Dante Reloaded
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Zum 700. Todestag von Dante Alighieri, oder: Warum das Werk des Dichters auch im 21. Jahrhundert noch wirkt
Gottes Licht
Als er vor siebenhundert Jahren, am 14. September 1321, noch vor dem Morgengrauen, in Ravenna starb, geschah das in der Verbannung. Wir können uns das sehr gut vorstellen, im Dritten Reich mussten viele Deutsche ins Ausland fliehen. Heute ist es umgekehrt, viele Bedrohte aus anderen Ländern suchen Zuflucht bei uns.
Dante konnte nie in die Stadt, in der er geboren wurde, zurückkehren. Er wäre dort hingerichtet worden. So starb er im Exil, im Alter von fünfundsechzig Jahren, nach einer langen Irrfahrt.
Doch nicht dieses Schicksal der Vertreibung, das er auch mit vielen bedeutenden Autoren teilt, mit Mandelstam, Musil oder Pessoa, macht Dante so berühmt, sondern sein Beitrag zur Kunst und zur Kulturgeschichte, die "Göttliche Komödie", die er noch vor seinem Tode vollendete.
Es war nicht ganz so wie bei Jürgen Kuczynski, dem brillanten Historiker, der an seinem letzten Abend in Berlin-Pankow seinen letzten Beitrag für die Tageszeitung junge Welt fertig geschrieben auf den Tisch legte. Nein, Dante hatte sein großes Werk schon 1320 veröffentlicht. Es erzählt seine Wanderung durchs Jenseits, hinab ins Inferno und hinauf ins Paradies, wo die Seligen sich wie die Blütenblätter einer Rose um Gottes Licht scharen.
Dante steht ebenbürtig neben den Großen der Literatur, neben Homer und Shakespeare, nur dass seine Urheberschaft gesichert ist.
In der Commedia kulminierten das Wissen und Gewissen der Antike und des Mittelalters in dem Versuch, die persönliche Erfahrung und die Geschichte, die Fragen der Zeit und das Schicksal jedes Einzelnen zu vereinen.
Indem er den Gestorbenen nach ihren Taten die ewige Strafe oder Belohnung zuweist, setzte er ihnen ein Denkmal. Es ist ein buntes Who-is-who des Mittelalters, uns begegnen Ahnen und Zeitgenossen, Freunde und Feinde, antike und mythologische Figuren.
Den grausamen Papst Bonifazius VIII, der aufmüpfige Mönche schon mal mit der Zunge an die Haustüre nageln ließ, verbannte er schon zu Lebzeiten ins Höllenfeuer.
Poesie als Revolution
Nachdem er 1302 im Trubel der Kämpfe zwischen kaisertreuen Ghibellinen und papsttreuen Guelfen aus seiner Heimatstadt fliehen musste, schrieb er sein großes Werk auf Italienisch, in Volgare, und nicht mehr auf Latein, was bis dahin die Hochsprache der Kultur gewesen war.
Wissen hörte auf, das Privileg weniger Gelehrter zu sein, wurde Vielen zugänglich, und man fing an, die Antworten auf die großen Fragen nicht mehr nur in der Heiligen Schrift und bei Aristoteles zu suchen, sondern durch den Gebrauch der Vernunft.
Der Leser gewinnt bei Dante also zugleich ein neues Verständnis für Religion, ein kulturhistorisches sozusagen. Er lernt, sie nicht mehr bloß als naiven Aberglauben anzusehen, der sie heute allenthalben ist, sondern als die vorwissenschaftliche Weltanschauung des Abendlandes, die als Vorstufe zu Aufklärung und Moderne nötig war.
Als Student der Romanistik bereitete ich mein Vordiplom in Bologna vor, wo unser Poet im Exil wahrscheinlich für kurze Zeit gelehrt hat oder wo er zumindest Zugang zu vielen Büchern fand. Bologna war damals wie heute eine wichtige Universitätsstadt, und unweit von Piazza Verdi hatte ich ein Zimmer gefunden.
