging auch von weniger aus. Das wäre gute Nachricht." Lauterbachs Kurswechsel in dieser Frage wird nicht unbedingt von den Kollegen der Zunft geteilt. Eine Reihe von Untersuchungen zur Thematik, bezogen auf Sars-CoV-2, liegen immerhin bereits seit 2020 vor. Auf sie nimmt ein Protokoll der Universität Oxford Bezug, dazu später mehr. Wir wollen aber auch neuere Analysen betrachten.

Bei aller Widersprüchlichkeit der Aussagen ist ein Zusammenhang zwischen der Sommersaison und dem drastischen Rückgang der Zahlen offenbar nicht von der Hand zu weisen - jedenfalls nicht pauschal. Es gilt, zu differenzieren und weitere Faktoren einzubeziehen.

Oxford-Protokoll, Juli 2020: "Offener Faktencheck"

Das Centre for Evidence-Based Medicine (CEBM) der Universität Oxford gab knapp vor Jahresfrist eine Bestandsaufnahme heraus und nannte diese Arbeit wohlweislich "ein Protokoll". Das gesetzte Thema lautete: "Umgebungswetterbedingungen und Einfluss auf die Übertragung von Sars-CoV-2".

Wir führen einen offenen Faktencheck zur Untersuchung von Faktoren durch, die einen Einfluss auf die Übertragung von Sars-CoV-2 haben, basierend auf dem veröffentlichten Protokoll. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung (3. Juli 2020) führte das CEBM 14 Studien an, die zur Rolle der Umgebungsbedingungen auf die Übertragung von Sars-CoV-2 Aussagen trafen. Zur selben Zeit verzeichnete man in einigen europäischen Regionen bereits eine relativ geringe Übertragung des Virus.

Die CEBM-Studienautoren sagen:

Unsere Ergebnisse ähneln den Nachweisen für Sars-CoV und Mers-CoV-2, dass eine kalte und trockene Umgebung das Überleben und die Inkubation des Virus begünstigt. Es wurde beobachtet, dass Coronaviren saisonal aktiv sind, mit einer Spitze an Fällen in den Wintermonaten.

Zu den untersuchten Aspekten der 14 angeführten Studien gehört auch das Überleben des Virus bei unterschiedlichen Temperaturen in Wasser oder in der Luft. Für Effekte innerhalb des menschlichen Organismus gingen Autoren von der Hypothese aus, dass eine Kombination aus niedriger Temperatur und Luftfeuchtigkeit die Nasenschleimhaut anfällig für kleine Risse macht, die den Coronaviren die Möglichkeit geben, gut in das Gewebe einzudringen.

Zu den sogenannten verschlimmernden Effekten werden hohe Verschmutzungsgrade, etwa durch Verkehr oder Industrie, und eine geringe Windgeschwindigkeit (Luftaustausch) gezählt. CEBM kommt zu folgender Schlussfolgerung:

Es ist wahrscheinlich, dass zumindest ein Teil dieses Zusammenhangs zwischen Wetterfaktoren und der Übertragung von SARS-CoV-2 real und wichtig ist.

(CEBM Protokoll, Juli 2020)

Die Oxforder Forscher verknüpfen ihre Feststellung mit der ausdrücklichen Warnung vor einer erhöhten Übertragungsrate während der Wintersaison. Die hat man offenbar nicht nur in Europa gründlichst überhört, möchte man ergänzen.

Jüngere Studien: Differenzieren!

Zwei jüngere Studien kommen, was den Einfluss des Wetters auf das Infektionsgeschehen angeht, einerseits zu dem Ergebnis "Nein, nur sehr wenig" und andererseits "Ja, wenn man statt des Wetters die Witterung meint".

In einem Fall haben Experten der US-Universitäten Texas, Ohio und West-Lafayette sich des Themas angenommen. Sie veröffentlichten ihre Ergebnisse im November 2020 im International Journal of Environmental Research and Public Health. Die Botschaft bremst allzu hohe Erwartungen: "Auf globaler bis regionaler Ebene fanden wir widersprüchliche Beziehungen zwischen dem Wetter und der Übertragungsrate (...)". Es lohnt sich aber, genauer hinzuschauen.

