"Damit aus Phantasien keine Taten werden"
Ein Projekt der Berliner Charité will potenzielle Sexualtäter therapieren
„Einsperren und zwar für immer“ hat Bundeskanzler Schröder gefordert und damit einer großen Allgemeinheit aus dem Herzen gesprochen. Wann immer eine kleine Levke, einer kleiner Tobias getötet wird, schwappt der Volkszorn hoch, werden Strafverschärfungen gefordert und in regelmäßigen Abständen auch durchgeführt. Darin erschöpft sich das gesellschaftliche „Engagement“ dann aber auch schon.
Das Projekt „Prävention von sexuellem Missbrauch im Dunkelfeld“, das in diesen Tagen am Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin des Universitätsklinikums Charité in Berlin startet, beschreitet einen neuen Weg: Es wird versuchen, Männer mit auf Kindern gerichteten Sexualphantasien zu therapieren, um Missbrauch zu verhindern. Es ist das weltweit erste Projekt dieser Art.
Potenzielle Täter im Dunkelfeld
Rund 20.000 Kinder werden laut Polizeistatistik jährlich Opfer sexueller Übergriffe. Und es besteht Einigkeit darüber, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist. Nach einer repräsentativen Erhebung der Allgemeinbevölkerung werden 8,6 Prozent aller Mädchen, 2,8 Prozent der Jungen und 13,3 Prozent aller Frauen im Laufe ihres Lebens Opfer sexueller Übergriffe. In keinem anderen Kriminalitätsbereich der „Delikte am Menschen“ ist die Dunkelziffer größer. Doch was weiß man über die Täter im Dunkelfeld?
„Die Personengruppe, um die es in diesem Projekt geht (potenzielle Täter), ist weitgehend unerforscht und nicht gleichzusetzen mit Sexualstraftätern“, erklärt Christoph Joseph Ahlers, Klinischer Psychologe am Institut für Sexualmedizin der Charité, der das Projekt in den vergangenen drei Jahren mit entwickelt hat.
Sind alle Sexualtäter pädophil?
Sexualtäter sind keine homogene Gruppe. Laut Ahlers gibt es unter denen, die potenziell Übergriffe auf Kinder begehen, drei verschiedene Typen: Männer, die ausschließlich durch vorpubertäre Kinderkörper sexuell erregbar sind. Männer, die mit Erwachsenen sexuell erlebnisfähig sind, die aber nebenbei auch durch Kinder sexuell erregbar sind. Sie leben häufig unauffällig in Partnerschaften und Familien. Und es gibt drittens Männer, die sexuelle Übergriffe auf Kinder begehen, ohne dass sie sexuell auf Kinder ausgerichtet sind.
Bei der überwiegenden Mehrzahl derer, die wegen sexuellen Kindesmissbrauchs verurteilt werden, weiß keiner genau, warum sie die Tat begangen haben, denn nur zirka ein Viertel aller Täter wird überhaupt begutachtet.
Da man bei dieser Gruppe in der Regel also nicht weiß, warum wer was getan hat, können wir hier auch nicht pauschal von Pädophilie sprechen. Die überwiegenden Fälle von sexuellem Missbrauch geschehen aus dem familiären Umfeld heraus. Es sind z. B. Väter, Onkel, Brüder es ist also wahrscheinlich, dass sie nicht pädophil sind. Ihre sexuellen Handlungen sind möglicherweise Ersatz für eigentlich erwünschte sexuelle Kontakte mit altersanalogen Partnerinnen.
Häufig findet sich bei ihnen eine Gemengelage unterschiedlicher Problemfaktoren: z. B. zerbrochene partnerschaftliche Beziehung, sozialer Abstieg, wirtschaftliche Probleme, Alkoholabhängigkeit. Dann kommt es zu einer Allianzbildung mit Kindern. Die werden damit überfrachtet, werden zum Ersatzpartner stilisiert, und diese Verbindung wird dann von den Männern sexualisiert. Doch das sind keine Taten, die aufgrund einer entsprechenden sexuellen Neigung zustande kommen und haben deswegen auch nichts mit Pädophilie zu tun.
