Covid-19 und das wissenschaftliche Experiment auf nationaler und globaler Ebene

Wissenschaftler haben wohl erstmals in einem ungeahnten Ausmaß die Steuerung von Gesellschaften nach wissenschaftlichen Modellen übernommen. Ob das gut geht?

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Es sieht so aus, als seien die Schlussfolgerungen einer WHO-Studie aus dem letzten Jahr richtig gewesen. Dort hieß es, dass die meisten jetzt angesichts der Coronavirus-Epidemie umgesetzten harten nicht-pharmazeutischen Maßnahmen wie Ausgangssperren, Grenzschließungen, Quarantäne, social distancing etc. in keinem Fall empfohlen werden. Handhygiene, richtiges Niesen und Husten, erhöhte Sauberkeit, Gesichtsmasken für Infizierte und Isolation von Infizierten, Reisewarnungen werden empfohlen, als weitere Stufe Vermeidung von Massen, bei einer starken Epi- oder Pandemie auch Schulschließungen, im Notfall auch Arbeitsmaßnehmen oder -verbote und interne Reisebeschränkungen (WHO-Studie findet kaum Belege für die Wirksamkeit von Eindämmungsmaßnahmen).

Bestätigt wird dies durch einen Bericht des Robert-Koch-Instituts, der vorab am 22. April veröffentlicht wurde. Dort heißt es: "Die R-Schätzung ergibt für Anfang März Werte im Bereich von R = 3, die danach absinken, und sich etwa seit dem 22. März um R = 1 stabilisieren. Am 9. April lag der Wert von R bei 0,9 (95 %-PI: 0,8 - 1,1)." Der Wert war mithin noch vor der Verhängung der strengen Maßnahmen zum Kontaktverbot vom 23. März bereits auf einen Wert gesunken, der seitdem stabil blieb, aber nur noch um 0,1 absank.

Das würde bedeuten, dass vor allem das Verbot von Massenveranstaltungen vom 9. März in einigen Bundesländern oder zuvor schon Verhaltensveränderungen der Menschen wirksam waren, die Veranstaltungen mieden. Die weiteren Einschränkungen vom 16. März (Schließung von nicht notwendigen Geschäften, Kneipen, Theater, Messen, Sportbetrieben, Hotels für Tourismus etc.) können eigentlich kaum R bis zum 22. März groß beeinflusst haben. Bis dahin waren Restaurants noch bis 18 Uhr geöffnet und Besuche in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen nur beschränkt, nicht untersagt (Die drastischen Corona-Verbote bringen kaum etwas).

Der Bericht sieht das allerdings anders: "Unter Anderem die Einführung des bundesweit umfangreichen Kontaktverbots führte dazu, dass die Reproduktionszahl auf einem Niveau unter 1/nahe 1 gehalten werden konnte." Ob das zutrifft? Ab Mitte März ist die Mobilität der Deutschen stark gesunken, um bis zu 40 Prozent, ab Ende März stieg die Mobilität wieder an, was auch zeigen könnte, dass das Kontaktverbot, vielleicht weil es zu wenig streng überwacht wurde, an Wirkung verlor. Wahrscheinlich hat es aber dennoch die Mobilität nicht so stark nach oben schnellen lassen, wie es zu erwarten gewesen wäre, wenn es bei den laxeren Einschränkungen geblieben wäre.

Hintergrund ist, dass Maßnahmen wie Kontaktsperren die Kurve flacher machen (flattening the curve), also die exponentielle Verbreitung der Pandemie stoppen sollen, damit sie für das Gesundheitssystem bewältigbar wird. Das Lockdown, das dies bewerkstelligen soll, hat allerdings zahlreiche Folgen, nicht zuletzt wirtschaftlich und durch Einkommensausfälle auch sozial.

Trolley-Dilemma von Seuchenbekämpfungsmaßnahmen zwischen Menschenleben und Wirtschaftsverlusten

Eine Studie von chinesischen und amerikanischen Wissenschaftlern, die am 16. April auf arXiv-org veröffentlicht wurde und nach der Kosteneffektivität der Anti-Covid-Maßnahmen fragt, kommt zu dem Ergebnis, dass die Gefahr bestünde, dadurch die Wirtschaft eines Landes zum Zusammenbruch zu führen, ohne dass die Zahl der Infektionen wesentlich gesenkt würde: "Der Wendepunkt wird niemals kommen, der Spitzenwert der Fallzahlen wird derselbe bleiben, als hätte es keine solchen Maßnahmen gegeben."

