Das Eigene und das Fremde: zur Sozialpsychologie der Impfgegnerschaft

Angst entwickelt in der Pandemie eigene Dynamiken – und wir benutzt. Bild: D1_TheOne, Pixabay

Was die Impfdebatte mit der Angst vor dem bösen Wolf zu tun hat und wie Populisten sie in der Pandemie für ihre Zwecke dienstbar machen

Seit die Menschen nicht mehr an Gott glauben, glauben sie nicht etwa an nichts mehr, sondern an alles.

Britischer Schriftsteller und Journalist G.K. Chesterton (1874-1936)

Ein Déjà-vu-Erlebnis jagt das andere. Wir stecken mitten in der vierten Welle, die Infektionszahlen steigen seit Wochen, die Intensivstationen der Krankenhäuser stehen erneut vor dem Kollaps. Die Corona-Impfquote liegt in Deutschland zurzeit bei rund 65 Prozent. Ein Drittel der Bevölkerung ist ungeimpft, und ein nicht unerheblicher Teil dieses Drittels möchte es auch bleiben.

Für die Weigerung, sich impfen zu lassen, werden die unterschiedlichsten Gründe ins Feld geführt. Ich möchte mich auf einige konzentrieren, die dem Bewusstsein nicht unbedingt zugänglich sind, also aus dem Bereich des individuellen und kollektiven Unbewussten stammen.

Ich möchte einschränkend vorausschicken: Was folgt, sind Vermutungen, die sich zwar auf Erfahrungen stützen, aber doch immer Vermutungen und Deutungen bleiben. Ansonsten läuft man Gefahr, in den imperialen Gestus mancher Psychoanalytiker zu verfallen, die ihren Patienten mit der Haltung begegnen, die in Zeiten der Antipsychiatrie so beschrieben wurde: "Was du auch sagst, das, was du sagst, will etwas anderes sagen, und ich bin derjenige, der weiß, was du eigentlich sagen wolltest."

In den aufgeregten Debatten über die Motive der Impfverweigerer und -gegner ist die sozialpsychologische Dimension bislang zu kurz gekommen. Propaganda, hat der Soziologe Leo Löwenthal einmal gesagt, betreibe "umgekehrte Psychoanalyse".

Statt das dumpf im psychischen Untergrund Schwelende und die frei flottierenden Ängste über sich selbst aufzuklären und ins Bewusstsein zu heben, wie es psychoanalytische und aufklärerisch-demokratische Praxis wäre, eignet sich der Populist diesen Rohstoff so an, wie er bereitliegt, und setzt ihn für seine Zwecke in Gang.

Er bedient wieder entflammte Spaltungsneigungen in "nur gut" und "nur böse" und rückt den verunsicherten Menschen einen Feind zurecht, den sie für ihr Unglück verantwortlich machen können. Irgendjemand steckt dahinter!

Das paranoide Geraune hat Konjunktur, dankbar greifen die Leute nach absurdesten Pseudoerklärungen und fallen auf Ammenmärchen rein. Alles scheint besser, als die Ungewissheit eines Schwebezustands aushalten zu müssen, in dem wir uns nun mal befinden.

Mit Ambivalenzen leben zu können, gehört nicht zu den in dieser Kultur geförderten Tugenden. Das virulente Bedürfnis nach Eindeutigkeit kann zu einer Quelle von Fanatismus werden, denn Fanatismus speist sich aus der Verleugnung der Ambivalenz und der Verdrängung des Zweifels. Fanatiker, heißt es bei Georg Christoph Lichtenberg, "sind zu allem fähig, sonst aber zu nichts."

Kapitalistischer Vampirismus

Es wird berichtet, dass sich unter den Demonstranten, die sich gegen die staatlich angeordneten Corona-Maßnahmen wenden, Leute befinden, die zu der Qanon-Bewegung gehören. Diese hat sich in der Regierungszeit von Donald Trump in den USA entwickelt und millionenfach ausgebreitet.