In der Via Zamboni 36 gibt es über der geisteswissenschaftlichen Bibliothek drei besondere Lesesäle: Der Erste belebt, der zweite ein lichter Zwischenraum, der dritte ein kreisrundes stilles Refugium. Die Studenten haben die drei Räume Inferno, Purgatorio und Paradiso getauft, nach den drei Kapiteln der Divina Commedia.
Ich war immer im Inferno, da konnte man sich unterhalten, ohne zu stören. Einem Mädchen mit kurzen Haaren, das mir ins Auge gefallen war, hielt ich einmal die Saaltür zum Hinuntergehen auf und lief dann neben ihr dem Ausgang zu. Da sagte mein verliebter Mund in gebrochenem Italienisch: "Ich wünschte, es gäbe tausend Türen, um sie dir aufzuhalten!" "Molto gentile", erwiderte sie anmutig - sehr freundlich - und ging dann zur rechten und ich zur linken Seite hinaus.
Liebe und Vernunft
Vielleicht hat Dante die Göttliche Komödie nur geschrieben, um ihr darin wieder zu begegnen: Beatrice Portinari, in die er sich als Neunjähriger verliebte und die jung gestorben ist.
Unverheiratete Frauen im Florenz des Mittelalters lebten getrennt von den Männern und verließen nur in Begleitung das Haus. Die beiden haben sich nur wenige Male gesehen und vielleicht nur ein einziges Mal Worte gewechselt. In einem Brief an einen Freund führte Dante einmal siebzig Frauennamen auf, nur um den ihren einschieben zu können! "Liebe" war damals eine Neuigkeit, wie aus den provokanten Versbriefen, die Freunde sich schrieben, hervorgeht.
Der Dante-Biograf Alessandro Barbero bemerkt, dass die idealisierende Liebe ein kindliches, platonisches, asexuelles Gefühl ist, das Dante sein Leben lang analysierte und dem Verstand unterzuordnen versuchte.
Vor seiner Verbannung war er zwar verheiratet und hatte Kinder, er trennte sich aber von ihnen. Wichtiger war ihm sein Werk der Vernunft, und seine Verse "Fatti non foste a viver come bruti / ma per seguir virtute e conoscenza", zu Deutsch: Ihr seid Menschen und nicht Tiere und gemacht, um nach Tugend und Wissen zu streben, die jeder italienische Gymnasiast auswendig weiß, klingen noch heute nach.
Die Göttliche Komödie beginnt ja damit, dass Dante "in der Mitte seines Lebens" in eine Wildnis verschlagen und von Vergil gerettet wird, dem römischen Dichter, den er so verehrte.
Jener leitet ihn hinab ins Totenreich, durch alle Höllenkreise, vorbei an Luzifer, in dessen drei Mäulern die Erzverräter Judas, Brutus und Cassius zermalmt werden, hin durch den Mittelpunkt zur anderen Seite der Erde, die Terrassen des Läuterungsbergs erklimmend, wo die Bußfertigen hoffen, bis hoch zu den Himmelssphären. Da übernimmt es Beatrice, den Verirrten zu führen.
Bertolt Brecht hat in einem seiner herrlich zotigen Sonette sich über Dantes Anbetung ohne sexuelle Erfüllung lustig gemacht, indem er schreibt:
Ach, welche Unsitt bracht er da in Schwang / Als er mit so gewaltigem Lobe lobte / Was er nur angesehen, nicht erprobte! / Seit dieser schon beim bloßen Anblick sang / Gilt, was hübsch aussieht und die Straße quert / Und was nie nass wird, als begehrenswert.
Das ist wohl wahr. Aber welche Literatur haben wir dafür erhalten! Auch Brecht bedient sich des "hohen Stils" des Sonetts, um über einfache menschliche Belange wie die Erotik zu sprechen.
Dante tat dasselbe, indem er aus den Dialekten und umgangssprachlichen Wendungen eine Poesie schuf, die das Menschliche und Alltägliche würdigt und wichtig erscheinen lässt.