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Cyberkultur

Universalität ohne Totalität

Der Cyberspace mit seinen unendlich miteinander verbundenen Hypertexten verändert die Struktur unseres Wissens radikal. Der französische Philosoph Pierre Lévy stellt die Konturen der künftigen Cyberkultur vor, die auf den Wogen des unübersichtlichen Informationsmeeres schwimmt und eine neue Art des kollektiven Wissens hervorbringt.

Pierre Lévy ist Professor für Informations- und Kommunikationswissenschaften am Hypermedia- Depertment der Universität St. Denis in Paris. In Telepolis finden Sie einen weiteren Beitrag von ihm: Städte, Territorien und Cyberspace

Die zweite Sintflut

In einer meiner Veranstaltungen an der Universität mit dem Titel "digitale Technologien und kulturelle Mutationen" bitte ich jeden Studenten, einen kleinen Vortrag von 10 Minuten zu halten. Danach sollen sie mir eine Zusammenfassung von zwei Seiten mit einer Bibliographie geben, die für die anderen kopiert werden kann, wenn sie am Thema interessiert sind.

Im letzten Jahr gab mir ein Student die zwei Seiten und sagte mit einer ein wenig geheimnisvollen Attitüde: "Hier ist es! Es handelt sich um ein virtuelles Exposé!" Ich sah mit seine Arbeit über Instrumente der digitalen Musik durch und konnte nicht entdecken, in was es sich von gewöhnlichen Zusammenfassungen unterschied: ein Titel in fettgedruckten Buchstaben, Untertitel, unterstrichene Worte in einem meist gut formulierten Text, eine Bibliographie. Ich machte mich über meine Skepsis lustig, ging zum Computerraum und setzte mich mit ein paar anderen Studenten, die mir gefolgt waren, vor die Bildschirme. Dann entdeckte ich, daß die zweiten der Zusammenfassung, die ich auf Papier erhalten hatte, aus dem Web abgedruckt worden waren.

Anstelle eines lokalisierten Textes, der auf einem Träger aus Zellulose fixiert ist, anstelle eines kleinen Territoriums mit einem Autor als Eigentümer, einem Beginn, einem Ende und Rändern, die Grenzen bilden, war ich mit einem dynamischen, offenen, allgegenwärtigen Dokument konfrontiert, das mich auf einen praktisch unendlichen Korpus an Texten verwies. Derselbe Text hatte sich in seinem Wesen verändert. In beiden Fällen spricht man von Seiten, aber im ersten Fall ist es ein "pagus", ein begrenzter Raum, ein Eigentum, ein Feld verwurzelter Zeichen, und im zweiten eine bewegliche Einheit, die den Kapazitätsgrenzen in den Netzen unterworfen ist. Auch wenn man diese Charakterisierung auf Artikel oder Bücher bezieht, ist die Seite im ersten Fall materiell geschlossen, während sie uns im zweiten Fall technisch und direkt mit den Seiten anderer Dokumente verbindet, die über die ganze Erde verstreut sind und die sich wiederum endlos auf andere Seiten, auf andere Tropfen desselben weltweiten Ozeans von zirkulierenden Zeichen beziehen.

Ausgehend von der Erfindung einer kleinen Gruppe des CERN hat sich das World Wide Web unter den Benutzern des Internet wie ein Kondensstreifen ausgebreitet, um innerhalb weniger Jahre zu einer der wichtigsten Achsen in der Entwicklung des Cyberspace zu werden. Das bringt vielleicht nur eine vorläufige Tendenz zum Ausdruck. Deswegen stelle ich die Hypothese auf, daß uns das unaufhörliche Wachstum des Web auf einige wesentliche Merkmale einer Kultur hinweist, die gerade am Entstehen ist.

Eine Webseite ist ein Element, ein Bestandteil des nicht zu fassenden Korpus aller Dokumente des World Wide Web. Doch durch die Verbindungen, die sie zum Rest des Netzwerkes herstellt, durch die Kreuzungen und Verzweigungen, die sich anbietet, stellt sie auch eine organisatorische Selektion, eine strukturierende Kraft, einen Filter dieses Korpus dar. Jedes Element dieses unentwirrbaren Knäuels ist gleichzeitig ein Informationspaket und ein Navigationsinstrument, ein Bestandteil des Archivs und ein eigener Blickpunkt über dieses Archiv. Auf der einen Seite ist die Webseite das Tröpfchen eines Stromes und auf der anderen Seite ist sie ein einzigartiger Filter des Informationsmeeres.

Auf dem Web befindet sich alles auf der gleichen Fläche. Deswegen ist alles differenziert. Es gibt keine absolute Hierarchie, sondern jede Seite ist ein Selektionsmittel, eine Weiche oder eine bestimme Hierarchisierung. Das Web, weit davon entfernt, eine gestaltlose Masse zu sein, verbindet eine offene Vielzahl von Gesichtspunkten, doch diese Verbindung wird transversal verwirklicht, als Rhizom, ohne göttlichen Gesichtspunkt, ohne überragende Vereinheitlichung. Neue Instrumente der Indexierung und der Suche müssen erfunden werden, was die vielen aktuellen Forschungsarbeiten über die dynamische Kartographie der Datenräume bezeugen, z.B. die Entwicklung von intelligenten "Agenten" oder von kooperierenden Informationsfiltern. Trotzdem ist wahrscheinlich, daß der Cyberspace, wie auch immer die Navigationstechniken sich entwickeln werden, seinen überquellenden, offenen, radikal heterogenen und nicht totalisierbaren Charakter bewahren wird.

Die zweite Flut und die Unerreichbarkeit des Ganzen

Ohne semantische oder strukturelle Schließung ist das Web nicht mehr in der Zeit fixiert. Es dehnt sich, bläht sich auf und verändert sich dauernd. Es ist im Fluß und zeigt so mit seinen unzähligen Quellen, seinen Turbulenzen, seinem unaufhaltbarem Anstieg den Kern der zeitgenössischer Information. Jeder Speicher, jede Gruppe, jedes Individuum, jedes Objekt kann zum Sender werden und die Wellen verstärken. Roy Ascott nennt das, bildlich gesprochen, die zweite Flut - die Informationsflut. Ob zum Besseren oder Schlechteren folgt auf diese Flut keine Ebbe. Wir müssen uns an diese verschwenderische Fülle und an diese Unordnung gewöhnen. Ohne kulturelle Katastrophe wird uns keine große Wiederherstellung der Ordnung, keine zentrale Autoritität wieder auf festen Boden oder stabile und gut vor der Überschwemmung gesicherte Landstriche führen.

Die geschichtliche Umorientierung des Bezugs zum Wissen läßt sich zweifellos am Ende des 18. Jahrhunderts sehen, im Augenblick des fragilen Gleichgewichts, wo die alte Welt am schönsten blühte, während der Rauch der industriellen Revolution bereits die Farbe des Himmels zu verändern begann. Es war die Zeit als Diderot und d'Alembert ihre große Enzyklopädie herausgaben. Bis zu dieser Zeit konnte eine kleine Gruppe die Gesamtheit des Wissens (oder zumindest die wichtigsten Elemente) beherrschen und anderen das Ideal dieser Beherrschung vermitteln. Das Wissen war noch totalisierbar, man konnte es noch zusammenfassen.

Seit dem 19. Jahrhundert wurde das Projekt einer Beherrschung des Wissens seitens eines Individuums oder einer Gruppe mit der Vergrößerung der Welt, der fortschreitenden Entdeckung ihrer Verschiedenartigkeit und der immer schneller wachsenden wissenschaftlichen und technischen Kenntnisse mehr und mehr illusionär. Heute ist es offensichtlich und für alle begreifbar geworden, daß das Wissen endgültig nicht mehr totalisierbar und beherrschbar ist. Wir müssen dieses Projekt aufgeben.

Von der großen Arche zu mobilen Flottillen

Die Entstehung des Cyberspace bedeutet keineswegs, daß jetzt alles zugänglich sei, sondern vielmehr, daß das Ganze endgültig außer Reichweite ist.

Wie kann man sich vor der Flut retten? Sollen wir uns in die Arche begeben? Die Vorstellung, daß wir uns eine Arche bauen könnten, die das Wichtigste enthält, würde gerade heißen, sich der Illusion der Totalität hinzugeben. Wir alle, Institutionen, Gemeinschaften, Menschengruppen und Individuen, müssen Sinn erzeugen, uns in vertrauten Zonen einrichten, uns im umgebenden Chaos zurechtfinden. Aber einerseits muß jeder seine partiellen Totalitäten auf seine Weise nach seinen eigenen Bedeutungskriterien errichten und andererseits sollten diese Zonen einer angeeigneten Bedeutung äußerst beweglich, veränderlich, im Werden begriffen sein. Das Bild der großen Arche sollten wir durch das der Flottille kleiner Archen, Kähne und Hausboote ersetzen, durch eine Milliarde kleiner unterschiedlicher, offener und provisorischer Totalitäten, die von aktiver Filterung durchdrungen sind und sich ständig durch das Können der intelligenten Kollektive verändern, die sich mit den großen Wassermassen der informationellen Sintflut überkreuzen, gegen sie prallen oder sich mit ihnen vermischen.

Die zentralen Metaphern des Verhältnisses zum Wissen sind heute die Navigation und das Surfen. Sie beinhalten die Fähigkeit, mit den Wellen, den Strudeln, den Strömungen und den gegensätzlichen Winden auf einer unbegrenzten und sich stetig verändernden großen Fläche zurechtzukommen. Die alten Metaphern der Pyramide (das Besteigen der Wissenspyramide), der Leiter oder des Studiengangs lassen hingegen die unbeweglichen Hierarchien der Vergangenheit wiedererstehen.

Das Verhältnis zum Wissen und die materiellen Hilfsmittel

Die Geschichte, die materielle Hilfsmittel und das Verhältnis zum Wissen verbindet, läßt sich schematisch durch die Interferenzen und Überschneidungen von vier idealen Formen darstellen.

