Cybermythen
Das Internet ist das entscheidende Symbol der entstehenden Informationsgesellschaft. Es ist aber zugleich ein Mythos. Nachdem der erste Hype vorüber ist, ist die Zeit gekommen, überzogene Erwartungen zu revidieren und den Mythos zu dekonstruieren.
Die wahre Geschichte von König Midas
König Midas, so erzählt der Mythos, herrschte über das makedonische Land Bromion. Eines Tages zog Dionysos mit seinem Gefolge, wie üblich laut und heftig feiernd, durch das Land. Silenos, ein alter und verkommener Satyr, vormals der Lehrer des Weingottes, blieb zurück. Gärtner des Königs fanden den betrunkenen Satyr schlafend in Midas liebstem Rosengarten, fesselten ihn und brachten ihn vor ihren Herrscher. Dort erzählte Silenos von einem Land jenseits des Ozeans, das nicht in Europa, Asien oder Afrika lag, und in dem es riesige Städte mit lauter glücklichen Bewohnern gab. Während Silenos Midas immer wieder Geschichten aus seiner schönen neuen Welt erzählen mußte, begann Dionysos sich in einer hellen Stunde langsam Sorgen zu machen. Er fand heraus, wo sein alter Lehrer war, und schlug Midas als Lösegeld vor, ihm einen beliebigen Wunsch zu erfüllen. Gierig, wie er war, wünschte Midas, daß alles, was er berührte, sich in Gold verwandeln sollte. Der Wunsch ging in Erfüllung. Der Rest ist bekannt: Nicht nur Steine oder Blumen, sondern auch Speisen und Getränke verwandelten sich in den Händen des Königs in das edle Metall und Midas mußte schmerzlich erfahren, daß man Gold weder essen noch trinken kann.
Heute wissen wir natürlich, daß jenes Land, von dem Midas so fasziniert war, Kalifornien heißt. Midas aber hieß in Wirklichkeit Medias - und was ihm als Auslösung für den alten Silenos (lies: Silizium) von Dionysos (auch bekannt als Digitalis) zukam, war die Technologie der neuen Medien. Alles, was mit dem nunmehr digitalen Medias in Berührung kam, verwandelte sich - bis eines Tages die analoge Welt verschwunden war und sich gänzlich im digitalen Schein aufgelöst hatte. Das war jenes perfekte Verbrechen, dessen Chronik viele Jahrhunderte später der Scheinheilige Jean Baudrillard . verfaßt hat.
Soviel zum Verständnis eines alten Mythos.
Don't you know, they're talking about a revolution.
Reden wir von der Realität, von der wirklichen digitalen Revolution. Ihr Endsieg steht seit der Wandlung der digitalen in telematische Medien kurz bevor. Das Resultat der Hochzeit von Computer und Telefon ist die weltumspannende Sphäre der elektronischen Netze. Viele Bereiche der alltäglichen Praxis beginnen, in die neu entstehende Netzwelt auszuwandern - immer mehr von ihnen ins Netz der Netze, das Internet.
Das Internet ist das derzeit wichtigste Symbol der telematischen Entwicklungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Für viele, die noch nie online waren, ist es das ferne Zeichen einer nahen aber doch noch verschleierten Zukunft. Wer bereits connected ist, ahnt wohl schon, wie wenig Geheimnis sich tatsächlich hinter dem Schleier verbirgt.
Der erste Online-Rausch ist vorbei, und es ist an der Zeit, einen vom Hype unverstellten Blick auf die realistischen Chancen und Risiken der Netzwelten zu werfen. Doch das ist gar nicht so einfach. In, aber vielleicht auch gerade wegen seiner kurzen Geschichte ist das Internet zugleich mehr als ein real-existierendes Symbol modernster Kommunikationsmedien. Das Internet ist vor allem ein Mythos.
Geisterwelten im Cyberspace.
Der Mythos namens Internet setzt sich zusammen aus einzelnen Visionen, kollektiven Utopien, aus den euphorischen Erwartungen der Netizens und ihren euphemistischen Beschreibungen realer Projekte. Dabei erzählt der Mythos die Geschichte der Entwicklung der Netze noch einmal - und er erzählt sie Insidern wie Outsidern gleichermaßen als Geschichte der Entstehung einer neuen Welt, der Welt des Cyberspace. In dieser Welt sind die Grenzen von Raum und Zeit aufgehoben. Treten wir ein, sind wir in der Lage, beliebige Distanzen mühelos zu überwinden, und zugleich sind wir befreit von der Gebundenheit an temporäre Konstanten. Es gibt für die Bewohner dieser neuen Welt keine Grenzen mehr, alle sind hier mit allen verbunden, die virtuelle Gemeinschaft (Howard Rheingold) ist zugleich als eine ideale gedacht.
