Das Erfolgsrezept der AfD ist die Extreme Mitte

Die Reichtstagskuppel in Berlin

Die Reichtstagskuppel in Berlin. Bild: Shutterstock.com

Der Aufstieg der Partei zur zweitstärksten Kraft wird oft mit einem Rechtsruck in der Bevölkerung erklärt. Das stimmt so nicht. Wie Deutsche in die Arme der AfD getrieben wurden. (Teil 1)

Nach dem vorläufigen Ergebnis zur Bundestagswahl ist die extreme rechte Partei Alternative für Deutschland (AfD) zur zweitstärksten Kraft in Deutschland aufgestiegen. Sie kommt danach auf 20,8 Prozent der Stimmen und verdoppelt damit ihr Ergebnis im Vergleich zur letzten Wahl.

Die konservative CDU/CSU kommt auf 28,5 Prozent. Die bisher regierenden Sozialdemokraten und Grünen werden hingegen abgestraft und erhalten 16,4 bzw. 11,6 Prozent der Stimmen. Einen Erfolg scheint jedoch die Partei Die Linke zu verbuchen, wenn man der Umfrage Glauben schenken darf. Lange Zeit lag sie in Prognosen weit unter der 5-Prozent-Hürde, die für den Einzug in den Bundestag nötig ist.

Doch im Endspurt hat sie bei den letzten Befragungen ihr Ergebnis deutlich steigern können und kommt nach der Prognose nun auf 8,7 Prozent. Vor allem die viral gegangenen Reden der Abgeordneten Heidi Reichinnek gegen die Anti-Migrations-Agenda aller anderen Parteien und für einen echten sozialen Wandel konnten mobilisieren.

Wurzel des Problems wird verschleiert

Von Journalisten und politischen Kommentatoren im Mainstream hört man angesichts des rasanten Aufstiegs der Alternative für Deutschland oft, dass die Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien der Grund ist, warum immer mehr AfD wählen. Die Unzufriedenheit liege vor allem an der "Massenzuwanderung", dem Widerstand gegen Klimaschutz und eine links-liberale Sicht auf die Gesellschaft ("Wokeness") – also eine wachsende Front gegen zu linke, progressive, liberale Politik. Das seien die zentralen Ursachen für den Rechtsruck der Gesellschaft. Darauf müsse die Politik reagieren.

Das ist eine Darstellung, die nicht nur bequem ist und zu falschen Antworten führt, sondern die Realität verzerrt, während sie die Schuld denen zuschiebt, die mutmaßlich gegen eine progressive Politik rebellieren und rückwärtsgewandt denken. Zugleich erscheinen die anderen Parteien und ihre Anhänger als Hort der Vernunft und Moral, die bemüht sind, die Gesellschaft zusammenzuhalten.

Die These vom Rechtsruck in der Bevölkerung als Grund für den rasanten AfD-Aufstieg verschleiert zudem die Wurzel des Problems. Hat man die längere Entwicklung im Blick, sind große Teile der heutigen AfD-Wählerinnen und -Wähler keineswegs von der AfD und ihren besseren Politikangeboten angezogen worden.

AfD-Wähler sind überwiegend nicht rechtsextrem

Vor zehn Jahren, als der Aufstieg der AfD begann, votierten AfD-Wähler:innen überwiegend für den Schutz von Flüchtlingen und viele wollen in Umfragen, wie die Mehrheit der Deutschen, eine faire europäische Lösung bei der Flüchtlingsversorgung. Die meisten verlangen eine soziale Politik, von der sie profitieren würden, da sich viele Arbeitslose und Arbeiter:innen mit niedrigeren Einkommen unter ihnen befinden.

Nur wenige bezeichnen sich als rechtsextrem und "nur" 40 Prozent vertreten ausgeprägt rechte Einstellungen. Und obwohl massiv Stimmung gegen Klimaschutz gemacht wird und die AfD den Klimawandel agressiv leugnet, halten immerhin ein Viertel ihrer Wähler die Energiewende für unverzichtbar. In all diesen Punkten vertritt die AfD eine diametral andere, extreme Position, während ihr neoliberales Programm die Reichen reicher und die Armen ärmer machen würde.