Die erste Form: In den Gesellschaften vor der Schrift war das praktische, mythische und rituelle Wissen in der lebendigen Gemeinschaft verankert. Wenn ein alter Mensch starb, brannte eine Bibliothek ab.

Die zweite Form: Mit der Schrift ging das Wissen in das Buch über. Das Buch war einzigartig, unendlich deutbar, transzendent. Man nahm an, daß es alles enthielt: die Bibel, der Koran, die heiligen Texte, die Klassiker, Konfuzius, Aristoteles. Der Interpret war der Herr des Wissens.

Die dritte Form: Seit dem Buchdruck und bis vor kurzem geisterte die Gestalt des Weisen, des wissenschaftlich Gebildeten, die der Enzyklopädie herum. Das Wissen kommt nicht mehr aus dem Buch, sondern aus der Bibliothek. Es wurde durch ein Netz von Verweisen strukturiert, das vielleicht schon immer ein Vorschein des Hypertextes war.

Die Deterritorialisierung der Bibliothek, zu der wir heute beitragen, kann nur das Vorspiel für den Beginn einer vierten Form des Verhältnisses zum Wissen sein. Durch eine Art Rückkehr in der Spirale zur ursprünglichen Oralität, könnte das Wissen eher wieder durch lebendige menschliche Gemeinschaften getragen werden als durch die davon abgespaltenen Arbeitsleistungen der Interpreten und Weisen. Nur ist der unmittelbare Träger des Wissens dieses Mal im Unterschied zur archaischen Oralität nicht mehr die körperliche Gemeinschaft und deren fleischliches Gedächtnis, sondern der Cyberspace, der Ort der virtuellen Welten, durch deren Vermittlung die Mitglieder der Gemeinschaft ihre Objekte entdecken und konstruieren und sich selbst als intelligente Kollektive erkennen.

Die Reinkarnation des Wissens

Webseiten, um wieder zum Beispiel des Beginns zurückzukehren, bringen die Ideen, Wünsche, Erkenntnisse und Angebote zum Austausch von Personen und Gruppen zum Ausdruck. Hinter dem großen Hypertext steckt das Gewimmel der Menge und ihrer Beziehungen. Im Cyberspace wird das Wissen nicht mehr als etwas Abstraktes oder Transzendentes verstanden: Es wird mehr und mehr sichtbar - und in Echtzeit sogar begreifbar -, da es der Ausdruck einer Population ist. Die Webseiten sind nicht nur wie die Papierseiten mit Unterschriften versehen, sie eröffnen auch oft über Email, elektronische Foren oder andere Kommunikationsformen in virtuellen Welten wie den MUDs oder MOOs eine direkte, interaktive Kommunikation. Daher sind die digitalen Netzwerke, ganz im Gegensatz zu der in den Medien kursierenden Meinung von der Kälte des Cyberspace, mächtige Faktoren der Personalisierung oder der Verleiblichung des Wissens.

Genauso wie die Kommunikation mit dem Telefon die Menschen nicht davon abhielt, sich auch körperlich zu begegnen, da man telefonisch Treffen ausmachen kann, geht die Kommunikation mittels elektronischer Botschaften oft Reisen, Konferenzen oder geschäftlichen Treffen vorher. Selbst wenn sie nicht von einer leiblichen Begegnung begleitet wird, enthält die Interaktion im Cyberspace eine Form der Kommunikation. Aber, so hört man immer wieder, manche halten sich stundenlang "vor dem Bildschirm" auf und isolieren sich von den anderen. Solche Exzesse sollten natürlich nicht verstärkt werden. Doch sagt man auch von jemandem, der etwas liest, daß er "stundenlang vor dem Papier sitzt"? Nein, weil derjenige, der liest, nicht in Beziehung zu einem Blatt aus Zellulose steht, sondern mit einem Diskurs, mit Stimmen, mit einem Universum an Bedeutung, zu dessen Konstruktion er beiträgt und das er durch seine Lektüre bewohnt. Daß der Text sich jetzt auf dem Bildschirm befindet, ändert daran nicht. Es handelt sich immer um eine Lektüre, auch wenn sich die Modalitäten von dieser verändern.

Die Schrift und das Universelle

Um die gegenwärtige Mutation richtig zu verstehen, muß man in Gedanken zur ersten großen Transformation innerhalb der Ökologie der Medien zurückkehren: zum Übergang der mündlichen Kultur zur Schriftkultur. Der Cyberspace wird die Praxis der Kommunikation wahrscheinlich - und sogar schon heute sichtbar - ebenso radikal beeinflussen, wie dies in der Zeit gewesen ist, als die Schrift erfunden wurde.

In den mündlichen Gesellschaften wurden die linguistischen Botschaften stets zu der Zeit und an dem Ort empfangen, von denen aus sie gesendet wurden. Sender und Empfänger befanden sich in einer identischen Situation und meistens in einem ähnlichen Bedeutungsuniversum. Die Kommunizierenden nahmen ihr Bad im selben semantischen Becken, im selben Kontext, im selben lebendigen Fluß der Interaktion.

Die Schrift hat einen für die mündlichen Gesellschaften unbekannten Kommunikationsraum eröffnet, indem es möglich wurde, Botschaften zu empfangen, die von Tausenden von Kilometern entfernten Menschen hergestellt wurden oder von solchen, die bereits seit Jahrhunderten tot waren oder sich über riesige kulturelle und soziale Entfernungen hinweg ausdrückten. Seitdem befanden sich die Kommunikationsteilnehmer nicht mehr notwendigerweise in derselben Situation und standen nicht mehr in direkter Interaktion.

Da die Botschaften jenseits der Sende- und Empfangsbedingungen weiter existieren, befinden sich schriftliche Botschaften "jenseits des Kontextes". Dieses "Jenseits des Kontextes" - das sich erst mit der Ökologie der Medien und deren Kommunikationspraxis offenbart - wurde durch die Kultur legitimiert, sublimiert und verinnerlicht. Es sollte zum Kern einer bestimmten Rationalität werden und schließlich zum Begriff der Universalität führen.

Es ist schwierig, eine Botschaft zu verstehen, wenn sie von ihrem lebendigen Herstellungskontext abgelöst wird. Deswegen erfand man von Seiten der Rezeption die Künste der Interpretation, der Übersetzung, eine ganze linguistische Technik (Grammatiken, Wörterbücher ...). Auf der Seite der Sender suchte man Botschaften herzustellen, die überall zirkulieren konnten und von ihren Herstellungsbedingungen unabhängig waren, die soweit wie möglich ihre Interpretationsschlüssel oder ihre "Vernunft" enthalten sollten. Diesem praktischen Ziel entspricht die Idee des Universellen. Im Prinzip muß man sich nicht an einen lebendigen Zeugen, an eine äußerliche Autorität, an Gewohnheiten oder an Bestandteile einer kulturellen Umwelt wenden, die für das Verständnis und für die Billigung der in den "Elementen" von Euklid formulierten Aussagen spezifisch wären. Dieser Text beinhaltet die Definitionen und Axiome, aus denen man die Theoreme zwingend ableiten kann. Die "Elemente" sind eines der besten Beispiele einer selbstgenügsamen, selbsterläuternden und ihre eigenen Grundlagen entfaltenden Botschaft, die in einer mündlichen Kultur keine Bedeutung besäße.

Die klassische Philosophie und Wissenschaft orientieren sich jede auf ihre Weise an der Universalität. Der Grund dafür ist, so meine Hypothese, daß sie nicht von der Kommunikationsstruktur abgelöst werden können, die durch die Schrift eingeführt wurde. Die "universellen" Religionen (ich spreche nicht nur von den monotheistischen Religionen, sondern auch beispielsweise vom Buddhismus) sind allesamt auf Texten begründet. Wenn ich zum Islam konvertieren will, kann ich das in Paris, New York oder Mexiko machen. Doch wenn ich die Religion der Bororo ausüben will (unterstellt sei, daß dieses Vorhaben überhaupt sinnvoll wäre), dann gäbe es keine andere Lösung, als zu den Bororo zu ziehen und mit ihnen zu leben. Die Riten, Mythen, Überzeugungen und Lebensweisen der Bororo sind nicht "universell", sondern lokal und abhängig vom Kontext. Sie beziehen sich in keiner Weise auf geschriebene Texte. Diese Aussage beinhaltet ganz offensichtlich kein ethnozentrisches Werturteil: ein Bororo-Mythos gehört zum Erbe der Menschheit und kann virtuell jedes Denken beeinflussen.

Im Universellen, das von der Schrift begründet wurde, darf die Bedeutung nicht durch Interpretationen, Übersetzungen, Übertragungen, Aussendungen oder Speicherungen verändert werden. Das Universelle ist unabtrennbar vom Ziel einer semantischen Schließung. Sein Versuch einer Totalisierung kämpft gegen die offene Pluralität der Kontexte, die von den Botschaften durchquert werden, gegen die Verschiedenartigkeit der Gemeinschaften, die sie zirkulieren lassen. Aus der Erfindung der Schrift folgen die sehr spezifischen Zwänge der Dekontextualisierung des Diskurses. Seitdem ist für uns die umfassende Herrschaft über die Bedeutung, der Blick auf das "Ganze", der Versuch, an jedem Ort dieselbe Bedeutung (oder, für die Wissenschaft, dieselbe Exaktheit) herzustellen, mit dem Universellen verwoben.

Massenmedien und Totalität

Die Massenmedien - Zeitungen, Radio, Kino und Fernsehen - verfolgen mehr oder weniger in der klassischen Art die kulturelle Tradition des totalisierenden Ganzen, wie sie von der Schrift begründet wurde. Da die mediale Botschaft von Millionen weit verstreuter Menschen gelesen, gehört oder gesehen wird, gestaltet man sie so, daß sie auf den kleinsten gemeinsamen mentalen Nenner der Adressaten abgestimmt ist. Sie strebt bei den Empfängern das Minimum ihres Interpretationsvermögens an.

