Damaskus unter Beschuss: Israel rückt nach Syrien vor
Israel fliegt Luftangriffe auf Syrien und rückt vor. Netanjahu erklärt Rückzugsabkommen von 1974 für "gescheitert". UN und Weltgemeinschaft befürchten Eskalation.
Nach dem Sturz des syrischen Machthabers Baschar al-Assad durch Rebellengruppen hat Israel mit massiven Luftangriffen auf Ziele in Syrien begonnen.
Laut Angaben der in Großbritannien ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (Sohr) flog die israelische Luftwaffe in den vergangenen zwei Tagen mehr als 250 Angriffe auf militärische Ziele im ganzen Land, darunter auch in der Hauptstadt Damaskus. Vor deren Toren sollen inzwischen auch israelische Bodentruppen stehen.
Bei den Luftangriffen seien Forschungseinrichtungen mit mutmaßlichen Verbindungen zur Produktion chemischer Waffen, Raketensysteme, Waffenlager, Flughäfen, Marineschiffe und Stellungen der Luftabwehr getroffen worden. Es seien die "schwersten Angriffe in der Geschichte Syriens", erklärte Sohr-Leiter Rami Abdel-Rahman gegenüber der dpa.
Waffen sollen "nicht in falsche Hände geraten"
Die israelische Regierung begründete die Angriffe mit dem Schutz der eigenen Bevölkerung. Man wolle verhindern, dass Waffen "in die Hände von Extremisten fallen", nachdem das Assad-Regime gestürzt wurde, erklärte Israels Außenminister Gideon Saar in Jerusalem.
"Deshalb greifen wir strategische Waffensysteme an, wie zum Beispiel verbliebene chemische Waffen oder Langstreckenraketen", so Saar. Man habe kein Interesse, sich in innere Angelegenheiten Syriens einzumischen.
Premierminister Benjamin Netanjahu sprach nach dem Fall Assads von einem "historischen Tag im Nahen Osten". Assads Syrien sei "das wichtigste Glied in Irans Achse des Bösen" gewesen.
Israel wolle nun "ein anderes Syrien", das sowohl Israel als auch den Syrern zugutekomme. Der jüdische Staat etabliere sich zu einem "Machtzentrum in der Region, wie es seit Jahrzehnten nicht mehr der Fall war".
IDF offenbar kurz vor Damaskus
Unterdessen sind Bodentruppen der israelischen Armee (IDF) auf Teile der entmilitarisierten Pufferzone auf den besetzten Golanhöhen vorgedrungen, die Israel 1967 erobert und 1981 annektiert hatte. Die Truppen seien unter anderem auf den Berg Hermon auf syrischer Seite vorgerückt, der strategisch bedeutsam ist.
Laut der Faktencheck-Agentur Sanad von Al Jazeera reicht die Präsenz mittlerweile bis zu 18 Kilometer tief in syrisches Gebiet und liegt nicht mehr weit von Damaskus entfernt. Syrischen Quellen zu Folge sind israelische Bodentruppen inzwischen nur noch 25 Kilometer von Damaskus entfernt.
Israel bestreitet, mit seinen Truppen die Pufferzone verlassen zu haben und betont, bei den Aktivitäten handle es sich um eine vorübergehende defensive Maßnahme.
UN: Israel verstößt gegen Waffenstillstandsabkommen
Der UN-Sicherheitsrat beriet am Montag über die Lage in Syrien. Dabei warfen die Vereinten Nationen Israel vor, mit dem Vorrücken in die Pufferzone gegen ein Waffenstillstandsabkommen von 1974 zu verstoßen. Es brauche den Schutz von Zivilisten und humanitäre Hilfe für Bedürftige, erklärte der russische UN-Botschafter Wassili Nebensja.
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Netanjahu erklärte zuvor, dass er das 1974 zwischen Syrien und Israel geschlossene Abkommen einseitig aufkündige. Er bezeichnete die von den Vereinten Nationen gebilligte Vereinbarung als "gescheitert". Laut Diplomaten arbeitet der Sicherheitsrat an einer Stellungnahme, in der die "territoriale Integrität und Einheit Syriens" betont werden soll.
In deutschen Medien wird der Völkerrechtsbruch weitgehend achselzuckend zur Kenntnis genommen. Der Spiegel sprach gar von einer israelischen "Aufräumaktion" und "Vorwärtsverteidigung".
US-Präsident Joe Biden sicherte dem jordanischen König in einem Telefonat seine Unterstützung für einen "von Syrien geleiteten Übergangsprozess unter Schirmherrschaft der UN" zu.
Deutschland und Frankreich signalisierten unterdessen Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den neuen Machthabern in Syrien, "auf Basis grundlegender Menschenrechte und dem Schutz ethnischer und religiöser Minderheiten", wie ein Sprecher der Bundesregierung erklärte.
Die von der islamistischen Miliz HTS angeführten Rebellen hatten am Wochenende die Hauptstadt Damaskus erobert und das Ende der Assad-Herrschaft verkündet. Die Islamisten werden von westlichen Staaten als Terrororganisation eingestuft.
Die HTS kündigte an, eine Liste mit den Namen von Regimevertretern zu veröffentlichen, die an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sein sollen.