Was tatsächlich stattgefunden hat, ist vielmehr, dass immer größere Teile der Wähler von der sogenannten "Extremen Mitte" in die Arme der AfD getrieben wurden. In gewisser Weise erntet die politische Klasse das, was sie gesät hat, und vergießt nun Krokodilstränen über die Ergebnisse.

Die Extreme Mitte ist ein Begriff, den der britische Intellektuelle Tariq Ali vor zehn Jahren in seinem Buch "The Extreme Centre: A Warning" prägte. Es handelt sich dabei im Kern um das, was man hierzulande "bürgerliche Parteien", "Parteien der politischen Mitte", "etablierte Parteien", manchmal auch "demokratische Parteien" oder "regierungsfähige Parteien" nennt.

Es sind in Deutschland CDU/CSU, SPD, FDP und die Grünen. Sie grenzen sich ab von den "Extremen" am linken und rechten Rand, die sie für eine Gefahr für die Gesellschaft und die Demokratie ansehen und betrachten sich selbst als eine die Interessen ausgleichende, Harmonie herstellende Kraft.

Die extreme Mitte

Die Parteien der sogenannten Mitte hätten sich, so Tariq Ali, ab den 1980er-Jahren in zentralen Politikfeldern ununterscheidbar angeglichen. In den westlichen Industriestaaten sei so eine Art "nationale Einheitsregierung" in den jeweiligen Ländern entstanden. Sie habe eine extreme Politik – darunter die neoliberale Kehrtwende und eine aggressiv ausgerichtete Außenpolitik unter Führung der USA – gegen die Bedürfnisse der breiten Bevölkerung in Gang gesetzt und am Laufen gehalten.

Dabei schrumpfte der Raum für alternative Politikangebote und demokratische Auseinandersetzungen auf ein Minimum. Das hätte ein gefährliches demokratische Vakuum erzeugt. Dieses Vakuum können nun vor allem rechte, rechtspopulistische bis rechtsextreme Parteien für sich nutzen.

Schauen wir uns an, wie die "überparteiliche, über den Spezialinteressen stehende" Politikklasse in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten agierte. Seit den 1990er-Jahren (bzw. schon in den Kohl-Jahren zuvor) wurde in verschiedenen Regierungskoalitionen eine Politik umgesetzt, die dazu führte, dass Deutschland zum Land in Europa mit der größten materiellen und sozialen Ungleichverteilung wurde.

Die etablierten Parteien schufen mit diversen neoliberalen Maßnahmen hoch konzentrierten Reichtum auf der einen Seite. Indes wurden Teile der Mittelschicht finanziell unter Druck gesetzt. Es wurde ein riesiger Niedriglohnsektor aufgebaut, grassierende Armut (insbesondere Kinder- und Altersarmut) erzeugt und der Sozialstaat abgebaut.

Sparen für Arme, Fürsorge für Reiche

Viele Dienstleistungen, auf die sich die Menschen im Land verlassen müssen, um in Sicherheit zu leben, wurden kommerzialisiert, privatisiert und "effektiv" gemacht. Der Zustand der Deutschen Bahn, des Gesundheitssystems, der Renten, der Landwirtschaft, der Immobilienmärkte und der Bildungssysteme zeigt, wohin das geführt hat. Einst in einem vergleichsweise guten Zustand sind diese Infrastrukturen heute dysfunktional, teuer, ungerecht und umweltschädlich.

Die Sparpolitik für Arme und viele Normalbürger sowie der Fürsorgestaat für Reiche und Superreiche hat dazu geführt, dass Deutschland mehr und mehr gespalten wurde – vorwiegend die östlichen Bundesländer wurden nach der Wiedervereinigung von der Ungleichheitspolitik hart betroffen.

Die Agenda 2010 unter der rot-grünen Regierung Anfang der 2000er-Jahre eingeführt und in Kraft gesetzt, mit massivem Druck von Lobbygruppen aus der Wirtschaft sowie von der Businessklasse angeschoben (siehe die mit Dutzenden Millionen Euro in Gang gesetzte Reformbewegung, darunter die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, vom Gesamtmetall-Unternehmerverband angeführt), hat schließlich den Ungleichheitsturbo eingeschaltet. Das hat die unteren und auch die mittleren Schichten ärmer und die Reichen und Hyperreichen phantastisch reicher gemacht.