Hier ist nicht der Ort, alle Unterschiede zwischen den kulturellen Folgen der elektronischen Medien und der Drucktechnik herauszuarbeiten. Ich will nur eine Ähnlichkeit hervorheben. Die in einem Raum ohne Interaktion zirkulierende mediale Botschaft kann sich nicht des spezifischen Kontextes des Rezipienten bedienen. Sie negiert dessen Einzigartigkeit, seine sozialen Verankerungen, seine Mikrokultur, seinen Augenblick und seine besondere Situation. Es ist diese gleichzeitig reduktive und beherrschende Struktur, die eine undifferenzierte "Öffentlichkeit", die "Masse" der Massenmedien erzeugt. Aus Berufung universalistisch, totalisieren die Medien alles auf dem kleinsten gemeinsamen kognitiven Nenner als zeitgenössisches Spektakel oder als Parteipropaganda, die für die klassischen totalitaristischen Systeme bezeichnend war: für den Faschismus, den Nazismus und den Stalinismus.

Deswegen ist den elektronischen Medien noch eine zweite Tendenz zu eigen. Sie schwanken zwischen der Dekontextualisierung, die sie in uns hervorrufen, und der Schaffung eines ganzheitlichen, fast tribalistischen Kontextes, der aber viel umfassender ist als der der mündlichen Kulturen. Diese Art eines dynamischen Makrokontextes auf der Ebene einer Gesellschaft ist typisch für die mediatisierten Kulturen und insbesondere hinsichtlich der Phänomene des "Direkten". Erst McLuhan beschrieb erstmals dieses Phänomen.

Doch der wirkliche Bruch mit der von der Schrift eingeleiteten Kommunikationspraxis konnte noch nicht mit dem Radio oder dem Fernsehen eintreten, denn diese Instrumente für eine massenhafte Aussendung ermöglichten weder eine wirkliche Reziprozität noch transversale Interaktionen zwischen den Teilnehmern. Der von den Medien geschaffene globale Kontext befindet sich außerhalb der Reichweite derjenigen, die nur passiv und isoliert die Sendungen konsumieren können, anstatt daß sie aus den lebendigen Interaktionen von einem oder mehreren Gemeinschaftsangehörigen hervorgehen.

Die Komplexität der Totalisationsweisen

Viele aus der Schrift stammenden Kulturformen berufen sich auf die Universalität, aber jede totalisiert mit einem anderen Attraktor: die universellen Religionen mit dem Sinn, die Philosophie (auch die politische Philosophie) mit der Vernunft, die Wissenschaft mit der wiederholbaren Genauigkeit (die Sachverhalte), die Medien mit der Fesselung durch ein verblüffendes Spektakel, das man "Kommunikation" tauft. Und es gibt ebensoviele Versionen der Identität von Bedeutung. Diese kulturellen Maschinen versuchen jede auf ihre Weise auf der von ihnen erfundenen Realtitätsebene eine Koinzidenz zwischen ihnen und den Kollektiven, die sie versammeln, herzustellen. Das Universelle? Ein Teil stammt von hier und jetzt, von der virtuellen Menschheit. Diese Maschinen zur Produktion des Universellen zerlegen, auch wenn sie in eine Versammlung durch einen Aspekt ihrer Wirkung münden, eine Vielzahl von kontextuellen Mikrototalitäten: heidnische Überzeugungen, Meinungen, Traditionen, empirisches Wissen, kollektive und künstlerische Übermittlungen.

Das Lokale wird nicht vollständig zerstört, denn die Produkte der universellen Maschinen sind ihrerseits fast immer Phagozyten, die sich relokalisieren und mit den Partikularismen vermischen, die sie überschreiten wollen. Obwohl das Universelle und die Totalisierung (d.h. die semantische Schließung, die Einheit der Vernunft, die Reduktion auf den kleinsten gemeinsamen Nenner etc.) bereits immer teilweise verbunden gewesen sind, entwickelt ihre Verschmelzung starke Spannungen und schmerzhafte Widersprüche, die in der neuen, durch den Cyberspace polarisierten Ökologie der Medien vielleicht aufgelöst werden können.

Eine solche Lösung, das sei mit allem Nachdruck gesagt, ist in keiner Weise garantiert noch geschieht sie automatisch. Die Ökologie der Kommunikationstechniken eröffnet Möglichkeiten, aber es sind die Menschen, die letztlich bewußt oder im Halbbewußtsein der kollektiven Wirkungen über das von ihnen gemeinsam erzeugte kulturelle Universum entscheiden. Sie müssen die Möglichkeit einer neuen Entscheidung wahrnehmen.

Die Cyberkultur oder das Universelle ohne Totalität

Das große, durch den Cyberspace angekündigte Ereignis ist die Entkopplung dieser beiden gesellschaftlichen Kräfte oder abstrakten Maschinen der Universalität und Totalisierung, die mehr als nur Begriffe sind. Der Grund dafür ist einfach: der Cyberspace löst die Kommunikationspraxis auf, die seit der Erfindung der Schrift das Universelle und die Totalität miteinander verbunden hat. Er führt uns in dem Maße, in dem die Verknüpfung und die Dynamik in Echtzeit der vernetzten Speicher es wieder ermöglichen, Anteil am selben Kontext, am selben riesigen Hypertext, der von den Kommunikationspartnern ins Leben gerufen wird, zu haben, wieder in die Situation vor der Schrift zurück - aber auf einer anderen Ebene und in einer anderen Laufbahn.

Welche Botschaft auch immer kommen mag, so ist sie stets mit anderen Botschaften, Kommentaren und Bemerkungen in einer permanenten Evolution verknüpft, mit Menschen, die sich dafür interessieren, mit Foren, in denen man sie diskutiert. Es ist ganz egal, welcher Art Text das Fragment ist, das man vielleicht im beweglichen, es einhüllenden Hypertext übersieht, immer ist es mit anderen Texten verknüpft und dient als Vermittlung oder als Umgebung einer wechselseitigen, interaktiven, ununterbrochenen Kommunikation.

Unter der klassischen Herrschaft der Schrift ist der Leser dazu verdammt, den Kontext unter großen Mühen wiederherzustellen oder sich den Werken der Kirchen, Institutionen oder Schulen zuzuwenden, die hartnäckig die Bedeutung wiederbeleben und sichern. Heute gibt es technisch, dank der ungeheuren Vernetzung aller Maschinen der Erde, fast keine Botschaften "jenseits des Kontextes" mehr, die von einer aktiven Gemeinschaft losgelöst sind. Alle Botschaften sind virtuell in einem Kommunikationsbad eingetaucht, das voller Leben ist und die Menschen selbst einbezieht, denen der Cyberspace mehr und mehr als ihr Herz erscheint.

Die Post, das Telefon, die Presse, der Verlag, die Radiosender, die unzähligen Fernsehkanäle stellen seit kurzem eine Minderheit dar und sind zu ganz unterschiedlichen Bestandteilen eines offenen Raums des Zusammenhangs geworden, der durch transversale, chaotische, turbulente und fraktale Kommunikationen belebt wird und sich durch lavaartige Prozesse einer kollektiven Intelligenz bewegt. Man badet sicher nicht ein zweites Mal im selben Informationsfluß, doch die Dichte der Verknüpfungen und die Geschwindigkeit des Austausches machen den Kommunizierenden keine Schwierigkeiten mehr, Anteil am selben Kontext zu nehmen, auch wenn diese Situation ein wenig rutschig, flüssig und oft brodelnd ist.

Der allgemeine Zusammenhang, die minimale Utopie und der primäre Motor des wachsenden Internet, entsteht als neue Form des Universellen. Aber Vorsicht! Der Prozeß des weltweiten Zusammenhangs verwirklicht wohl eine neue Form des Universellen, aber es ist nicht mehr derselbe wie bei der Schrift. Das Universelle bringt sich nicht mehr durch eine semantische Schließung zum Ausdruck, wie sie von der Dekontextualisierung gefordert wird. Dieses Universelle totalisiert nicht mehr die Bedeutung, sondern beruht auf dem Kontakt, auf der allgemeinen Interaktion.

Das Universelle ist nicht das Planetarische

Man könnte einwenden, daß es sich hier nicht wirklich um das Universelle, sondern um das Planetarische handelt, um den einfachen geographischen Sachverhalt der Ausweitung der Transport- und Informationsnetze, um die technische Bilanz des exponentiellen Wachstums des Cyberspace. Ist es nicht unter dem Deckmantel des Universellen schlicht die "Globalisierung" der Wirtschaft und der Finanzmärkte, um die es geht? Das neue Universelle enthält sicherlich einen großen Anteil am Globalen und Planetarischen, aber es beschränkt sich nicht darauf. Das durch den Kontakt entstehende Universelle ist immer noch und im tiefsten Sinn ein Universelles, weil es von der Idee der Menschheit nicht gelöst werden kann.

Selbst die ungeselligsten Mitbewohner des Cyberspace sind sich dessen bewußt, wenn sie zurecht bedauern, daß die überwiegende Mehrheit von ihm ausgeschlossen oder daß Afrika kein Bestandteil seiner ist. Was zeigt die Forderung nach einem "Zugang für alle"? Sie offenbart, daß die Teilnahme an diesem Raum, der jedes menschliche Wesen mit allen anderen verbindet, der eine Kommunikation innerhalb und zwischen den Gemeinschaften ermöglicht, der Sendemonopole verhindert und jedem gestattet, das zu versenden, was ihn bewegt oder interessiert, ein Recht enthält und auf gewisse Weise einen moralischen Imperativ.

