Cyborg, Warp und Sonnensegel
Wie in einer europäischen Behörde Fiktion und Wissenschaft verschmelzen
Eine Behörde, irgendwo in Europa, 2003: Zahlreiche Experten aus der Wissenschaft brüten über 35 technischen Dossiers, 50 Datenblättern und 250 detaillierten Beschreibungen noch nie da gewesener Technologien. Eine ihrer Aufgaben: neue Antriebsmöglichkeiten für Raumschiffe auf ihre praktische Umsetzbarkeit prüfen.
Zu den untersuchten Innovationen gehören zum Beispiel interstellare Staustrahltriebwerke, Sonnen- oder Lichtsegel, Antimaterieantrieb, Ionentriebwerke, Raum-Zeit-Krümmung oder der Impulsantrieb. Diese neuen Technologien wurden jedoch nicht von Physikern oder Ingenieuren in Forschungslabors ertüftelt, sondern entstammen allesamt der Science-Fiction-Literatur des vorangegangenen Jahrtausends.
Die Leitfragen der Gutachter lautet: Welche dieser Technologien ist es wert, in Forschungsprojekten weiterzuverfolgen? Sowie: Welche anderen wissenschaftlichen oder technologischen Voraussetzungen erfordert dies? Als Grundlage für ihre Arbeit verwenden sie sogenannte "Factsheets", die alles Bekannte über Herkunft, Funktion und Realitätsgehalt der Technologien zusammenfassen.
So ist etwa in dem "Factsheet" über den Warp-Antrieb als Quellenangabe zu erfahren: "Roddenberry, Gene. Star Trek. Fernsehsendungen und Kinofilme. 1960er bis Gegenwart". Ein weiterer Absatz beschreibt dann die quasi-wissenschaftlichen Grundlagen des Antriebs: Durch die Krümmung von Raum und Zeit ermöglicht diese Technologie Geschwindigkeiten jenseits der Lichtgeschwindigkeit. Nur auf diese Weise werden Weltraumreisen auch in abgelegene Sonnensysteme überhaupt erst denkbar.
Gleichzeitig steht jedoch auch geschrieben, dass in physikalischen Fachzeitschriften seit Jahren kontrovers diskutiert wird, ob der Warp-Antrieb technisch machbar ist. Das zentrale Problem ist, dass diese Antriebsform gewaltige Energiemengen benötigt. Diese können aber nur neue Energiequellen wie etwa Antimateriekraftwerke bereitstellen. Das "Factsheet" schließt deshalb mit der Feststellung, dass die Warp-Technologie gegenwärtig noch nicht verwirklichbar scheint, da wichtige technische Voraussetzungen schlicht noch nicht existieren.
Diese Arbeit ist Teil des Projektes "Innovative Technologien aus der Science-fiction für weltraumtechnische Verwendungen" (ITSF) der Europäischen Weltraumbehörde (ESA) und ihrer 16 Mitgliedsländern. Das Durchforsten von alten Science-Fiction-Büchern und -Filmen hat im Jahr 2000 begonnen. Die Leiter wollten schließlich rechtzeitig zum Jahr 2001 die ersten Ergebnisse präsentieren, denn dieser Zeitpunkt besitzt durch Arthur C. Clarkes und Stanley Kubricks gleichnamigen Film für die Science-Fiction-Gemeinde eine starke symbolische Bedeutung.
Ende 2002 erschien der Ergebnisbericht auch auf Deutsch. Diese Broschüre enthält neben den Beschreibungen der wichtigsten Weltraum-Technologien und ihrer literarischen Ursprünge zahlreiche Illustrationen unter anderem aus amerikanischen Groschenromanen der 1940er und 1950er Jahren. In Heften wie "Startling Stories" oder "Amazing Stories" veröffentlichten damals Autoren wie John W. Campbell, Isaac Asimov oder Jack Williamson ihre legendären "harten" Science-Fiction-Stories.
"Harte" Science-Fiction kennzeichnet im Gegensatz zu spekulativer Science-Fiction, dass neue Technologien eine tragende Rolle für Aufbau und Fortgang der fiktiven Handlung innehaben. Dabei ließen sich Autoren seit Cyrano de Bergerac, Jules Verne oder H. G. Wells immer auch von den aktuellen technologischen Innovationen ihrer Zeit inspirieren. Sie versuchten sich jedoch stets vorzustellen, welche spektakulären Weiterentwicklungen sich in Zukunft daraus ergeben würden.
Allein die Zeit und damit der Fortgang der Wissenschaft entscheidet aber darüber, welche der vorgestellten technologischen Innovationen phantastisch bleiben und welche wirklich umsetzbar sind. Daher unterscheiden sich vergangene technologische Phantasien, die mittlerweile zur Realität gehören, und heutige Einfällen, die möglicherweise erst in Zukunft verwirklichbar sind, auch nicht grundlegend.
Tragbare Kommunikationsgeräte und Computer sind mittlerweile in alltäglicher Verwendung, zwar nicht unter der alten "Star Trek"-Bezeichnung "Kommunikator", sondern als "Handy" oder "Handheld". Auf Überkopfanzeigen ("head-up-display") lesen sowohl Kampfpiloten als auch Fahrer von modernen Luxusautomobilen die wichtigsten Daten für Navigation und Steuerung ab. Unabhängig voneinander berichteten Forscher in den USA, Australien und Europa, sie hätten eine Art von Teleportation oder "Beamen" entdeckt. Und auch Sonnensegel wurden mittlerweile erfolgreich getestet: Eine Kooperation der ESA und des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) hat ein nur 20m mal 20m großes Segel aus Kohlefaser und Aluminium für die Anwendung im Weltraum entwickelt.
Obwohl die wichtigste Phase des Science-Fiction-Projektes mittlerweile abgeschlossen ist, können interessierte Science-Fiction-Fans immer noch Hinweise auf bislang nicht erfasste fiktive Technologien mit einem Online-Formular einsenden. Daneben wird auch eine elektronische Diskussionsliste angeboten und gegen Ende Juli 2003 will das Projekt die Gewinner des Clarke-Bradbury-Wettbewerbs für die technologisch überzeugendste Science-Fiction-Geschichte bekannt geben.
Der deutsche Technikphilosoph und Kybernetiker Gotthard Günther schrieb 1952 in seinem Aufsatz Die Entdeckung Amerikas und die Sache mit der Weltraum-Literatur von einer "planetarischen Zivilisation", die ausgehend von Amerika sowohl die alteuropäische Geisteswelt als auch die östliche Metaphysik ablösen würde. Als wichtigstes Anzeichen für das Dämmern dieser neuen weltgeschichtlichen Ära nahm er die Begeisterung der Amerikaner für Science-Fiction-Stories.
Heute erreicht die klassische amerikanische Science-Fiction-Literatur also eine eng mit der Europäischen Union zusammenarbeitende Behörde mit einem Etat von 2,8 Milliarden Euro und beinahe 1.900 Mitarbeitern. Vielleicht weist diese Tatsache darauf hin, dass mit einem halben Jahrhundert Verspätung nun auch Europa in der planetarischen Zivilisation angekommen ist.