Die US-Forscher betrachteten unterschiedliche Einflussfaktoren mit dem Ziel, die Aussagen zu skalieren. Das Wetter sehen sie dabei unter anderem als Einflussfaktor, der das Verhalten der Menschen verändert - und damit die Bedingungen, unter denen das Virus von Mensch zu Mensch übertragen wird.

Reisen, Wohnsituation, urbane Dichte

Eine Analyse ihrer Daten ergab, dass Wetterparameter die Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung offenbar lediglich zu knapp drei Prozent beeinflussen. Als weitaus wirkmächtiger erwiesen sich dem Papier zufolge andere untersuchte Faktoren, so etwa das individuelle Reisen (mit 34 Prozent) oder allein schon der Aufenthalt außerhalb der Wohnung (mit 26 Prozent). Weitere starke Einflussfaktoren wurden identifiziert in der Bevölkerungsdichte (mit 23 Prozent) und, wenig überraschend, in der Bebauungsdichte (mit 13 Prozent).

Die US-Forscher erklären im Vergleich:

In der Rangfolge relativer Relevanz ist das Wetter einer der letzten Parameter.

(US-Studie, November 2020)

Unterschiedliche Schutzmaßnahmen der Länder oder auch Regionen, Wettervariabilität und der Beginn des Screenings auf Covid-19 machen es schwer bis geradezu unmöglich, verlässliche kausale Aussagen zu treffen. Auf einer feineren räumlichen Skala kann man aber die Faktoren Mobilitätsindex, Wohnsituation und urbane Dichte in Beziehung setzen, um die Möglichkeit von Vorhersagen zu verbessern.

Beim Einfluss des Wetters spielen Temperatur und Luftfeuchtigkeit eine Rolle, auch hier bleibt deren Wirkung und Wechselwirkung auf die Ausbreitung von Covid-19 in der Bevölkerung aber zu diskutieren; strenge Kausalitäten wagt niemand geltend zu machen. Nochmal: Das Wetter an sich wird in der US-Studie als "nicht-einflussreicher Faktor" identifiziert (relative Bedeutung weniger als drei Prozent).

Das Potenzial der solaren UVR

Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet eine Expertengruppe der Universität Wien die Wirkung des Wetters auf die Wahrscheinlichkeit einer Covid-19-Infektion. Die Forscher untersuchten, inwiefern die natürliche UV-Strahlung ausreicht, das Virus zu hemmen bzw. zu zerstören und damit die Virenkonzentration in der Luft zu reduzieren.

Ihre Arbeit erschien Anfang des Jahres in dem Fachblatt Photochemistry and Photobiology Die Autoren schreiben:

Unsere Ergebnisse zeigen, dass die UV-Strahlung der Sonne ein hohes Potenzial zur Inaktivierung von Coronaviren aufweist. Das konkrete Ausmaß hängt jedoch stark vom Standort und der Jahreszeit ab.

(Potential of Solar UV Radiation for Inactivation of Coronaviridae Family, Jan/Feb 2021)

Die ultraviolette Strahlung der Sonne (Solar ultraviolet radiation, UVR) wirkt bekanntermaßen als natürliches Viruzid. Die viruzide Wirksamkeit hängt von der Empfindlichkeit des Virus gegen UVR und von der Intensität der einfallenden Strahlung ab, die auf das Virus trifft. Die Strahlungsintensität ist im Winter geringer als im Sommer, wenn die Sonne mittags fast senkrecht am Himmel steht und einen verkürzten Weg bis zu bodennahen Luftschichten zurücklegen muss.

Sofern die Sonne - hierzulande im Winter auch zur Mittagszeit - flach am Himmel steht, muss die Strahlung einen weiteren Weg durch die Atmosphäre zurücklegen, bevor sie den Boden erreicht. Dabei wird ein Gutteil der UV-Strahlung herausgefiltert.

Hinzu kommen im Winter Nebel, Ruß und Feinstaub (vermehrt aus Heizungen) und der dichte Individualverkehr, so dass die Luft "schmutzig" ist und daher weniger Strahlung durchdringt. Und es kommt noch etwas hinzu: Im Winter ist die Haut der meisten Menschen sonnen-entwöhnt. Zwischen Oktober und März ist die UV-Strahlung im Flachland Mitteleuropas sehr schwach, sodass in der Haut kein Vitamin D gebildet werden kann. Über Vitamin D ist auch im Zusammenhang mit Covid-19 viel geschrieben worden. Fest steht: Die saisonalen Schwankungen der Strahlung sind durchaus medizinisch-physiologisch relevant.