Der Cyberspace gestaltet, um es zusammenzufassen, eine neue Art des Universellen: ein Universelles ohne Totalität. Es handelt sich noch immer um das Universelle, das von allen Resonanzen begleitet wird, die man mit der Philosophie der Aufklärung verbindet, weil es eng mit der Idee der Menschheit verbunden ist. Der Cyberspace läßt keine Kultur des Universellen entstehen, weil er überall ist, sondern weil seine Form oder seine Idee ein Recht für die Gesamtheit der Menschen impliziert.

Je universeller, desto weniger totalisierbar

Durch die Vermittlung der Computer und der Netze können die unterschiedlichsten Menschen in Kontakt treten und sich überall auf der Erde die Hand reichen. Das neue Universelle bewährt sich durch Immersion, nicht indem es die Identität einer Bedeutung erzeugt. Wir befinden uns alle im selben Gehirn, in der derselben Kommunikationsflut. Es geht nicht mehr um eine semantische Schließung oder um Totalisierung. Wir haben bereits gesehen, daß die Versuche der Totalisierung praktisch unmöglich geworden sind oder zu offensichtlich als Mißbrauch erscheinen.

Um den Cyberspace organisiert sich eine neue Ökologie der Medien. Wir können jetzt dessen zentrales Paradox formulieren: Je universeller (größer, interaktiver, vernetzter) er ist, desto weniger ist er totalisierbar. Jede zusätzliche Verbindung fügt Heterogenes, neue Informationsquellen, neue Fluchtlinien hinzu, so daß die globale Bedeutung zunehmend weniger lesbar und immer schwerer abzugrenzen, zu schließen oder zu beherrschen ist.

Dieses Universelle eröffnet sich einem weltweiten Vergnügen, einer kollektiven Intelligenz auf der Ebene der Gattung. Es läßt uns intensiver an der lebendigen Menschheit teilnehmen, aber - ohne daß dies ein Widerspruch wäre - mit einer Vervielfältigung der Singularitäten und einer Zunahme der Unordnung.

Noch einmal: Je mehr sich das neue Universelle konkretisiert und verwirklicht, desto weniger ist es totalisierbar. Man könnte dazu verführt sein, daß es sich hier um das eigentliche Universelle handelt, weil es sich nicht mit dem Lokalen oder mit dem unterstützten Export von Gütern einer bestimmten Kultur vermischt. Ist es eine Anarchie? Eine Unordnung? Nein, diese Begriffe spiegeln nur die Nostalgie einer Schließung wieder. Wenn man akzeptiert, eine bestimmte Form der Herrschaft zu verlieren, dann eröffnet man sich die Chance, dem Wirklichen zu begegnen. Man muß noch die Karten und die Navigationsinstrumente für diesen neuen Ozean erfinden, aber dazu ist jeder aufgerufen. Man muß eine von Natur aus flüssige und veränderliche Landschaft nicht zur Erstarrung bringen, sie a priori strukturieren oder sie zubetonnieren: ein exzessiver Wunsch nach Herrschaft würde, wie so oft, nur zur Erblindung und zur Zerstörung führen.

Moderne, Postmoderne, Cyberkultur

Warum sollte man ein "Universelles ohne Totalität" erfinden, wenn wir bereits über ein reichhaltiges Konzept der Postmoderne verfügen? Weil es sich nicht genau um dieselbe Sache handelt. Die postmoderne Philosophie hat den Zerfall der Totalität begrifflich gut beschrieben: das Ende der großen Erzählungen, um die bekannte Formulierung Lyotards aufzugreifen. Die Vielfältigkeit und das Gewirr der Epochen, Sichtweisen und Begründungen, das Merkmal der Postmoderne, wird durch den Cyberspace deutlich betont und verstärkt. Doch die postmoderne Philosophie hat das Universelle und die Totalisierung miteinander verschmolzen.

Das Universelle ist die (virtuelle) Präsenz der Menschheit für sich selbst. Die Totalität ist die stabil gemachte Einheit des Sinns einer Verschiedenartigkeit (des Diskurses, der Situation, der Gesamtheit der Ereignisse etc.). Diese Identität kann organisch, komplex, dialektisch oder irgendwie anders sein. Die Cyberkultur aber zeigt genau, daß es eine andere Weise gibt, die virtuelle Selbstgegenwart der Menschheit zu begründen als durch die Identität des Sinns (durch die Totalität).

Im Unterschied zur postmodernen Idee des Verfalls der Ideen der Aufklärung glaube ich, daß die Cyberkultur als legitimer Nachfolger des Projekts der Aufklärung betrachtet werden kann. Sie befürwortet in der Tat die Teilnahme an einem offenen Raum des Zusammenhangs, in dem sich die Angehörigen von Gemeinschaften einrichten und sich ihr Einflußbereich erweitert. Sie unterstützt eine fundamentale Reziprozität. Sie hat sich ausgehend von einer Praxis entwickelt, die auf dem Austausch von Informationen und Wissen beruht. Und doch würde sie nicht postmodern sein, sondern genau in der Kontinuität des revolutionären und republikanischen Ideals der Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit stehen. Nur schreiben sich in der Cyberkultur diese "Werte" in konkrete technische Strukturen ein. Im Zeitalter der elektronischen Medien verwirklicht sich die Gleichheit durch die Möglichkeit jedes einzelnen, zum Sender für alle zu werden. Die Freiheit objektiviert sich in verschlüsselten Programmen und im alle nationalen Grenzen überschreitenden Zugang zu den vielen virtuellen Gemeinschaften. Die Brüderlichkeit kommt schließlich durch den weltweiten Zusammenhang zur Geltung.

Eine marxistische oder situationistische Informatik - eher Probleme als Lösungen

Der Cyberspace kann, weit entfernt davon, postmodern zu sein, als eine technische Materialisierung moderner Ideen erscheinen. Besonders die gegenwärtige Evolution der Informatik ist eine erstaunliche Verwirklichung des marxistischen Ziels einer Aneignung der Produktionsmittel durch die Produzenten.

Heute besteht die "Produktion" vor allem darin, Simulationen zu schaffen, Information zu bearbeiten, Botschaften zu erzeugen und zu versenden, Wissen zu erlangen und zu verbreiten, sich in Echtzeit zu koordinieren. Seitdem geben die PCs und die digitalen Netze den Individuen die wichtigsten Mittel einer wirtschaftlichen Aktivität in die Hände. Wenn das Spektakel (das mediatisierte System), wie für die Situationisten, überdies der Gipfel der kapitalistischen Herrschaft ist, dann bringt der Cyberspace eine wirkliche Revolution mit sich, da er jedem erlaubt - oder erlauben wird -, den Platz des Senders, des Herausgebers, des Produzenten oder des Verteilers einzunehmen. Im Gegensatz zu den Fernsehkonsumenten, die nicht antworten können und isoliert sind, bietet der Cyberspace die Möglichkeiten einer interaktiven und kollektiven Kommunikation an.

Die gewissermaßen technische Verwirklichung der Ideen der Moderne läßt unmittelbar ihren zwar nicht lächerlichen, aber doch partiellen Charakter offenbar werden. Es ist klar, daß weder der PC noch der Cyberspace, soweit beide auch in der Menschheit verbreitet sein mögen, allein durch ihre Existenz die wichtigen Probleme des gesellschaftlichen Lebens lösen werden. Sie verwirklichen zwar sicherlich praktisch neue Formen der Universalität, der Brüderlichkeit, der Gemeinschaftlichkeit, der Wiederaneignung auf der Grundlage der Produktions- und Kommunikationsmittel, aber gleichzeitig destabilisieren sie mit großer Geschwindigkeit und oft in gewalttätiger Weise die Wirtschaftssysteme und die Gesellschaften. Indem sie die alten Mächte zerstören, haben sie Teil an der Schaffung von neuen, die weniger sichtbar und instabiler, aber nicht geringer sind.

Die Cyberkultur scheint die Probleme der vorherhergehenden Epoche teilweise zu lösen, aber sie bringt ein riesiges Feld neuer Probleme und Konflikte mit sich, für deren Lösung sich keine klare Perspektive aufzeigen läßt. Die Beziehung zum Wissen, die Arbeit, die Beschäftigungsformen, das Geld, die Demokratie und die Stadt werden neu erfunden, um nicht zu sagen, daß manche gesellschaftlichen Strukturen wieder brutal zur Geltung kommen. Bevor wir uns auf Lösungen stürzen, die am Schreibtisch entworfen wurden, sollten wir mehr als jemals aufmerksam die sozialen Bewegungen und die kulturellen Strömungen beobachten, deren Ausdruck der Cyberspace ist.

Der Cyberspace ist das Produkt einer sozialen Bewegung

Es mag seltsam erscheinen, wenn man von einer "sozialen Bewegung" anläßlich eines technischen Phänomens spricht. Hier ist dennoch die These, die wir begründen wollen: Die Entstehung des Cyberspace verdankt sich einer wirklichen sozialen Bewegung - mit ihren Anführern, ihren Schlüsselworten und ihren kohärenten Zielen.

Technik und kollektives Begehren - das Auto als Beispiel

Selbst ohne den Begriff einer sozialen Bewegung kann man in vorläufiger Weise die Existenz von manchmal sehr engen Zusammenhängen zwischen technisch-industriellen Entwicklungen und starken kulturellen Strömungen oder Phänomenen der kollektiven Mentalität erkennen. Das Auto ist in dieser Hinsicht besonders erhellend. Man muß nur die Automobilindustrie und die multinationalen Ölkonzerne anschauen, um die beeindruckende Entwicklung des PKWs während eines Jahrhunderts mit allen ihren Folgen für die Struktur des Landes, der Stadt, der Demographie, der Lärmbelastung und Luftverschmutzung etc. zu erkennen.