In den Medien wird Pädophilie undifferenziert mit Kindesmissbrauch gleichgesetzt, aber das ist falsch. Die überwiegende Zahl Betroffener, die wir hier am Institut als Pädophile kennen lernen, begehen keine Übergriffe. Diese Personen haben in der Regel schon aus sich heraus ein Problembewusstsein bzw. versuchen, sich mit ihrer Problematik auseinanderzusetzen. Sie wollen selber keine sexuellen Übergriffe begehen und wünschen sich therapeutische Hilfe dabei, ihr Verhalten kontrollieren zu können und das ohne gerichtlichen Druck oder Ähnliches.
Christoph Joseph Ahlers im Interview mit Telepolis
Ein Prozent der männlichen Bevölkerung
Viele pädophile Männer leiden unter ihrer sexuellen Neigung, u.a. auch, weil sie die öffentliche Meinung darüber selber teilen. Doch wer Hilfe sucht, tut sich schwer welche zu finden, denn präventive Therapiemöglichkeiten für sexuelle Präferenz- und Verhaltensstörungen sind so gut wie nicht vorhanden. Es gehört zu den Tabus, mit denen der Bereich Sexualität befrachtet ist, dass Diagnostik und Behandlung sexueller Störungen weder Gegenstand einer Facharzt- oder Fachtherapeutenausbildung, noch Gegenstand des Leistungskataloges der Krankenkassen sind. Die Folge ist, dass es im ambulanten Bereich so gut wie keine qualifizierten Therapieangebote gibt. Die Behandlung partnerschaftlicher und sexueller Störungen ist explizit von der Kostenübernahme der Kassen ausgeschlossen.
Wer beispielsweise heute sagt, er sei Napoleon, bei dem wird rasch eine Schizophrenie diagnostiziert und innerhalb weniger Tage ist er in einem geschlossenen Versorgungssystem. Wer jedoch merkt, dass er sich nur in Kinder verliebt bzw. dass er Kinder als sexuell erregend erlebt, der hat in unserem Gesundheitssystem keine Anlaufstelle. Dabei kommt Pädophilie nach allem, was wir wissen in etwa so häufig vor, wie Schizophrenie (etwa ein Prozent der Gesamtbevölkerung), ist aber mit einem höheren Fremdgefährdungspotenzial verbunden. Das bedeutet, dass die Gesellschaft für eine Patientengruppe mit einer ähnlichen Größenordnung wie Schizophrene, aber höherem Fremdgefährdungspotenzial keine therapeutischen Angebote bereithält, gleichzeitig aber ein kollektives Unwerturteil über die Betroffenen spricht, falls etwas passiert.
Christoph Joseph Ahlers
Den sicheren Umgang mit der eigenen Sexualität lernen
Mit dem Präventionsprojekt am Institut für Sexualmedizin der Charité gibt es erstmals eine Therapiemöglichkeit, die präventiv ansetzt. 180 Plätze stehen zur Verfügung. Sie sind ein Angebot an Männer, die bislang noch nicht übergriffig geworden sind, aber fürchten, sexuelle Übergriffe auf Kinder begehen zu können. Des Weiteren werden Männer aufgenommen, die bereits Übergriffe begangen haben, aber den Strafverfolgungsbehörden noch nicht bekannt sind sowie Täter, die in der Vergangenheit sexuelle Übergriffe auf Kinder begingen, dafür verurteilt wurden, ihre Strafe verbüßt haben und nicht mehr unter der Aufsicht der Justiz stehen. Teilnahmewillige müssen bezüglich ihrer auf Kinder bezogenen sexuellen Impulse über ein Problembewusstsein verfügen. Die Therapie ist kostenlos und durch die ärztliche Schweigepflicht geschützt, Anonymität ist also garantiert.