Wien, São Paulo, Reykjavik

Die Forscher der Veterinärmedizinischen Universität Wien verglichen die Überlebensrate der Viren unter natürlicher UV-Strahlung in der österreichischen Hauptstadt und im subtropischen São Paulo (Brasilien) sowie in Reykjavik (Island). In Island reicht die Strahlungsintensität nur in den Sommermonaten Juni und Juli aus, um Coronaviren zu neutralisieren. Innerhalb von 30 bis 100 Minuten sind 90 Prozent der Viren vernichtet, nach einem Tag so gut wie alle Viren. Im äquatornahen Brasilien funktioniert dieser Effekt während des gesamten Jahres. In Mitteleuropa reicht die UV-Strahlung im Frühjahr, Sommer und Herbst aus, in akzeptabler Zeit 90 Prozent der Viren abzutöten; im Sommer geht das besonders rasch.

Gerade das Beispiel São Paulo dürfte aber die Grenzen der frohen Botschaft aufzeigen. In fast keinem Land der Welt gibt es so viele Corona-Tote wie in Brasilien; im Verhältnis fast zweimal so viele wie hierzulande. Eine hohe Zahl an Todesfällen trifft dort Kinder in der Altersgruppe von null bis neun Jahren. Hier fehlt es auf ganzer Linie an belastbaren Erklärungen.

Für die Forscher ist die UV-Strahlung im Frühjahr, Sommer und Herbst zwar der wichtigste natürliche Begrenzungsfaktor für das Überleben des Virus im Freien. Eine direkte Übertragung von Person zu Person bleibt aber weiterhin das Schreckgespenst. Auch im Sommer, wenn wolkenloser Himmel für die Luftdesinfektion eigentlich ideal ist, bleibt eine Covid-19-Infektion unter freiem Himmel im direkten Kontakt möglich. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass andere Faktoren wie Oberflächentyp, Lufttemperatur und Luftfeuchtigkeit eine weit geringere Rolle spielen.

Betrachtet man die Ergebnisse beider Studien, so scheint der Einfluss kurzfristiger variabler Wettereffekte gering, die saisonale Veränderung der Witterung aber durchaus relevant. Mit den Jahreszeiten verändert sich auch das Auftreten bestimmter Wetterlagen. Ein sonniger November reicht aber dennoch nicht für eine effektive UV-Sterilisation der Atemluft, dafür steht die Sonne zu tief am Himmel.

"Starkes saisonales Muster"

Allerdings wurde eine Verbreitung von Sars-CoV-2 in fast allen Ländern der Erde unabhängig von der Jahreszeit beobachtet, und auch in Deutschland kam es im Sommer zu Übertragungen und Ausbrüchen. Hörbar ist die Warnung für eine erhöhte Übertragung während der Wintersaison allemal; hoffentlich trifft sie im Sommer 2021 auf offene Ohren.

"Die Vielfalt möglicher Ursachen macht es außerordentlich schwierig, die verschiedenen saisonalen Faktoren voneinander zu trennen", erklären die Forscher der jüngsten Oxford-Studie, auf die Karl Lauterbach sich bezog. Eine der Thesen lautet: Die UV-Strahlung könnte die RNA im Virus aufbrechen. Damit wäre der Erreger nicht mehr aktiv und somit auch nicht mehr in der Lage, sich weiter zu verbreiten.

"Ein starkes saisonales Muster" erkennt Studienautor Jan Kulveit jedenfalls. Dies deutet darauf hin, dass die Saisonalität einen stärkeren Effekt hat als bisher angenommen. Das betrifft auch die Mutationen wie die deutlich infektiösere Delta-Variante. Die Daten beziehen sich aber lediglich auf Europa und eine Sommer-Winter-Periode: "In anderen Klimazonen ist die Saisonalität wahrscheinlich anders", erklärt Kulveit. Und damit sind wieder viele Fragen offen.