Das Auto war die Antwort auf ein tiefes Begehren nach Autonomie und nach individueller Macht. Es hat Phantasien, Gefühle, Freuden und Frustrationen ausgelöst. Das dichte Netz an Werkstätten und Tankstellen, die Clubs, die verbundenen Industrien, die Zeitschriften, die Wettkämpfe, die Mythologie der Straße stellen ein praktisches und mentales Universum dar, das leidenschaftlich von Abermillionen Menschen errichtet wurde. Wenn die Automobilindustrie nicht auf die Wünsche getroffen wäre, auf die sie geantwortet hat und durch die sie ins Leben gerufen wurde, hätte sie dieses Universum niemals aus eigenen Kräften aufbauen können. Der Wunsch ist der Motor und die wirtschaftlichen und institutionellen Formen gestalten, kanalisieren, verbessern und transformieren ihn unweigerlich.

Die Infrastruktur ist nicht beherrschend - das Beispiel der Post

Aber wenn der Anstieg des Automobilmeeres, der das 20. Jahrhundert charakterisiert, primär mit einem Wunsch nach individueller Macht zusammenhängt, dann korrespondiert das Wachstum des Cyberspace noch weitaus stärker mit einem Wunsch nach reziproker Kommunikation und einer kollektiver Intelligenz. Aus dieser Perspektive ist ein Fehler, wenn man die Datenautobahn mit dem Cyberspace verwechselt.

Der Cyberspace ist nicht nur die technische Infrastruktur einer bestimmten Telekommunikation, sondern eine Weise, bestehende Infrastrukturen zu nutzen, wie immer mangelhaft und disparat sie auch sein mögen. Die Datenautobahn verweist auf eine Einheit von logistischen Normen, Kupfer- oder Glasfaserkabeln, Satellitenverbindungen etc. Der Cyberspace hingegen zielt, mit welchen technischen Mitteln auch immer, auf eine bestimmte Beziehungsform zwischen Menschen. Der Cyberspace ist, mit anderen Worten, keine bestimmte Infrastruktur, sondern eine gewisse Weise, die bestehenden Infrastrukturen zu nutzen. Eine historische Analogie kann diesen wichtigen Punkt erhellen.

Die materiellen und organisatorischen Techniken von Poststationen gab es in China bereits seit der frühen Antike. Obgleich sie auch vom Römischen Reich eingesetzt wurden, gerieten sie in Europa während des Mittelalters in Vergessenheit. Poststationen wurden in China wegen des riesigen mongolischen Reichs im 13. Jahrhundert notwendig. Die Menschen der Steppe haben das Beispiel und die Prinzipen einem Okzident überliefert, der das jahrhundertelang vergessen hatte. Seit dem 15. Jahrhundert richteten einige Staaten Europas Systeme von Poststationen im Dienst der zentralen Regierung ein. Diese Kommunikationsnetze sollten neue Nachrichten aus allen Orten des Königreiches empfangen und Befehle so schnell wie möglich weiterleiten. Genauso wie im Römischen Reich und in China war das Postsystem auf diese Aufgabe beschränkt.

Die wirkliche gesellschaftliche Erneuerung, die die Beziehungen der Menschen untereinander betraf, ereignete sich erst im 17. Jahrhundert mit dem Einsatz der Technik zugunsten der Postverteilung von Station zu Station und zwischen weit voneinander entfernten Individuen, nicht nur vom Zentrum zur Peripherie und umgekehrt.

Diese Entwicklung war die Folge eines gesellschaftlichen Drucks, der zunehmend die ursprüngliche Struktur Zentrum/Peripherie hinter sich ließ, zuerst durch illegitime Umleitungen (eine Unrechtmäßigkeit, die vom Staat toleriert, ja sogar unterstützt wurde) und später immer offener und offizieller. Dadurch blühten die wirtschaftlichen und administrativen Korrespondenzen, die Briefliteratur, die europäische Republik des Geistes (Netzwerke der Weisen, der Philosophen) und Liebesbriefe auf .... Die Post ist als gesellschaftliches Kommunikationssystem eng mit den stärker werdenden Ideen und der Praxis verbunden, die in der Meinungsfreiheit und dem Begriff eines freien Vertrags zwischen einzelnen einen großen Wert sehen.

An diesem Beispiel sieht man sehr gut, wie eine bestimmte Infrastruktur der Kommunikation eine kulturelle Strömung fördern kann, die beginnt, ihre gesellschaftliche Bedeutung zu ändern und ihre technische und organisatorische Evolution zu stimulieren.

Nebenbei sei bemerkt, daß das System der Poststationen, seit es von der Monopolisierung seitens des Staates zu einer allgemeinen Dienstleistung überging, mehr und mehr zu einer rentablen wirtschaftlichen Aktivität wurde, die von Privatunternehmern betrieben wurde. Erst im 19. Jahrhundert war die Post für die Gesamtheit der europäischen Bevölkerung, insbesondere für die ländliche, überall verbreitet. Das System der Poststationen existierte als technische Infrastruktur bereits Hunderte von Jahren, aber erst die Europäer des klassischen Zeitalters haben es zu einem Gut der Zivilisation gemacht und ihm eine tiefe menschliche Bedeutung gegeben, indem sie die neue Praxis der häufigen und normalen Korrespondenz zwischen einzelnen erfanden.

Der PC und die soziale Bewegung

Mit denselben Ideen wollte die soziale kalifornische Bewegung "Computers for the people" die rechnerische Macht des Computers in die Hände der einzelnen geben, um sie ganz aus der Vormundschaft der Techniker zu befreien. Als Folge dieser "utopischen" Bewegung fielen die Preise am Ende der sechziger Jahre so, daß sich auch Privatleute Computer kaufen konnten, und die neu Eingeweihten konnten seine Bedienung ohne technische Spezialisierung erlernen.

Die gesellschaftliche Bedeutung der Computertechnik wurde vom Kopf auf die Füße gestellt. Was zunächst die soziale Bewegung beabsichtigte, hat sich die Industrie zweifellos angeeignet und für sich instrumentalisiert. Aber man muß auch sehen, daß die Industrie auf ihre Weise die Ziele der Bewegung verwirklicht hat. Man muß hervorheben, daß die Computertechnik für Privatpersonen von keiner Regierung und auch von keiner der mächtigen multinationalen Firmen beschlossen oder gar vorhergesehen wurde. Erfunden und vorangetrieben wurde sie von einer sozialen Bewegung, deren Ziel die Aneignung der technischen Macht zugunsten der Menschen war, die bislang in den Händen von großen bürokratischen Institutionen lag.

Der Cyberspace und die soziale Bewegung

Das Anwachsen der computervermittelten Kommunikation wurde durch eine internationale Bewegung junger und gebildeter Menschen eingeleitet, die in den Städten lebten. Am Ende der achtziger Jahre hatte diese Bewegung ihre große Zeit. Ihre Mitglieder erforschten und konstruierten einen Raum der Begegnung, der Gemeinsamkeit und der kollektiven Erfindung. Obgleich das Internet den großen Ozean auf dem neuen Planeten der Information darstellt, sollte man aber nicht die zahlreichen Flüsse vergessen, die ihn speisten: unabhängige Netze von Firmen, Organisationen oder Universitäten, aber auch die traditionellen Medien wie Bibliotheken, Museen, Zeitungen, Fernsehen etc. Der Cyberspace - nicht nur das Internet - basiert auf der Grundlage dieses "hydrographischen Netzwerks", zu dem zumindest die Bulletin Board Systeme gehören.

Ausgebaut haben den Cyberspace überwiegend anonyme, unentgeltlich arbeitende Menschen, die beständig die Kommunikationsmittel verbesserten, und nicht die großen Namen, die Regierungen oder Firmenchefs, von denen uns in den Medien bis zum Überfluß erzählt wird. Man muß von den Visionären der ersten Stunde sprechen, beispielsweise von Engelbart und Licklider, die am Anfang der sechziger Jahre dachten, daß man die Computernetze zugunsten einer kollektiven Intelligenz einsetzen sollte. Man muß an die Techniker denken, die zum Funktionieren der ersten elektronischen Briefe und Foren beitrugen, an die Studenten, die die Kommunikationssoftware für die Computer unentgeltlich entwickelten, verteilten und verbesserten, an die Millionen Nutzer und Verwalter von Bulletin Board Systemen ...

Das Internet, das Symbol und der wertvollste Bestandteil des Cyberspace, ist eines der phantastischsten Beispiele für eine internationale und kooperative Entwicklung. Es ist der technische Ausdruck einer von unten ausgehenden Bewegung, die kontinuierlich aus vielen lokalen Initiativen unterhalten wurde.

Wie die Korrespondenz zwischen einzelnen erst den "wirklichen" Gebrauch der Post entstehen ließ, erfand die beschriebene soziale Bewegung wahrscheinlich erst den "wirklichen" Gebrauch des Telefonnetzes und des PC: der Cyberspace als Praxis einer interaktiven, reziproken Kommunikation in und zwischen Gemeinschaften, als Horizont einer lebendigen, heterogenen und nicht zu totalisierenden virtuellen Welt, an der jeder Mensch teilnehmen und zu der jeder etwas beitragen kann. Jeder Versuch, die neue Kommunikationsstruktur wider in alte mediale Formen zurückzuführen (mit dem Verteilerschema "zentraler Sender für periphere Empfänger"), kann nur den Beitrag des Cyberspace für die Evolution der Zivilisation schmälern, selbst wenn man - leider! - die auf dem Spiel stehenden wirtschaftlichen und politischen Interessen gut versteht.

Die exponentielle Zunahme der Teilnehmer am Internet geht den industriellen Multimedia-Projekten und auch den politischen Losungen der "Datenautobahnen" vorher, die seit Beginn der achtziger Jahre im Mittelpunkt der Diskussion stehen. Diese offiziellen Projekte stellen den Versuch seitens der Regierungen, der großen Firmen und Medienunternehmen dar, die Macht über einen sich entwickelnden Cyberspace zu erlangen, dessen wirkliche Erbauer - oft ganz bewußt - eine fragile und bedrohte Zivilisation erfanden, die sie neu schaffen wollten und deren Programm wir im Folgenden genauer darstellen werden.