Im Kern besteht die von dieser Gruppierung vorgetragene Verschwörungsideologie in der Behauptung, eine weltweit operierende Elite entführe Kinder, halte sie gefangen, foltere und ermorde sie, um aus ihrem Blut ein Verjüngungselixier herzustellen.

Auch in Deutschland soll Qanon inzwischen weit über einhunderttausend Anhänger haben. Wie kann das sein, dass Leute einen solchen Quatsch glauben? Die Verschwörungserzählungen müssen an etwas andocken, was viele Menschen in sich tragen.

Der Vampirismus, der den Eliten angedichtet wird, könnte die Projektion einer Erfahrung sein, die wir alle machen: Die kapitalistische Gesellschaft erhält sich am Leben, indem sie unsere Arbeitskraft und Lebensenergien einsaugt. Wir werden alle von den Verhältnissen vampirisiert und zombifiziert.

Die Revolution bestünde darin, gemeinsam die Vampire in die Flucht zu schlagen. Der Effekt von Verschwörungsideologien besteht darin, die Vampire aus der Anonymität der Verhältnisse herauszulösen und als verschobene Objekte dingfest und namhaft zu machen: "Die da sind es, die sich durch das Blut unserer Kinder verjüngen!"

Man ruft: Haltet den Dieb! – und lässt den wahren Dieb entkommen. Die wahren Diebe sind allerdings schwer auszumachen. Die Gewalt der Verhältnisse tarnt sich als Technik und versteckt sich hinter Sachzwängen.

Ähnlich könnte es mit der Verschwörungstheorie der Impfgegner funktionieren. Sie besagt, dass Bill Gates uns beim Impfen einen Chip einpflanzt, über den unser Denken und Verhalten ferngesteuert werden kann. Auch dieses Paranoid beinhaltet eine Spur von Wahrheit, nämlich die, dass wir alle mehr oder weniger fremdbestimmt leben und von anderen gesteuert werden.

Wir bilden uns ein, die eigenen Ziele zu verfolgen, dabei sind es Ziele, die man uns mit mehr oder minder sanften Methoden "eingeimpft" hat. Das Impfen ist deswegen ein so heikles und sensibles Thema, weil es tief in unseren Organismus eingreift.

Ein fremder Stoff dringt in uns ein und setzt Prozesse im Körper in Gang, die wir nur schwer oder gar nicht durchschauen. Das Impfen verändert uns. Und genau das scheint das Impfen zu einem Symbol zu machen für andere, pädagogische Strategien der Inbesitznahme. Erziehung implantiert einen fremden Willen in unsere Seelen, der sich dort einnistet wie ein Parasit.

Der Psychoanalytiker und Anarchist Otto Gross hatte ein feines Gespür für diese Vorgänge und sah im Kampf zwischen dem eigenen und dem fremden Willen, dem Eigensinn des Kindes und dem fremden Willen der Eltern, den zentralen seelischen Konflikt und die vielleicht entscheidende Machtfrage.

Das Kind ist dem fremden Willen von Geburt an ausgesetzt und wird in ein Korsett gepresst. Das Fremde gelangt auf dem Weg von Suggestionen in Körper und Seele des Kindes und kann dort zum Fremd-Körper, zum Widerpart, zum Gegen-Willen werden. Das Impfen lädt sich möglicherweise mit solchen uralten Konflikten auf, symbolisiert das Eindringen von etwas Fremdem in unsere Körper.

Implantate

Die weitgehend in Vergessenheit geratene abtrünnige Psychoanalytikerin Alice Miller sprach und schrieb vom "braven Kind". Das "brave Kind" ist ein Typus, den wir alle an uns selbst und anderen gut kennen. Das Kind wird brav, indem und weil es sich dem elterlichen Willen unterwirft.