Wie wird therapiert? Alle Interessenten werden eingehend untersucht und die resultierenden Teilnehmer nach dem Zufallsprinzip entweder einer Gruppen- oder Einzeltherapie oder einer Kontrollgruppe zugewiesen. Der Behandlungsansatz (die so genannte Dissexualitäts-Therapie) besteht aus einer integrierten bzw. kombinierten Psycho- und Pharmakotherapie, der verhaltenstherapeutische sowie spezielle sexualmedizinische Behandlungskonzepte zugrunde liegen.
Eigenverantwortlichkeit statt Heilung
Eine Heilung im Sinne einer Löschung des ursächlichen Problems – die sexuellen Impulse bezogen auf Kinder – steht jedoch nicht in Aussicht. Das ist laut Ahlers nach dem derzeitigen Stand des sexualmedizinischen Wissens nicht möglich. Der Schwerpunkt liegt auf dem sicheren Umgang mit den eigenen sexuellen Bedürfnissen. Ziel ist es, im Rahmen der Therapie Wahrnehmungs- und Interpretationsfehler aufzudecken und die Fähigkeit zur Einfühlung und Perspektivenübernahme sowie vor allem zur Verhaltenskontrolle zu trainieren.
„Im Verlauf des Therapieprogramms können die Betroffenen lernen, dass sie an ihren sexuellen Gefühlen nicht schuld sind, aber für ihr sexuelles Verhalten verantwortlich“, beschreibt Ahlers. Sie müssen lernen, mit ihren sexuellen Bedürfnissen und Impulsen so umzugehen, dass weder Kinder noch sie selbst Schaden nehmen. Das ist das realistische Therapieziel. Dass es keine Heilung im Sinne einer Löschung gibt, gilt für sämtliche psychische und Verhaltensstörungen. Auch Angstpatienten werden beispielsweise von ihrer Angst nicht geheilt, sondern sie lernen im Rahmen einer Behandlung so damit umzugehen, dass sie keine Schwierigkeiten mehr haben. „Das Problem bei unserer Indikation ist eben, dass neben der Selbstgefährdung, auch eine Fremdgefährdungspotenzial vorliegt. Das macht die besondere Brisanz aus.“
Wirksamkeit der Therapien testen
Mit dem Projekt wollen die Berliner Sexualwissenschaftler dazu beitragen, die Häufigkeit sexueller Übergriffe auf Kinder durch die Etablierung qualifizierter präventiver ambulanter Therapieangebote zu senken und die Schwellenängste Betroffener bezüglich der Inanspruchnahme einer Therapie zu senken. Das Projekt will zeigen, dass es eine zuverlässige Diagnostik und eine wirksame Behandlung gibt.
Die Frage, ob man Sexualstraftäter therapieren kann oder nicht, ist pauschal nicht beantwortbar und sie zeugt von Unverständnis, denn sie wirft nur drei weitere Fragen auf: Welche Art von Sexualstraftäter ist gemeint? Die verschiedenen Tätertypen unterscheiden sich gewaltig einige kann man behandeln, andere nicht. Was heißt therapieren? Erfolgreich behandeln kann man, heilen im Sinne von Weg-Machen nicht. Was heißt Erfolg? Eine Behandlung ist dann erfolgreich, wenn der Betroffene es schafft, keine sexuellen Übergriffe zu begehen. Auch dafür möchten wir mit unserem Projekt sensibilisieren. Und wir wollen zeigen, dass man, wenn man die Personengruppe, die diese Probleme hat, sachverständig untersucht, auch herausfinden kann, was sie hat, und wenn man das weiß, weiß man, warum sie zu welchen Handlungen neigt und kann sie entsprechend gezielt behandeln.
Christoph Joseph Ahlers
Informationen zum Präventionsprojekt gibt es im Web. Interessenten können sich für das Therapieprogramm anmelden unter der Telefonnummer: 030/450 529 450 sowie unter der E-Mail praevention@charite.de.