Das Programm der Cyberkultur

Das anfängliche Wachstum des Cyberspace ist an drei Prinzipien orientiert gewesen: die Verbindung aller mit allen, die Schaffung virtueller Gemeinschaften und die kollektive Intelligenz.

Die Verbindung von allem mit allem

Am Beginn des Cyberspace ist eine der wichtigsten Ideen, oder vielleicht sollte man besser sagen, einer er stärksten Antriebe die Verbindung von allem mit allem gewesen. Für die Cyberkultur ist die Verbindung stets besser als die Isolation. Die Verbindung ist ein Gut an sich. Wie dies Christian Huitema in seinem Buch "Et Dieu crea l'internet" treffend formuliert hat, ist der technische Horizont der Cyberkultur die universelle Kommunikation: jeder Computer auf der Erde, jeder Apparat, jede Maschine vom Auto bis zum Toaster sollte gemäß dem kategorischen Imperativ der Cyberkultur eine Internetadresse haben. Wenn man dieses Programm verwirklichen würde, könnte das kleinste Produkt, möglichst ohne Kabel, Informationen von allen anderen empfangen und zu diesen senden.

Verbunden mit der Zunahme der Übertragungskapazitäten leitet der Trend zur Verbindung von allem mit allem eine Mutation in der Physik der Kommunikation ein: Man geht von den Begriffen des Kanals und des Netzes zur Erfahrung eines weltweiten Raumes über. Die Informationsträger wären nicht mehr im Raum, sondern der ganze Raum würde durch eine Art topologischer Umkehrung zu einem interaktiven Kanal. Die Cyberkultur verweist auf eine Zivilisation allgemeiner Telepräsenz.

Jenseits einer Physik der Kommunikation begründet die Verbindung aller mit allen eine Menschheit ohne Grenzen, die sich in einer ozeanischen Informationsumgebung befindet und in dem die Lebewesen und die Dinge sich im selben Becken einer interaktiven Kommunikation eingetaucht sind. Die Verbindung von allem mit allem webt ein Universum ohne Totalität, ein Universum des Kontaktes.

Die virtuellen Gemeinschaften

Das zweite Prinzip der Cyberkultur baut offensichtlich auf dem ersten auf, da die Entwicklung von virtuellen Gemeinschaften sich auf die Verbindung von allem mit allem stützt. Eine virtuelle Gemeinschaft verwirklicht sich durch gemeinsame Interessen, Kenntnisse und Projekte in einem Prozeß der Kooperation oder des Austauschs und unabhängig von geographischen Nähen und institutionellen Zugehörigkeiten.

Ich will für diejenigen, die nicht Angehörige einer virtuellen Gemeinschaft sind, deutlich machen, daß die Netzbeziehungen keineswegs kalt sind und starke Gefühle nicht ausschließen. Andererseits verschwinden weder individuelle Verantwortlichkeit noch öffentliche Meinung und öffentliches Urteil im Cyberspace. Überdies ersetzt die Netzkommunikation nur selten einfach die körperlichen Begegnungen, meistens ist sie deren ergänzung oder Hilfsmittel.

Das Leben einer virtuellen Gemeinschaft geht nur selten ohne Konflikte ab, die sich auf ziemliche brutale Weise in Wortgefechten zwischen Mitgliedern oder "flames" zum Ausdruck bringen, in denen mehrere Mitglieder denjenigen oder diejenigen anrüffeln, die die moralischen Gesetze der Gruppe verletzt haben. Umgekehrt können sich Nähen, intellektuelle Verbindungen und sogar Freundschaften in Diskussionsgruppen genauso entwickeln wie zwischen Personen, die sich häufig zum Gespräch treffen. Für die daran Partizipierenden sind die anderen Mitglieder der virtuellen Gemeinschaften nichtsdestoweniger "menschliche Wesen", denn ihr Schreibstil, ihre Kompetenzen, ihre möglichen Stellungnahmen lassen ihre Persönlichkeiten duchscheinen.

Manipulationen und Täuschungen sind in virtuellen Gemeinschaften immer möglich, aber das ist überall der Fall: im Fernsehen, in gedruckten Zeitungen, am Telefon und in Briefen ebenso wie bei einer Begegnung "in Fleisch und Blut".

Die Mehrzahl der virtuellen Gemeinschaften organisieren die von ihren Mitgliedern unterzeichneten Äußerungen vor aufmerksamen Lesern, die darauf auch antworten können. Aufgrund dieses Sachverhalts erkunden die virtuellen Gemeinschaften neue Formen der öffentlichen Meinungsäußerung und verstärken nicht die Unverantwortlichkeit, die mit der Anonymität verbunden ist. Man sagt, daß das Schicksal der öffentlichen Meinung eng mit dem der modernen Demokratie verknüpft sei. Die Sphäre der öffentlichen Diskussion entstand in Europa dank der technischen Mittel des Drucks und der Zeitungen im 18. Jahrhundert. Im 20. Jahrhundert haben das Radio (vor allem in den 20er und 30er Jahren) und das Fernsehen (seit den 60er Jahren) die Möglichkeiten der öffentlichen Meinungsäußerung sowohl verschoben als auch erweitert und sich einverleibt. Kann man heute nicht eine neue Metamorphose beobachten, eine Steigerung der Komplexität im Begriff des "Öffentlichen", da die virtuellen Gemeinschaften der kollektiven Diskussion ein Feld anbieten, das offener, partizipativer und verteilter als das der klassischen Medien ist?

Die "virtuellen" Beziehungen ersetzen nicht nur einfach körperliche Begegnungen oder Reisen, sie unterstützen vielmehr deren Vorbereitung. Es ist ein allgemeiner Irrtum, wenn man das Verhältnis zwischen alten und neuen Kommunikationsstrukturen als einer Ersetzung begreift. Das Kino hat das Theater nicht aussterben lassen, es hat es nur verlagert. Man spricht genauso viel, seit man zu schreiben gelernt hat, aber anders. Die Liebesbriefe hindern die Liebenden nicht daran, sich zu umarmen. Diejenigen, die am meisten telefonieren, treffen sich auch am meisten. Die Entwicklung der virtuellen Gemeinschaften begleitet die allgemeine Entwicklung der Kontakte und Interaktionen auf allen Ebenen.

Das Bild des vereinsamten Menschen, der vor seinem Bildschirm sitzt, gibt eher ein Phantasma als eine soziologische Tatsache wieder. Wer einen Zugang zum Internet besitzt (Studenten, Wissenschaftler, Universitätsangehörige, ständig reisende Geschäftsleute, selbständig arbeitende Intellektuelle etc.) reist wahrscheinlich mehr als der Durchschnitt der Bevölkerung. Der einzige Rückgang bei der Benutzung von Flughäfen, der sich in den letzten Jahren registrieren ließ, war zur Zeit des Golfkrieges: die Ausweitung des Cyberspace hatte daran keinen Anteil. In diesem Jahrhundert nahmen, ganz im Gegenteil, die Kommunikation und der Verkehr im selben Maße weltweit zu. Lassen wir uns nicht von Worten täuschen. Eine virtuelle Gemeinschaft ist nicht irreal, imaginär oder illusorisch, sie ist einfach eine mehr oder weniger dauerhafte Gruppe, die sich durch die Mittel der neuen globalen elektronischen Post organisiert.

Mit der Cyberkultur kommt der Wunsch nach der Schaffung eines sozialen Bandes zum Ausdruck, das sich nicht auf territorialen Zugehörigkeiten, institutionelle Beziehungen oder Machtbeziehungen gründet, sondern auf die Vereinigung durch gemeinsame Interessen, auf einen spielerischen Umgang, auf Mitteilung des Wissens, auf einen kooperativen Lernprozeß und auf offenen Prozessen der Zusammenarbeit. Die Lust der Mitglieder virtueller Gemeinschaften geht mit dem Ideal deterritorialisierter, transversaler und freier menschlicher Beziehungen einher. Ihre Mitglieder sind die Motoren und die Akteure, das vielgestaltige und überraschende Leben des Universellen des Kontaktes.

Die kollektive Intelligenz

Es gibt kein anderes Interesse, eine virtuelle Gemeinschaft zu bilden, als sich dem Ideal des intelligenten Kollektiv anzunähern, als phantasievoller, schneller und besser zu erlernen und etwas zu erfinden. Der Cyberspace ist nur der unvermeidliche technische Umweg, um zu einer kollektiven Intelligenz zu gelangen.

Die kollektive Intelligenz, das dritte Prinzip der Cyberkultur, ist deren geistige Perspektive und deren Endzweck. Dieses Ziel wurde von den Visionären der 60er Jahre (Engelbart, Licklider, Nelson) verfolgt, es ist mit bestimmten "Gurus" der zeitgenössischen Szene der Cyberkultur wie John Perry Barlow oder Marc Pesce verbunden und wurde von Kommentatoren oder Philosophen der Cyberkultur wie Kevin Kelly, Joel de Rosnay und mir selbst formuliert, vor allem aber wird es im Netz von einer wachsenden Menge von Surfern, von Teilnehmern an Newsgroups, von Mitglieder virtueller Gemeinschaften aller Art praktiziert.

