Cyberspace, Neoliberalismus und inverser Panoptismus
Das politische Unbewußte der Cyberdemocracy
...auf Mitleid durfte man hier nicht hoffen, und es war ganz richtig, was Karl in dieser Hinsicht über Amerika gelesen hatte; nur die Glücklichen schienen hier ihr Glück zwischen den unbekümmerten Gesichtern ihrer Umgebung wahrhaft zu genießen.
Franz Kafka, Amerika
Die "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace" geht an der Frage der Konstituierung des Subjekts in der modernen Gesellschaft vorbei, die sich im Begriff des Panoptikums konzentriert. Ein informationstechnisch zu realisierendes "inverses Panoptikum", eine gläserne Bürokratie, wäre mit der Entwicklung einer Ethik zu verbinden, die auf die künftigen Bedürfnisse des Menschen in der Informationsgesellschaft hin zugeschnitten werden sollte.
$-Lib im Cyberspace?
John Perry Barlow verfasste im Februar 1996 als Reaktion auf Zensurbestrebungen durch den "Telecommunication Reform Act" der US-Bundesregierung eine Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace, die heute zu den am meisten im Internet zirkulierenden Dateien gehören soll. Seine Kritiker Geert Lovink und Pit Schultz sprechen im Anti-Barlow von "plumper Rhetorik"; dies stimmt aus europäischer, nicht jedoch aus US-amerikanischer Sicht. Der Massenerfolg, den der nicht besonders einfallsreiche SF-Kinofilm "Independence Day" erzielte, zeigt, daß Barlow einen Nervenknoten des "gesunden Volksempfindens" der US-Amerikaner getroffen hat. Barlow orientierte sich am Gründungsdokument der USA, was natürlich nicht bei jedem patriotische Gefühle wecken kann. Die Barlow-Kritiker Barbrook und Cameron verweisen in ihrer Kalifornischen Ideologie zu Recht auch auf die Tradition der Sklaverei in den USA.
Kritik an Barlow soll keineswegs bedeuten, die Zensurpolitik Clintons zu billigen. Die Maßnahmen wirken ohnehin für europäische Ohren unverständlich: Warum sollten die mächtigen USA ausgerechnet durch die Verwendung des Wortes "Motherfucker" (und sechs weiterer Obszönitäten) gefährdet sein? Man könnte hier einen tief verwurzelten Ödipuskomplex vermuten, der orthodoxen Freudianern gute Geschäfte verspricht. Barlows Plädoyer für freie Meinungsäußerung weckt keine Kritik, vielmehr ist es seine totale Blindheit gegenüber sozialer Ungerechtigkeit, die nur als Naivität oder Zynismus gedeutet werden kann. Florian Rötzer weist daraufhin, daß diese Blindheit heute als Teil des sogenannten "Neoliberalismus" zur dominierende Ideologie der Marktwirtschaften zu werden droht.
Man könnte diesen Rückgriff auf traditionelle Ideen der Aufklärung vielleicht treffender als $-Lib bezeichnen, da sie Freiheit auf die Freiheit des Dollars oder seiner Besitzer reduziert. Bereits Ende der 70er Jahre wies der französische Philosoph Jean-Francois Lyotard auf eine aus der IuK-Technologie und deren Folge, der Kommerzialisierung des Wissens, abzuleitende Tendenz zur Deregulierung hin. Der Staat würde einer "Ideologie kommunikativer Transparenz" als ein Faktor des "Rauschens" erscheinen, was sich heute in der neoliberalen Forderung nach Deregulierung als Argumentation gegen staatliche Ineffizienz wiederfinden läßt. Die von Barlow vertretene "kalifornische Ideologie" einer angenommenen "virtuellen Klasse" mittlerweile gutsituierter Ex-Hippies soll sozusagen den progressiven Flügel dieser $-Lib-Ideologie darstellen. Man möchte den Staat abschaffen - bis auf genau jene Funktionen, die die eigenen Privilegien (Eigentum, Informationszugang) schützen, ihn zum Nachtwächterstaat degenerieren. Alles andere wird als "ineffizient" verdammt, da Geld dem $-Lib das Maß aller Dinge ist. Menschliches Leid interessiert nur insoweit als sich aus ihm Profit schlagen läßt (Privatisierung sozialer Dienste, vgl. Fritz Sack ) oder es sich als Kostenfaktor erweist (z.B. als Kriminalität).