Mit empirischen Daten aus China wurde ein Modell erstellt zur Analyse der Erfolge a) regelmäßiger epidemiologischer Kontrolle (Identifizierung der Infektionen, Verfolgung der Kontakte, Quarantäne), b) lokaler Kontrolle der sozialen Kontakte (Homeoffice, Schließung von Schulen, Verbot von Veranstaltungen, Lockdown von Wohnvierteln) und c) Reisebeschränkungen zwischen Städten auf nationaler Ebene, wozu auch Temperaturmessung gerechnet wird. So hätten die 300.000 Menschen, die Wuhan am Tag vor dem Beginn des Lockdowns verlassen haben, auf nationaler Ebene die Epidemie-Bekämpfung nicht beeinträchtigt. Letztere Maßnahme habe nur minimale, wenn nicht negative Folgen.

Insgesamt komme es nicht auf die Höhe der aktuellen Fallzahlen an, um einen Wendepunkt zu erreichen, sondern auf die Durchsetzung der Maßnahmen zur epidemiologischen Kontrolle und der der sozialen Kontakte: "Eine massive Durchsetzung zu einem frühen Zeitpunkt ist die einzige Möglichkeit, die anti-epidemische Wirksamkeit und Kosteneffizienz zu maximieren." Am schlechtesten sollen Strategien fahren, die nur mit einer mäßigen Konsequenz soziale Kontakte reduzieren. Wenn es zu viele Lücken gibt, sinke die Zahl der Neuinfektionen zu wenig, während die ökonomischen Verluste hoch sind.

Am besten wären Staaten gefahren, die zu Beginn der Epidemie schnell Maßnahmen der Kategorien a und b eingeführt und eine Eliminierungsstrategie gefahren haben. Das seien etwa China, Vietnam, Bahrain, Hongkong u.a. gewesen. Durchgeführt wurde hier umfassendes Testen und Zurückverfolgung der Kontakte sowie "aggressive Maßnahmen der sozialen Distanzierung" (Schließung von Schulen, Arbeitsplätzen, öffentlichen Verkehrsmitteln, Verbot von Veranstaltungen). Das führe zu wirtschaftlichen Verlusten von 40-90 Prozent monatlich, die weiter steigen, wenn die Epidemie nicht vollständig eliminiert werden kann. Die Kosten für die Eliminierung würden untragbar hoch sein. Daher empfehlen die Wissenschaftler die Kontrollstrategie.

Die Kontrollstrategie haben nach den Wissenschaftlern Südkorea, Singapur, Katar, Norwegen, Slowenien, Norwegen, Russland und Neuseeland angewendet, die damit die Reproduktionszahl unter 1 gebracht haben. Hervorgehoben wird Singapur, das bereits im Februar milde Maßnahmen eingeführt habe, die das Alltagsleben nicht durch aggressive soziale Distanzierung verändert haben. Regelmäßige epidemiologischen Kontrollen konnten die Zahl der täglichen Neuinfektionen auf 10 beschränken, wirtschaftliche Einbußen waren mit Verlusten zwischen 0,5 und 4 Prozent gering. Kontrolle sei aber auch eine heikle Strategie, weil das Risiko besteht, dass Infektionen unentdeckt bleiben, die dann zu einer Systemüberlastung führen, wie das zumindest Anfang April in Singapur passiert. Sollte dies passieren, empfehlen die Wissenschaftler schnell die Umschaltung zur Eliminierungsstrategie.

Die meisten Länder werden der Verzögerungsstrategie (flatten the curve) zugerechnet, bei der die Reproduktionszahl größer als 1 ist. Es wird nicht versucht, die Reproduktionszahl möglichst schnell möglichst klein zu machen, sondern nur das Wachstum durch mäßige Maßnahmen zu verlangsamen, vielleicht weil auf einen Impfstoff oder die Abschwächung von Covid-19 im Sommer gesetzt wird. Das sei die schlechteste Strategie, wenn es um die Kosten geht. Deutschland wird dieser Gruppe zugerechnet, hat aber fast eine Kontrollstrategie.

Die Maßnahmen b und c können zu enormen wirtschaftlichen Verlusten führen, also zu steigender Arbeitslosigkeit, Lebensmittelknappheit, Verknappung der medizinischen Versorgung etc., was auch das Leben von bestimmten Gruppen gefährden kann. Man könne zwar, so die Autoren, das Leben und die Gesundheit von Menschen nicht mit Geld bewerten, dennoch sei es hilfreich für Politiker, die Kosten jeder Maßnahme und die Effektivität der Lebensrettung zu kennen, um anti-epidemische Strategien vergleichen zu können.