Die kollektive Intelligenz ist eher ein Bereich von Problemen als von Lösungen. Jeder weiß, daß der beste Gebrauch des Cyberspace wäre, eine Synergie zwischen den intellektuellen, imaginativen und geistigen Kapazitäten jener herzustellen, die sich vernetzen. Aber im Hinblick auf welche Perspektiven? Nach welchem Modell? Sollen es menschliche Bienenstöcke oder Ameisenhaufen sein? Will man, daß jedes Netz zu einem kollektiven "Riesentier" heranwächst? Oder ist das Ziel ganz im Gegenteil, die persönlichen Beziehungen eines jeden zu stärken und die Ressourcen der Gruppen in den Dienst der Individuen zu stellen? Ist die kollektive Intelligenz eine wirksame Koordinationsform, in der sich jeder als Zentrum betrachten kann? Oder will man die Individuen dem Organismus unterordnen, der sie überragt? Ist die kollektive Intelligenz dynamisch, autonom, emergent, fraktal? Oder wohl definiert und von einer Instanz kontrolliert, die mächtiger ist? Alle diese Alternativen stimmen miteinander nur teilweise überein.

Die Erstreckung des Cyberspace verändert die Zwänge, die der politischen Philosophie, den Wirtschaftswissenschaften und ganz allgemein den Traditionen von Organisationen das übliche Spektrum ihrer Lösungen auferlegt haben. Heute ist eine ganze Anzahl von Zwängen durch Verfügbarkeit neuer Kommunikations- und Koordinationsmittel weggefallen und man kann radikal neue Organisationsweisen von Gruppen, Beziehungsstile zwischen Individuen und Kollektiven ins Auge fassen, für die es weder in der Geschichte noch in der Biologie Vorbilder gibt. Die kollektive Intelligenz ist, um es noch einmal zu wiederholen, keine Lösung, sondern ein offenes Feld von Problemen und praktischen Forschungen.

Ein Programm ohne Ziel und Inhalt

Man wird jetzt verstehen, daß die den Cyberspace tragende soziale und kulturelle Bewegung, die immer größer und mächtiger wird, nicht in einem bestimmten "Inhalt" mündet, sondern in einer nicht mediatisierten, interaktiven, gemeinschaftlichen, transversalen und rhizomatischen Kommunikationsform. Weder die allgemeine Vernetzung noch die Gier nach virtuellen Gemeinschaften oder das Wachstum der kollektiven Intelligenz bilden die Bestandteile eines politischen oder kulturellen Programms im klassischen Verständnis des Begriffs.

Die Vernetzung im Hinblick auf Interaktivität gilt als gut, um welche Computer, Menschen, Orte und Zeitpunkte es sich auch immer handeln mag, die miteinander verbunden werden. Die virtuellen Gemeinschaften gelten als ein ausgezeichnetes Mittel (unter hundert anderen), um eine Gesellschaft zu bilden, wobei es gleichgültig ist, ob diese spielerische, wirtschaftliche oder intellektuelle Ziele besitzt und ihre Interessenschwerpunkte im Ernsten, Seriösen oder Skandalhaften liegen. Die kollektive Intelligenz schließlich gilt als die Form der Vervollkommnung der Menschheit, die glücklicherweise das digitale und universelle Netz bevorzugt, ohne daß man im voraus wüßte, wohin sich die Organisationen entwickeln werden, die ihre intellektuellen Ressourcen synergetisch vereinen.

Letztendlich zielt das Programm der Cyberkultur auf das Universelle ohne Totalität. Auf das Universelle, weil die Vernetzung nicht nur weltweit sein soll, sondern auch eine allgemeine Kompatibilität oder eine technische Vereinheitlichung realisieren soll. Universell auch deshalb, weil mit dem begrenzten Programm der Cyberkultur jeder von jedem beliebigen Ort aus Zugang zu den verschiedenen virtuellen Gemeinschaften und ihren Hervorbringungen haben soll. Und schließlich, weil das Programm der kollektiven Intelligenz ebenso gut auf Unternehmen wie auf Schulen und angewendet werden kann und für geographische Gebiete genauso gilt wie für internationale Gesellschaften. Der Cyberspace erscheint als Organisationsmittel von Gemeinschaften jeder Art und jeder Größe, um eine kollektive Intelligenz zu schaffen, aber auch als Instrument der Artikulation zwischen intelligenten Kollektiven. Fortan sind es dieselben logistischen und materiellen Mittel, die die Innen- und Außenpolitik der intelligenten Kollektive unterstützen: das Internet und das Intranet.

Die allgemeine Vernetzung, die virtuellen Gemeinschaften, die kollektive Intelligenz sind allesamt Verwirklichungen eines Universellen durch den Kontakt, das wie eine Population wächst, das hier und dort seine Fasern austreibt, das sich wie ein Efeu oder eine Quecke ausbreitet.

Jede der drei Verwirklichungen bildet eine notwendige Voraussetzung für die darauf folgende: keine virtuelle Gemeinschaft ohne Vernetzung, keine kollektive Intelligenz in großem Maßstab ohne Virtualisierung und Deterritorialisierung der Mitglieder im Cyberspace. Die Vernetzung bedingt die virtuelle Gemeinschaft, die eine im Wachsen begriffene kollektive Intelligenz ist.

Doch diese Formen sind a priori leer. Sie besitzen keine äußere Finalität. Kein Inhalt wird das Programm der Cyberkultur schließen oder totalisieren, das ganz aus dem noch nicht vollendeten Prozeß der Vernetzung, der Entwicklung von virtuellen Gemeinschaften und der Stärkung einer fraktalen kollektiven Intelligenz besteht, die auf allen Ebenen und immer unterschiedlich reproduzierbar ist. Die weiter existierende Bewegung, die eine Vernetzung im Hinblick auf eine interaktive Kommunikation aller mit allen bewirken will, ist in sich selbst eine "Garantie" dafür, daß die Totalisierung nicht stattfinden wird, daß die Quellen noch immer heterogen sind, daß die verändernden Strukturen und die Fluchtlinien sich weiter vervielfältigen werden.

Die Bewegung der Cyberkultur ist einer der Motoren der gegenwärtigen Gesellschaft. Die Staaten und die Multimedia-Unternehmen folgen ihr, als könnten sie so mit allen Mitteln das verhindern, was sie als "Anarchie" des Netzes wahrnehmen. Indem sie der Dialektik folgen , die gut aus der Utopie und den Geschäften abgeleitet wurde, beuten die Händler die von der sozialen Bewegung eröffneten Lebensbereiche (und damit Konsumbereiche) aus und lernen von den Aktivisten neue Verkaufsargumente. Symmterisch dazu profitiert die soziale Bewegung von ihrer Anerkennung, da das Business die Ideen und Vorgehensweisen stabilisiert, glaubwürdig macht, banalisiert und institutionalisiert, die bis vor kurzem noch aus der Science Fiction oder aus harmlosen Träumereien zu stammen schienen.

Nach dem Verschwinden des Totalitarismus im Osten konnten einige Intellektuelle Mitteleuropas sagen: "Wir haben für die Demokratie gekämpft ... und jetzt haben wir den Kapitalismus erhalten." Die Aktivisten der Cyberkultur könnten ihrerseits diesen Satz aufgreifen. Aber glücklicherweise ist der Kapitalismus nicht gänzlich inkompatibel mit der Demokratie und die kollektive Intelligenz nicht mit dem weltweiten Supermarkt. Wir sind nicht genötigt, uns für das eine anstatt des anderen zu entscheiden: das ist die Dialektik der Utopie und des Geschäfts, das Spiel der Industrie und des Begehrens.

Wie die Cyberkultur das kritische Denken bedroht

Welche Rolle spielt das kritische Denken?

Die Cyberkultur wird von einer breiten sozialen Bewegung getragen, die eine Evolution der Zivilisationsgrundlagen ankündigt und einleitet. Die Rolle des kritischen Denkens besteht darin, auf ihre Ausrichtung und ihre Realisierungsweisen einzuwirken. Besonders die progressive Kritik kann sich darum bemühen, die positivsten und originellsten Aspekte der Entwicklungen so zu verstärken, daß die Höhen des Cyberspace nicht grau werden, was durch die Fortsetzung des "Mediatisierten" in großem Maßstab und durch den Beginn des planetaren Supermarkts geschehen würde.

Aber der Großteil des Diskurses, der sich als "Kritik" gibt, ist ganz einfach nur blind und konservativ. Da man die ablaufenden Veränderungen mißversteht. entstehen daraus keine neuen Konzepte, die dem Cyberspace angemessen wären. Man kritisiert die "Ideologie der Kommunikation", ohne zwischen Fernsehen und Internet zu unterscheiden. Man ruft die Angst vor einer entmenschlichenden Technik herbei, während es um die Entscheidung zwischen Techniken und zwischen verschiedenen Gebrauchsweisen dieser Techniken geht. Die Abwesenheit einer Zukunftsvision, die Aufgabe der Imagination und die Antizipation des Denkens entmutigen die Menschen einzugreifen und lassen das Feld frei für kommerzielle Propaganda.

Die Machtlosigkeit der "mediatisierten" Akteure

In den modischen Prophezeiungen einer virtuellen Apokalypse geben sich berufsmäßige "Kritiker" alle Mühe, die Rolle von Marionetten zu spielen, die traditionell in den alten Schauspielen im Vordergrund standen. Angesichts der Ausgeschlossenen und der Menschen aus der Dritten Welt sind die Bösen stets die Technik, das Kapital, die Finanzwelt, die großen multinationalen Unternehmen oder die Staaten.

Die mächtigsten Staaten können sicherlich am Rande die wünschenswerten oder abzulehnenden Bedingungen beim Ausbau des Cyberspace beeinflussen. Doch sie sind notorisch ohnmächtig, die Entwicklung eines jetzt irreversibel mit der Wirtschaft und der planetarischen Technowissenschaft verbundenen Kommunikationsraumes zu steuern.