Die Naivität der "Kalifornischen Ideologie" zeigt sich in Barlows Zustandsbeschreibung des Cyberspace: "Wir erschaffen eine Welt, die alle betreten können ohne Bevorzugung oder Vorurteil bezüglich Rasse, Wohlstand, militärischer Macht oder Herkunft." Diese negative Aufzählung liest sich eher wie ein Who-is-who des Cyberspace, des Raumes der Weißen, der Reichen, der Militärs und (aus anderen Kreisen bestenfalls) der Wohlgeborenen. Diese Kluft zwischen elitärer Sache und völkischem Pathos reizte die Widersacher Barlows so sehr, daß andere kritische Fragen gar nicht gestellt werden konnten. Etwa die Frage, nach dem Datenschutz und die Frage, ob der jetzige Cyberspace des Internet wirklich so demokratisch und unabhängig von Tyrannei ist, wie Barlow meint. Marc Gisor bemerkt, daß viele scheinbar demokratische Prozeduren im Internet, etwa das Einrichten von Usegroups, eher einer feudalistischen Dramaturgie folgen, daß Netz-Gurus (wie z.B. Barlow), Organisationsleader und führende Techniker die Rolle lokaler Burgherren in bestimmten Regionen der Wissensgeografie einnehmen. Barlow hinterfragt nicht die Herkunft des Cyberspace und die ihm möglicherweise innewohnenden Tücken.
Subjekt und Panoptismus
Eine europäische Aufgabe bei der Diskussion des Cyberspace könnte es deshalb sein, daran zu erinnern, daß unsere westliche Kultur neben den Menschenrechten auch ein effektives System der Disziplinierung des Menschen hervorgebracht hat, dessen Kernidee der französische Philosoph Michel Foucault in der sozialen Maschine des Panoptikums lokalisierte. Eine Reflektion der Problematik sollte zunächst den Zusammenhang dieses Panoptikums mit den von Barlow vertretenen Idealen diskutieren, um sein "politisches Unbewußtes" aufzudecken sowie die daraus resultierenden Probleme aufzuzeigen.
Trifft der deutschsprachige Leser auf das Wort Panoptikum, so denkt er an ein Wachsfigurenkabinett. Ursprünglich bezeichnete "panopticon" jedoch eine spezielle Gefängnisarchitektur Jeremy Benthams, des Begründers des Utilitarismus. Benthams architektonische Erfindung besteht aus einem Rundbau, welcher durch einen Beobachtungsturm im Zentrum die nach innen hin einsehbaren Zellen der permanenten Überwachung aussetzt. Die Gefangenen des Panoptikums sehen den Wächter nicht, sind aber ständig einer potentiellen Überwachung ausgesetzt, die ein andauernd diszipliniertes Verhalten erzwingen soll. Diese Konstruktion erinnert nicht zufällig an George Orwells Dystopie vom totalen Überwachungsstaat. Der Orwellsche "Televisor" wirkt heute freilich, angesichts von Internet- und Sensortechnik, nicht weniger anachronistisch als das von Bentham empfohlene Lauschröhrensystem zum Abhören der Zellen.
Michel Foucaults 1977 präsentierte Analyse der Disziplinargesellschaft sieht im Panoptikum den Kern des utilitaristisch-demokratischen Gesellschaftsmodells und betrachtet es gleichzeitig als Metapher der bürgerlichen Gesellschaft. Wichtiger als die konkrete architektonische Umsetzung erscheint Foucault die Idee des Panoptismus, die in den verschiedensten Bereichen (Schulen, Hospitälern, Fabriken) in der einen oder anderen Form Fuß fassen konnte: Die disziplinierende Beobachtung vieler durch wenige (Schüler durch Lehrer, Arbeiter durch Vorarbeiter, Bürger durch Verwaltungsbeamte), die schon der sozialen Grundstruktur eingeschrieben ist. Bentham ging es einerseits darum, eine vollkommene Disziplinarinstitution zu entwerfen, aber andererseits auch um eine Methode, die Disziplinen vielseitig und diffus verteilt in der ganzen Gesellschaft wirken zu lassen. Die in dieser Erfindung und ihren sozialen Ausformulierungen disziplinierten Individuen bilden die Basis für die modernen Massendemokratien.
An der Wiege unseres heutigen "way of life", steht die Eroberung der Gesellschaft durch soziale Maschinen im Gefolge von Benthams Panoptikon. Diese wurden benötigt, um die Individuen so zu disziplinieren, daß sie der politischen Rechte einer modernen Demokratie würdig werden konnten - in den Augen der damaligen Elite (siehe Melossi ). Das utilitaristische Menschenbild Benthams lebt bis heute weiter im homo oeconomicus der Wirtschaftswissenschaften, auf dem letztlich die $-Lib bzw. der "Neoliberalismus" basiert. Die freie, selbstorganisierende Steuerung durch das Medium Geld braucht eine zentrale Kontrollstelle, die die Strukturen aufrecht erhält, also z.B. um Falschmünzer zu verfolgen.