Wissenschaft am Ruder

Deutlich wird an solchen Auseinandersetzungen und Ansätzen zu messen, welche Faktoren die Ausbreitung der Pandemie bestimmen oder einschränken, dass sich viele Gesellschaften in die Hände von Wissenschaftlern begeben haben, die letztlich gerade ein Großexperiment auf nationaler und internationaler Ebene mit unterschiedlichen Modellen durchführen. Dabei geht es primär darum, die Pandemie kontrollieren zu können, alle anderen Faktoren oder Nebenwirkungen bleiben sekundär. Historisch neu aber ist zweifellos, dass die Wissenschaft zur primären Instanz wurde, wie politisch vorgegangen wird, wobei die Kontrolle der Fahrrichtung durch Erhebung und Auswertung bestimmter quantitativer Werte möglichst fast in Echtzeit geschieht. Allerdings gibt es auch Politiker wie Trump oder Bolsanaro, die glauben, es selbst besser zu wissen als die Wissenschaft oder die Wissenschaftler.

Eine Flut von eilig geschriebenen wissenschaftlichen Veröffentlichungen über diesen oder jenen Aspekt der Pandemie verhindert jede Übersicht, die Wissenschaftler, die als Chefberater fungieren, verfolgen ihre unterschiedlichen Strategien, an diesen oder jenen Stellschrauben zu drehen, um dieses oder jenes Ziel von der Herdenimmunität über "flatten the curve" oder Kontrolle bis zur Eliminierung zu erreichen. Zwar mischt die WHO mit und gibt es internationalen Druck, aber im Prinzip handelt jeder Staat für sich alleine - was der Wissenschaft einen Vergleich der Modelle erlauben wird.

Durch Notverordnungen und gesundheitliche Ausnahmezustände werden die Menschen in den Ländern zu Versuchsteilnehmern in den Großexperimenten, ohne eingewilligt zu haben. Zudem sind die Wissenschaftler fachintern oder fachübergreifend durchaus nicht einer Meinung. Das ist auch deswegen so, weil eine Gesellschaft so komplex ist, dass sie trotz allen Bemühens nicht wie eine Maschine konstruiert werden kann, für die Eingabe- und Ausgabewerte festgelegt werden können.

Da im Voraus auch die Wissenschaftler nicht wissen, sondern nur durch Simulationen auf der Basis von Modellen abschätzen können, welche epidemiologischen, wirtschaftlichen oder sozialen Folgen eine Steuerung von Gesellschaften nach bestimmten Parametern oder als komplexe Maschinen haben werden, werden sich Ergebnisse, welche Länder besser gefahren sind, erst im Nachhinein zeigen. Bestenfalls.

Ist das gefährlich? Es ist neu, aber Regierungen haben sich immer beraten lassen, wobei auch Wissenschaften eine Rolle spielten. Wird es gefährlicher, wenn Wissenschaftler die Leitlinien setzen? Eigentlich nein, denn Regierende veranstalten immer Experimente mit den Gesellschaften, die sie kontrollieren, solange sie dies können. Aber sie werden politisch gebremst: durch Wahlen, durch Proteste und Revolten, durch Meinungsbildungsprozesse im Volk, gleich ob es sich um demokratische oder autoritäre Systeme handelt.

Wissenschaftler hingegen wollen optimale Versuchsbedingungen schaffen, um die Wirksamkeit der Maßnahmen kontrollieren und wissenschaftlich, also anhand von empirischen Daten, erfassen zu können. Dabei spielen Meinungsbildungsprozesse keine Rolle, weswegen Maßnahmen zur Konstruktion der Versuchsbedingungen aufgrund von Hypothesen durch vorhergehende Studien, die selektiv ausgewählt werden, verordnet werden. Unter den Bedingungen einer womöglich hochgefährlichen Pandemie muss schnell gehandelt werden, was auch die Parlamente unter Zwang setzt, den Maßnahmen zuzustimmen, um nicht bezichtigt zu werden, Menschenleben aus Nachlässigkeit oder wissenschaftlicher Ignoranz zu opfern.

Bewegungen wie Fridays for Future hatten vor Covid-19 bereits gefordert, dass die Politik der Wissenschaft folgen sollte, um die Klimaerwärmung einzudämmen, also auch "flatten the curve" und das sollte gleich geschehen. Jetzt haben nicht die Klimawissenschaftler, sondern Virologen, Epidemiologen, Medizininformatiker und Biostatistiker das Ruder in einer Situation übernommen, die auch für sie neu ist - und die Falsifikation wartet. Um das Experiment zu ermöglichen, wurden die Versuchsbedingungen festgelegt, durch Einschränkung der Grundrechte und Verhaltensge- und verbote. Das Vertrauen in die Wissenschaft könnte schnell schwinden, die Menschen könnten wie in gesundheitlichen Belangen der "Schulmedizin" den Rücken kehren und zu "Alternativen" übergehen. Das hat sich in den Auseinandersetzungen über die Klimapolitik schon gezeigt. Das könnte sich jetzt wiederholen.