Die meisten großen technischen Veränderungen der letzten Jahre wurde nicht von großen Unternehmen bewirkt, die allgemein die bevorzugten Zielscheiben der anklagenden "Kritiker" darstellen. Die Kreativität ist auf diesem Gebiet unvorhersehbar und verteilt. Das beste Beispiel dafür ist der historisch einmalige Erfolg des World Wide Web. Seitdem zu Beginn der 90er Jahre in der Presse und im Fernsehen von Multimedia und Datenautobahnen gesprochen wurde, stellte man große Akteure wie die Regierung der Vereinigten Staaten, die Vorstände der großen Software- oder Hardwarefirmen, die Kabel- oder Telekommunikationsgesellschaften in den Vordergrund. Einige Jahre später - es ist 1996 -, ist man zur Feststellung gezwungen, daß die "mediatisierten" Akteure zwar einige Fusionen und industrielle Investitionen geleistet, aber daß sie den Aufbauprozeß des Cyberspace nicht nennenswert beeinflußt haben.

Zwischen 1990 und 1996 entstand die wichtigste Revolution in der digitalen planetarischen Kommunikation aus einer kleinen Wissenschaftlergruppe am CERN in Genf, die das World Wide Web entwickelt hat. Die soziale Bewegung des Cyberspace hat dem Web den Erfolg verschafft, indem sie eine Kommunikations- und Repräsentationsstruktur propagierte, die ihren Idealen und Handlungsweisen entsprach. Die "Kritiker" schauen auf das Fernsehen, in dem man nur Hauptdarsteller sieht, während die wichtigen Ereignisse in den weit verteilten und "unsichtbaren" Prozessen der kollektiven Intelligenz geschehen, die von den traditionellen Medien notwendigerweise nicht erfaßt werden können. Das World Wide Web wurde von den großen Medienakteuren wie Microsoft, IBM, ATT oder dem amerikanischen Militär weder erfunden noch verbreitet oder unterstützt, sondern von den Cybernauten selbst.

Solange die "Kritik" nur die immer gleichen demoralisierenden Vogelscheuchen in den Vordergrund stellen kann und die soziale Bewegung mit Schweigen übergeht, die sie ignoriert oder verleumdet, kann man ihrer progressiven Charakter in Zweifel zeihen.

Kritik des Totalitarismus oder Angst vor der Detotalisierung?

Der Cyberspace bedroht die Zivilisation und die humanistischen Werte vorwiegend wegen der Vermischung der Universalität mit der Totalität. Wir sind mißtrauisch gegenüber dem geworden, was sich als Universelles ausgibt, weil der Universalismus fast immer durch kriegerische Reiche, durch Bewerber um die Macht zur Geltung gebracht wurde, auch wenn die Herrschaft nur vorübergehend oder geistig war. Der Cyberspace hingegen nimmt, zumindest bis zum heutigen Tag, viel stärker auf, als daß er als Macht funktioniert. Er ist keine Mittel der Verteilung ausgehend von Zentren (wie die Presse, das Radio und das Fernsehen), sondern eine interaktive Kommunikationstruktur von Gruppen und für Gruppen und für die Herstellung eines Kontaktes zwischen den unterschiedlichen Gruppenmitglieder. Wer im Cyberspace die Gefahr eines "Totalitarismus" sieht, der begeht einfach einen dramatischen Fehler in der Diagnose.

Es stimmt, daß Staaten und wirtschaftliche Kräfte sich vor allem mit virtuellen Vergewaltigungen, Datendiebstahl, Manipulationen oder Desinformationsstrategien im Cyberspace beschäftigen. Das ist nichts ganz Neues. Das hat man zuvor und auch mit anderen Mitteln gemacht: mit Einbruch, mit der Post, dem Telefon oder den klassischen Medien. Die digitalen Kommunikationsmittel sind viel mächtiger. Mit ihnen kann man das Böse in größerem Ausmaß ausführen. Aber man muß auch festhalten, daß die mächtigen Mittel der Verschlüsselung und Entschlüsselung, die bislang nur wenigen zur Verfügung standen, eine teilweise Antwort auf diese Bedrohungen darstellen. Andererseits sind Fernsehen und Presse viel wirksamere Instrumente der Information und Desinformation als das Internet, da sie eine Sicht der Realität durchsetzen und die Reaktion, die Kritik und die Konfrontation mit abweichenden Positionen verhindern können. Das hat man während des Golfkrieges gesehen. Im Gegenzug sind die Vielheit der Quellen und die offene Diskussion dem in seinem Wesen "unkontrollierbaren" Cyberspace inhärent.

Mit der Cyberkultur eine "totalitäre" Bedrohung zu verbinden, offenbart, um es noch einmal zu sagen, ein tiefes Mißverständnis ihres Wesens und des Prozesses, der ihre Ausbreitung steuert. Es stimmt, daß der Cyberspace einen universellen Raum schafft, aber dabei geht es, wie ich weiter oben zu zeigen versuchte, um ein Universelles ohne Totalität. Macht den professionellen "Kritikern" in Wirklichkeit nicht genau die stattfindende Detotalisierung Angst. Ist die Verdammung der neuen interaktiven und transversalen Kommunikationsmittel nicht das Echo des guten alten Wunsches nach Ordnung und Autorität? Verteufelt man nicht das "VIrtuelle", um ein fest institutionalisierte "Wirklichkeit" zu erhalten, die vom besten "guten Verstand" des Staates und der Medien legitimiert wird?

Diejenigen, deren Rolle in der Verwaltung von Grenzen und Territorien besteht, werden durch eine Abgrenzungen auflösende, transversale und multipolare Kommunikation bedroht. Die Wächter des guten Geschmacks, die Garanten der Qualität, die Vermittler und Wortführer sehen ihre Position durch die Einrichtung von immer direkteren Beziehungen zwischen Informationsproduzenten und -benutzern bedroht.

Texte zirkulieren über den Cyberspace weltweit, ohne jemals durch die Hände irgendeines Verlegers oder Chefredakteurs gegangen zu sein. Das wird auch für die Musik, für Filme, Hyperdokumente, interaktive Spiele und virtuellen Welten nicht anders sein.

So wie es möglich ist, neue Ideen und Erfahrungen zu veröffentlichen, ohne diese von einem Prüfungsgremium einer Fachzeitung billigen zu lassen, so steht das ganz Regulierungssystem der Wissenschaft schon jetzt zur Frage.

Die Aneignung von Erkenntnissen befreit sich mehr und mehr von Zwängen der Institutionen, weil die lebendigen Quellen des Wissens direkt zugänglich sind und die Individuen die Möglichkeit besitzen, zu Mitglieder von virtuellen Gemeinschaften zu werden, die dem kooperativen Lernen verpflichtet sind.

Die Mediziner müssen sich mit der Konkurrenz von medizinischen Datenbanken, Diskussionsforen oder virtuellen Selbsthilfegruppen von Menschen mit derselben Krankheit auseinandersetzen.

Viele Machtpositionen und Berufe sind bedroht. Aber wenn sie ihre Funktion verändern und sich in Animateure von Prozessen der kollektiven Intelligenz verwandeln, können die Individuen und Gruppen, die als Vermittler auftraten, ihre Rolle in einer neuen Zivilisation noch wichtiger werden sehen, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Wenn sie sich hingegen an ihren alten Identitäten festklammern, dann kann man darauf wetten, daß ihre Position immer schwächer werden wird.

Der Cyberspace ändert nichts daran, daß es zwischen Menschen Machtverhältnisse und wirtschaftliche Ungleichheiten gibt. Aber, um ein leicht verständliches Beispiel zu nehmen, Macht und Reichtum werden in einer Kastengesellschaft, durch vererbte Privilegien, wirtschaftlich blockiert durch Monopole und in einer Gesellschaft, deren Bürger dem Recht nach gleich sind, das freie Unternehmertum befürworten und gegen die Monopole kämpfen, nicht auf dieselbe Weise verteilt und realisiert. Indem der Cyberspace die Transparenz des Marktes vergrößert und die direkten Transaktionen zwischen Anbietern und Nachfragenden fördert, unterstützt und begünstigt er eine "liberale" Evolution in der Informations- und Wissensökonomie und wahrscheinlich auch in der allgemeinen Struktur der Wirtschaft.

Soll dieser Liberalismus im edelsten Sinn verstanden werden: Abwesenheit von willkürlichen gesetzlichen Beschränkungen, Chancen, die den Begabungen offenstehen, freie Konkurrenz zwischen einer großen Menge von kleinen Produzenten auf dem Markt, der so transparent wie möglich ist? Oder wird er die Maske, der ideologische Vorwand für die Herrschaft großer Kommunikationsgruppen sein, die den kleinen Produzenten und dem Wachstum der Vielheit das Leben schwer machen? Die zwei Wege dieser Alternative schließen sich nicht gegenseitig aus. Die Zukunft wird uns vermutlich eine Mischung aus beiden bringen, deren Verhältnis von der Kraft und der Ausrichtung der sozialen Bewegung abhängt.

Die "Kritik" glaubt, daß sie begründet einen drohenden "Totalitarismus" denunzieren und sich zum Wortführer der "Ausgeschlossenen" machen kann, die sie niemals um ihre Meinung gebeten hat. Die "Kritik" der Pseudoelite steht im Dienst der Nostalgie einer Totalität, deren Herrschaft sie innehatte. Doch dieses uneingestandene Gefühl wird geleugnet, verdreht und auf das Andere projiziert.

Die Klagen über den Niedergang der semantischen Schließungen und über die Auflösung von beherrschbaren Massen (erlebt als Vergehen gegen die "Kultur") verbergen hinter sich die Verteidigung der Macht. All das hindert uns daran, die neue Zivilisation des Universellen durch Kontakt zu schaffen, und hilft uns in keiner Weise, menschlicher zu werden. Versuchen wir vielmehr, die Cyberkultur von innen heraus aufzunehmen, ausgehend von den vielgestaltigen sozialen Bewegung, die sie erzeugt, und gemäß den ursprünglichen Kommunikationsstrukturen, indem wir die neuen Formen des sozialen Bandes ausfindig machen, die uns in die reich bevölkerte Stille des Cyberspace, fern des monotonen Gebrülls der Medien, einweben.

Aus dem Französischen übersetzt von Florian Rötzer


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