Foucault betrachtet den Panoptismus als allgemeines Prinzip der Konstituierung des bürgerlichen Subjekts: autonom und frei in den Grenzen, die die Zentralgewalt setzt und durch ständige Kontrolle aufrecht erhält. Er zeigt damit die unmittelbare Verknüpfung der Freiheiten mit disziplinierenden Mechanismen auf, die die Begrenzung der "Zelle der Autonomie und Freiheit", die das Subjekt bewohnt, ja, aus der es letztlich als Subjekt besteht, festlegen. Konkreter: Wenn wir als Schulkind lernen müssen stillzusitzen, als Soldat zu tun, was der vorgesetzte Offizier sagt, als Patient für real zu halten, was ein Psychiater zur gesunden Wahrnehmung erklärt, dann konstituieren wir uns damit als Subjekt. Dieses Subjekt paßt in den Raum, der durch die Grenzen der Freiheit definiert wird, d.h. durch die körperliche Unversehrtheit, das Fernmeldegeheimnis, das Recht auf Privateigentum etc. Bisher scheint ein Gleichgewicht zwischen Machtmechanismen und Subjektkonstitution zu bestehen (auch wenn es nicht zum versprochenen "größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl" führt). Doch was ist, wenn sich diese Grenzen ändern? Wenn technische Möglichkeiten "dem Subjekt" neue Möglichkeitsräume eröffnen, also eigentlich das Subjekt erweitern? Oder wenn andererseits der Zentralgewalt neue Möglichkeiten der Überwachung und Disziplinierung zuwachsen - also eigentlich das Subjekt einer Neukonstituierung unterworfen wird? Das Gleichgewicht muß neu austariert werden, und das ist eine politische Fragestellung.
Progressive oder Liberale werden die Möglichkeitsräume begeistert begrüßen und Überwachung ablehnen; konservative Gemüter werden sich eher auf die Mißbrauchsmöglichkeiten konzentrieren, vor Kriminalität und Anarchie warnen und verstärkte Kontrollmechanismen fordern. Genau dies passiert derzeit in Bezug auf das Internet. In Barlows Erklärung wird der (unbewußte) Wunsch deutlich, den überwachenden Blick des Panoptikums umzukehren: Die Insassen sind es leid, in ihren Zellen dem Blick des unsichtbaren Verwalters preisgegeben zu sein. Sie fordern eine Invertierung jener Kontrolle, die sich durch technologische Entwicklungen gerade zu potenzieren droht. Barlow übersieht jedoch, daß die von diesem Mechanismus abhängige Verteilung von Macht und Wohlstand sich mit dieser Invertierung des Blickes ebenfalls verschieben könnte. Er bedenkt weder die positiven Folgen, die dies für die soziale Gerechtigkeit haben könnte (wenn etwa die gläsernen Bankkonten das Ausmaß ungerechter Steuerverteilung sichtbar machen würden), noch bedenkt er die Gegenwehr, die unter diesem Aspekt sicher viel heftiger zu erwarten ist als es der vorgeschobene, banale Zwist um die Zensur der sieben "schlimmen Worte" vermuten ließe.
"Inverses Panoptikum" versus "Super-Panoptikum"
Der kalifornische Historiker Mark Poster kam 1995 bei der Entwicklung der Theorie von einem digitalen Zweiten Medienzeitalter zu dem Schluß, Datenbanken und die in ihnen angehäuften Informationen über den Bürger seien der Grundstock eines neuen "Super-Panoptikums". Fest steht, daß Datenbanken viele Interessenten finden, und wer wäre nicht skeptisch, wenn Vertreter der Firma Siemens 1996 beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik verkünden, die technischen Mittel für die digitale Sicherheit im 21. Jahrhundert wären vorhanden? (Kruse ) Doch sowohl die liberale Kritik, Datenbanken seien eine Gefahr für die bürgerliche Freiheit, als auch die soziale Kritik, sie würden die Macht zugunsten der Besitzenden verschieben, greifen zu kurz, wie Poster bemerkt. In einer neuen Ära der Befragung des Subjekts werden Datenbanken vielmehr die Subjektkonstitution verändern, indem sie es multiplizieren und dezentrieren. Wie sich dies auf uns, die "realen" Subjekte, auswirkt, und was zu tun sein könnte, ist dabei die spannendste Frage. Die allzu wörtliche Interpretation dieser Formulierungen hat sich in der erfolglosen Suche nach den psychischen Pathologien des Computers und multiplen Persönlichkeiten als Sackgasse erwiesen. Der Einfluß erfolgt vielmehr über eine politische und soziale Wandlungsprozesse der Gesellschaften.