In der narrativen Welt der Mythen hat sich immer schon der einzelne mit dem und den anderen versöhnt. Durch den Anschluß an solche phantastische Versprechungen gelingt der telematischen Kultur die Rückbindung an kosmologische Einheitsrituale. Im Verschmelzen mit dem Meer der Informations- und Datenfluten mag manchen ein ozeanisches Gefühl (Freud) überkommen, die Verheißung eines Erlebnisses geradezu mystischer Qualität.
Endlich, so beschwört es die von George Gilder, Alvin Toffler und anderen im Sommer 1994 verfaßte und mittlerweile bereits legendäre Magna Charta for the Knowledge Age, haben in der neuen Welt die "Mächte des Geistes... über die rohen Kräfte der Dinge gesiegt".
"Unsere Welt", so John Perry Barlow in seiner jüngst publizierten Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace dazu, "ist überall und nirgends, und sie ist nicht dort, wo Körper leben. [...] Es gibt im Cyberspace keine Materie."
Diese vermeintlich bereits entstehende Welt des Geistes ist und bleibt allerdings wohl doch eine Geisterwelt. Ihre Beschwörung sagt wenig über die Zukunft der Netze. Sie verrät aber viel über die Wünsche, Ängste und ideologischen Verirrungen derer, die sie aussprechen. So ist das mit Mythen: Sie sind Reaktionen auf unsere Unsicherheiten; im Falle des Mythos Internet der Unsicherheit ob des Neuen, was da auf uns zukommen mag.
Der Angriff der Zukunft auf die Gegenwart
Spezifisch für den Mythos Internet ist dabei die Tatsache, daß er die Entstehung einer zukünftigen Welt so erzählt, als hätte sie bereits stattgefunden. Hat sie natürlich nicht - und doch ist eine gewisse Anwesenheit der Zukunft in der Gegenwart tatsächlich ein signifikantes Phänomen der Welt auf dem Weg in die sogenannte Informationsgesellschaft (was immer das heißen mag). Diese anwesende Zukunft aber ist anwesend eher als Frage, denn als Antwort, nur abstrakt, noch nicht konkret: Wie sie aussehen wird, ja selbst, ob sie eintreffen wird, bleibt ungewiß.
Mit Ungewißheiten mögen Menschen nicht leben. Bereits Platon, Feind der Dichter und selber einer, hat in seinen Dialogen immer dort auf mythische Erzählungen zurückgegriffen, wo seine philosophische Reflexion zwar interessante und wichtige Fragen entdeckte, die Antworten aber nicht zu nennen vermochte. Das ist im Fall des Mythos Internet nicht anders: Auf die theoretisch uneinholbare Komplexität und die jeder Systematik sich entziehende Unübersichtlichkeit der Netzwelt etwa antwortet der Mythos mit dem Entwurf einer neuen Einheit. Den hohen Abstraktionsgrad wiederum, der die technologischen Entwicklungen des digitalen Raums ebenso kennzeichnet wie die Erfahrungen, die wir in ihm machen, kontert die Anschaulichkeit des mythischen Narrativs. Dabei ist es gerade angesichts dieses Abstraktionsgrads nicht verwunderlich, daß im Mythos Internet auch Philosopheme auftauchen, die die akademische Philosophie als längst erledigt ansah. Das Leib-Seele-Problem, das im Dualismus von Geist und Materie sich versteckt, ist nur eines davon.
Il n'y a pas d'hors net.
Jeder Mythos transportiert seine eigene Mischung aus Dichtung und Wahrheit. Auch das ist beim Mythos Internet nicht anders. Wahr ist zum Beispiel, daß wir im Netz allerdings die Tatsache einer partiellen Aufhebung der Präsenz beobachten können, d.h. die tendezielle Emanzipation von der Angewiesenheit auf eine temporäre oder lokale Gegenwärtigkeit als wichtiger Voraussetzung für jede Art von Kommunikation. Mit dem Netz als dem Leitmedium der sich formenden Mediengesellschaft geht ein Prozeß zunehmender Deterritorialisierung unserer Kommunikationsverhältnisse ebenso einher wie die Überführung der bisher doch überwiegend synchronen in eine nunmehr asychrone Ordnung des medialen Austauschs. Einfacher gesagt: Wir können nicht nur unabhängig vom konkreten Ort, sondern auch in prinzipiell beliebiger zeitlicher Verschiebung unseren privaten oder beruflichen Datentransfer erledigen.