Meist bleibt dem Kind keine andere Wahl. Die Angewiesenheit des Kindes auf seine Erwachsenen ist zu Anfang seiner Entwicklung beinahe absolut. Die Angst des Kindes vor dem Entzug der mütterlich/elterlichen Zuwendung lässt das Kind auf alle Bedingungen eingehen, die Mutter und Vater mit der Zuwendung verknüpfen.

Es will und muss ihnen gefallen. Es identifiziert sich mit den pädagogischen Quälgeistern und lässt fortan die Eltern und Erzieher in sich wachsen statt seiner selbst. Es verliert den Zugang zu den eigenen Gefühlen und fühlt, was die Eltern fühlen.

Und die haben meist die gesellschaftlich gewünschten und lizenzierten Gefühle. Das Kind wird ein anderes Kind, das Kind, das seine Eltern in ihm sehen und haben wollen. Es wird verfälscht und entwickelt, in der Sprache des englischen Psychoanalytikers D.W. Winnicotts, ein "falsches Selbst".

Die Katastrophe, die in der Zukunft gefürchtet wird, ist in Wahrheit längst eingetreten und liegt im Nebel einer frühkindlichen Amnesie verborgen. Bill Gates wäre also eine Chiffre, eine Tarnadresse, an die die Leute ihre Wut und ihre Empörung schicken, statt sich an die wahren Verursacher zu halten.

Die Eltern werden geschont und können weiter idealisiert werden. Im Inneren von uns allen tobt ein Kampf zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Meist obsiegt schließlich das Fremde, das nach und nach als das Eigene empfunden wird. Aber es bleibt ein vages Gefühl der Selbstentfremdung und eine meiste namenlose Wut.

Diese Wut erhält durch Verschwörungstheorien einen Namen und eine Adresse. Darin besteht ihre psychologische Funktion. Die gesellschaftliche Funktion besteht darin, dass die wahren Verursacher der Misere geschont werden und die aggressiven Energien auf Ersatzobjekte verschoben werden. Wieder wird massenhaft gerufen: Haltet den Dieb!, und der wahre Dieb kann entkommen.

Archaische Spaltungen

In unser aller Bewusstsein sind Rudimente enthalten, die aus einer Zeit stammen, da sich unser Ich aus einem amorphen vor-ichlichen Zustand auskristallisierte. Die psychische Struktur bildet sich unter günstigen Bedingungen aus, anfänglichen Desintegration weicht ersten Ansätzen von Integration, aus Fragmenten wird peu à peu ein Ganzes, also das, was wir "Person" nennen.

Körperliche und seelische Prozesse, Inneres und Äußeres sind zunächst noch nicht getrennt und fließen ineinander. Archaische Spaltungen schützen das noch unintegrierte Ich davor, von Ängsten überflutet und aufgelöst zu werden. Die dadurch ausgelösten Aggressionen werden in "bösen Objekten" deponiert, um die "guten Objekte" vor ihrer zerstörerischen Kraft zu schützen.

Solche, wenn man so will, psychotischen Anteile besitzen wir alle, und je nach Persönlichkeitsstruktur verschaffen sie sich unter bestimmten Bedingungen Zugriff auf die Steuerung unseres Verhaltens.

Mit anderen Worten: Das zweijährige Kind, das sich im Dunklen fürchtet und glaubt, es könne jeden Moment vom bösen Wolf angefallen und verschlungen werden, ist im Erwachsenen noch immer anwesend.

Wenn der Angst- und Panikpegel in der Gesellschaft steigt, regredieren Massen von ansonsten vernünftigen Menschen auf die Stufe archaischer psychischer Vorgänge. Diese kollektive Regression stellt eine viel zu wenig beachtete Gefährdung der Demokratie dar; sie entzieht ihr die sozialpsychologischen Grundlagen und macht die Menschen anfällig für autoritäre oder gar faschistische Lösungen.

Götz Eisenberg ist ein deutscher Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete als Gefängnispsychologe und ist Autor zahlreicher Bücher.