Das "inverse Panoptikum" könnte man als unbewußte Reflexion des disziplinierenden Panoptikums interpretieren. Es impliziert eine Umkehr der kontrollierenden Blickrichtung und damit eine Lockerung der Zentralmacht über die Peripherie, wobei es jedoch gilt, dezentrale Mechanismen zur Vermeidung sozialen Unrechts zu entwickeln. Der amerikanische Freedom of Information Act kann immerhin den Weg zu einer demokratischeren Informationsgesellschaft weisen. Einen ähnlichen Weg beschreitet auch die am 4.1.1997 auf der Wartburg verkündete Online MagnaCharta. Die Unterzeichner nahmen sich das jüngst verabschiedete Telekommunikationsgesetz der Bundesregierung sowie einige Zensurmaßnahmen deutscher Provenienz im Internet zum Anlaß, für die Freiheitrechte des elektronischen Kommunizierens einzutreten. Der Cyberspace wird auch hier dem Territorium eines internationalen Weltstaates gleichgesetzt, in dem andere Freiheitsrechte gelten als in den Nationalstaaten. Ein schöner Gedanke, der die aktuell seitens der großen Konzerne permanent zur Begründung für das Rollback von Arbeitnehmerrechten postulierte Globalisierung einmal andersherum deutet - im Sinne eines Weltbürgertums europäischer Prägung.
Leider zeigt die derzeitige Bonner Diskussion über ein Kryptografiegesetz zur Beschneidung privater Verschlüsselungstechniken, daß die Administration ganz andere Vorstellungen hat (Multimediagesetz, Multimediadienste-Staatsvertrag), obwohl der direkte Zugriff des Bürgers auf alle staatlichen Informationen eine neue Säule der Legitimation der demokratischen Gemeinwesen schaffen und so dem Zerfall der politischen Institutionen entgegenwirken könnte. Wenigstens einige Facetten der "multiplen Subjekte" müssen der parlamentarischen Demokratie erhalten bleiben, denn ohne Bürgerbeteiligung kann sie nicht existieren. Die bereits 1979 von Lyotard in seinem "Postmodernen Wissen" geforderte Öffnung der Datenbanken für die Allgemeinheit wäre ein wichtiger Beitrag zur Eroberung des Cyberspace durch den Menschen.
Mit dem Verbreiten von Unabhängigkeitserklärungen im Internet ist es allerdings nicht getan. Bedenkt man, daß Computernetze und Datenbanken die ideale Technologie eines elektronischen Panoptismus sind, so erweist sich die Frage danach, was wir mit dem kommenden Cyberspace machen wollen (oder was wir wollen, daß er mit uns macht) als politische, aber auch als soziale Problematik. Sie bedarf keinesfalls nur technologischer Lösungen. Es wird dort auch um die Verteilung von Macht bis hinunter zu einer Ebene gehen, die in die Konstituierung der Subjekte hinein reicht. Die Auswirkung auf diese Subjekte wird sorgfältig zu beobachten sein, und zwar auch auf solche Subjekte, die nicht zu den Glücklichen zählen, die nicht mit ihrer "Homepage" im Internet präsent sind und daher im Amerika des Cyberspace (wie Kafka vermutete) auch nicht auf Mitleid hoffen können.
Menschliches Leid und soziale Probleme verschwinden nicht, wenn ihre Bilder in einer bunten Flut von Infotainment versenkt werden. Medienseelige Beteuerungen dieser Art von Seiten ästhetisierender Nihilisten dürften sich schnell als Eigentor erweisen. Die Freiheit, Probleme zu lösen, setzt die Fähigkeit voraus, Probleme erkennen zu können. Die Knotenpunkte des Internet, die Suchmaschinen, bedürfen einer demokratischen Kontrolle, seine möglicherweise "feudalistischen" Strukturen sollten kritisch beobachtet werden. Schulen und Universitäten dürfen künftig über der "Computerliteracy" nicht die Entwicklung und Vermittlung einer Ethik vernachlässigen, die den Bedürfnissen des in der Informationsgesellschaft lebenden Menschen angemessen ist. Dem Obdachlosen ist nicht damit geholfen, wenn man ihm seine warme Suppe am Internet-Terminal verabreicht. Er braucht Wohnraum, Schulbildung, eine Perspektive. Das inverse Panoptikum ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber es muß um eine soziale Praxis ergänzt werden, die menschliche Bedürfnisse vor den freien Fluß der Information und des Geldes setzt.