Indem die Übertragung einfacher oder komplexer Handlungsabläufe in die Netze ihre Akteure vom Druck der Gegenwärtigkeit befreit, erweist sie sich als vorerst letzte Stufe des kulturgeschichtlichen Entwicklungsprozesses namens Zivilisation, der sich unter anderem eben dadurch auszeichnet, daß er die zunehmende Entfernung der Menschen von der Angewiesenheit auf den bloßen, reinen Gegenwartsbezug bewirkt, besser: ermöglicht hat. (Was ich damit meine, kann man sich nirgends leichter verdeutlichen als am Beispiel der Schrift. Ihre Erfindung erlaubte es schließlich erstmals, über zeit- und räumliche Distanzen hinweg miteinander überhaupt zu kommunizieren. Man denke an den versiegelten Brief, der als vollwertiger Stellvertreter seines Absenders galt und dessen Befugnisse übernehmen konnte.)
Bemerkenswert ist dabei, wie das Netzwerk der Computer, wie die elektronischen Telekommunikationstechnologien ihren Beitrag zur Zivilisationsgeschichte leisten. Sie entlasten uns vom Druck der Gegenwärtigkeit allein durch ihre Gegenwart. Die Aufhebung der Präsenz erfolgt durch die Realisierung eines zeit- und raumübergreifenden Präsens im Netz. Das klingt abstrakt. Man kann es auch anders sagen: Im Netz ist alles immer da. Man selber kann kommen und gehen wann, woher und wohin man will.
Utopisch sind solche Szenarien nur mehr zum Teil. Für diejenigen - und dies werden in absehbarer Zeit die meisten Bürger der entwickelten Industrienationen sein -, die die raum- und zeittranszendierende Macht des Netzes benutzen, läßt sich der Satz von eben auch umkehren: Nicht nur ist im Netz alles immer gleich präsent - auch das Netz selbst ist, wo und was auch immer man tut, immer schon da. (Konnte vor einigen Jahren noch Baudrillard den abendländischen Geist mit der Feststellung, daß es kein Jenseits der Simulation mehr gebe, provozieren, so gilt es heute anzuerkennen, daß es schon bald und in immer mehr Bereichen richtig ist, in leichter Abwandlung einer prominenten These von Derrida zu sagen:) Es gibt kein Außerhalb des Netzes.
Die Realisierung solcher Allgegenwärtigkeit bedeutet dann allerdings nicht weniger als eine radikale Verschiebung der Realität. Doch Vorsicht! Sowenig eine partielleAufhebung der Präsenz durch die raum- und zeittranszendierende Macht der Netze gleich das gesamte Raum-Zeit-Kontinuum außer Kraft setzt, ist eine Verschiebung der Realität durch die telematischen Technologien bereits ein Indiz auf ihr Verschwinden im virtuellen Raum. Nur in diesem Falle allerdings einer tatsächlichen Aufhebung der durch raum-zeitliche Konstanten bestimmten Realität würde der Gang in den Cyberspace zu jenem ontologischen Paradigmenwechsel, wie ihn der Mythos durch die Beschwörung einer vom materiellem Ballast befreiten Welt des Geistes impliziert.
Magische Räume
Wahr ist allerdings auch, daß bereits der gegenwärtige Stand der VR-Technologien am Horizont Erfahrungen erahnen läßt, die tatsächlich - wie der amerikanische Philosoph Michael Heim (The Metaphysics of Virtual Reality, Oxford UP 1993.) ausführt - eine ontologische Herausforderung darstellen könnten. Mit einer Überwindung unserer materiellen Existenzweise allerdings hat die es nicht zu tun. Im Gegenteil.
Marshall McLuhan hat bekanntlich bereits in den sechziger Jahren die elektronischen Medien als magische Kanäle beschrieben, welche noch die entferntesten Orte der Erde zu dem einen Global Village verbinden. Dieser Metapher nun hat die Geschichte längst Recht gegeben - wenn auch die magischen Kanäle heute eher als magische Räume beschrieben werden müßten. Damit, würde McLuhan sagen, hat sich die wahre Natur der Medien verwirklicht - ihr Vermögen zur Verdichtung und Vereinigung all dessen, was vorher geteilt und spezialisiert war. Dieses Vermögen nun verbindet sich mit einer spezifischen Eigenschaft aller Medien: Sie erweitern unsere Sinne - und damit unsere Körper. Sie befreien uns nicht von ihnen! Medien werden in der Benutzung ein Teil des Benutzers. Die Erweiterung unserer sinnlichen Wahrnehmungsorgane durch mediale Tentakel ist folglich richtig zu verstehen nicht als Auflösung, sondern als Ausweitung des Einzelnen in den digitalen Raum.
Zur ontologischen Herausforderung wird die virtuelle Realität der Netzwelt dementsprechend gerade dadurch, daß der Mensch von morgen eventuell sich mit all seinen Sinnen in einem Raum veränderter Raum-Zeit-Koordinaten bewegen wird. Die gegenwärtigen Kommunikationsformen des Internet sind dazu vielleicht ein erster Schritt; durch die Integration von Ton- und Bildmaterial erlaubt das World Wide Web schon heute - wenn auch noch auf recht primitive Weise - eine zumindest zwei Sinne gemeinsam erfassende Reise in den Cyberspace. Im Netz eine Tendenz der Entmaterialisierung zu sehen, ist eine Verkennung der Materialität auch der eigenen sinnlicher Erfahrungen. Der Mythos der Immaterialität und Körperlosigkeit aber ist im Grunde eine textbasierte Illusion - noch orientiert an der antiquierten Kommunikationsweise des frühen Internet.
The Mind in the Machine
Vor allem aber ist die pathetische Beschwörung einer vermeintlichen Befreiung des Geistes durch die Überwindung der Materie als falsch verstandene und längst hinfällige Überwindung des cartesianischen Dualismus von Leib und Seele ein Rückfall in die rationalistische Metaphysik und ihr reduktionistisches Bild des Menschen. Für deren Denken hat Gilbert Ryle den schönen Begriff vom Mind in the Machine geprägt. Er konnte ja nicht ahnen, wie aktuell seine Metapher einmal werden würde: Wer euphemistisch die Möglichkeiten des Cyberspace zur Überschreitung transzendentaler Bedingungen der menschlichen Existenz und somit auch des Denkens preist, der reduziert in Wirklichkeit das Denken auf die technologischen Bedingungen der telematischen Medien.
Hinter der Erzählung des Mythos Internet verbergen sich Maschinenträume
. Der Traum von der Auflösung des Körpers im Medium ist dabei nicht der einzige. Man denke nur an die Geschichte von der fortschreitenden Verbesserung unserer Kommunikationsverhältnisse durch ihre permanente Beschleunigung und Vereinfachung. Diese Geschichte folgt - darauf hat jüngst Clifford Stoll in seinem Buch Die Wüste Internet hingewiesen - jener Logik der Computer, in der Leistung und Geschwindigkeit identisch sind (einer Logik, der wir die schnelleren Maschinen und ihre Hersteller die volleren Kassen verdanken.) Hinter der Übertragung dieser technologischen Formel auf die Dimension intersubjektiver Verständigung steckt das Mißverständnis der Kommunikation als ein Problem, das es zu lösen gelte. Die ideale Kommunikation, die sich nach Beseitigung des Problems ergeben würde, aber wäre keine mehr - so, wie der ideale Bewohner der Netzwelt am Ende einer wäre, den es dank seiner vollständigen Immersion im Datenstrom gar nicht mehr gibt.
Die Realität ist an dieser Stelle dann tatsächlich verschwunden - wenn auch nicht im Cyberspace, sondern nur in seiner Beschreibung. In der Wirklichkeit haben wir zum Glück ganz andere Probleme. Statt als schwerelose digitale Avatare, aufgelöst in Pixel und Bits, mit Lichtgeschwindigkeit durch den Cyberspace zu rauschen, hocken wir vor dem Bildschirm und warten. Die aktuellen Übertragungsschwierigkeiten aber, so lästig sie sind, erinnern an eine wichtige Tatsache: Zu kommunizieren, und um nichts anderes geht es im Netz, ist eine Aufgabe, der wir uns immer wieder neu stellen müssen, aber kein Problem. Sie bedarf der Anstrengung, keiner Lösung. Und die können uns Medien nicht abnehmen.