Das Gehirn der Welt: 1912

Seite 2: Geschichte

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Zur Geschichte der Brücke hat einer der Beteiligten ein Manuskript hinterlassen, das bei aller Rechtfertigung und Beschönigung der eigenen Beteiligung insgesamt doch eine gute Darstellung der Geschehnisse gibt. Adolf Saager war Journalist und firmierte ab 1913 als Redakteur der soeben von Berlin nach München umgezogenen Illustrierten ‘Die Zeit im Bild’.4 Bezeichnenderweise trägt sein Manuskript aus dem Jahr 1921 zwei Titel : Die erste Version "Die Brücke. Ihr Zusammenbruch und Ihr Wiederaufbau" wurde durchgestrichen und vom treffenderen "Die Brücke. Historisches" ersetzt. Der Autor sandte einen Durchschlag mit zahlreichen handschriftlichen Korrekturen und Ergänzungen an Wilhelm Ostwald - ob durch den Titelwechsel auch die zerschlagene Hoffnung auf einen erneuten Versuch signalisiert wurde, ist schwer zu beurteilen.

Saager ist dieser Darstellung jedenfalls um 1910 in München das erste Mal mit Karl W. Bührer zusammengetroffen, einem Vertreter für Geschäftsdrucksachen, Entrepeneur und Idealisten, wie sie sich zu dieser Zeit rund um die Münchner Biertische zuhauf fanden. Der Einfluß jener Biergartenphilosophen auf spätere Generationen ist unleugbar, auch wenn diese Leute wenig oder nichts publiziert haben.5 Bührer hatte in der Schweiz eine Version der illustrierten Sammelkarten vertrieben, die als Firmenwerbung nicht nur den Produkten beigelegt, sondern auch extern verschenkt oder verkauft werden konnten. Das Geschäft war nicht gut gegangen - die Stollwerck’schen oder Zigarettensammelbilder waren in ihrer Produktbindung nicht zu schlagen und obendrein modernste Werbeformen ihrer Zeit 6 - und Bührer bereits nach München ausgewandert, wo ihn bald die Nachricht vom Konkurs seiner Zürcher Mutterfirma erwartete. Nichtsdestotrotz entwickelte er die fixe Idee, dass von einem einheitlichen Druckformat aus die Werbung und die Kunst, die Wissenschaft und Literatur, eben alle Gebiete menschlichen Wissens und Wirkens als Hinterlassenschaften zu organisieren seien.

Saager hatte zu jener Zeit offensichtlich eine Reihe von Texten Wilhelm Ostwalds gelesen, die dieser rund um den Empfang seines Chemie-Nobelpreises als Essays zu allgemeinen Themen publiziert hatte. Er selbst zitiert die Aufsatzsammlungen "Forderung des Tages" und "Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft", aus denen er wohl ein Parallelität der Interessenslagen von Ostwald und Bührer entnahm, was die Vereinheitlichung aller bibliographischen und drucktechnischen Grundlagen des wissenschaftlichen Daten-, Erfahrungs- und Meinungsaustausches anging. Auch wenn Saagers Darstellung einer eigenen Stellungnahme enträt, so ist doch anzunehmen, dass er aus journalistischem Selbstverständnis heraus an die Globalisierung aller Informationen mit wesentlich weniger Skrupeln oder Vorbehalten heranging als alle Wissenschaftler oder Literaten.

Bührer gründete im Juli 1910 mit Saager und einem zweiten, in seiner Darstellung ungenannten Unterzeichner ein "Unternehmen [...] unter der Firma ‘Die Brücke’". Der Name lag also von Anfang an fest und wurde in der bald ausgearbeiteten Vereinssatzung ausführlich begründet:

Die "Brücke" bezweckt die Organisierung der geistigen Arbeit. Diese Organisierung soll auf dem Grundsatz der gegenseitigen Hilfe und freiwillig geleisteter Mitarbeit der Geistesarbeiter fußend, erfolgen [...] durch Überbrückung der Inseln, auf denen zur Zeit die Mehrzahl aller Gesellschaften, Anstalten, Museen, Bibliotheken, Vereine, Firmen und Einzelpersonen noch stehen, die im Dienste der Kultur und Zivilisation tätig sind.

Während Bührer sich alsbald in die Formulierung zahlreicher Vorhaben und Forderungen stürzte, hatte sich Saager die Aufgabe gestellt, das ganze Unternehmen mit journalistischen Mitteln auf fest Grundlagen zu stellen. Er entwarf aus Bührers Vorschlägen ein kleines Programm,7 testete dies wohl bei einigen Münchner Künstlern, Kunsthandwerkern, Architekten und Unternehmern an und schrieb im Herbst oder Winter 1910 eine ausführliche Darstellung aller gemeinsamen Ziele und Möglichkeiten.8 Diese zweite Werk hatte, wie Saager schrieb, den "Hauptzweck [...], Ostwald für unsere Sache zu gewinnen". Im Frühjahr 1911 wurde dem Wissenschaftler ein Korrekturabzug des Buches übersandt, auf den dieser schnell antwortete und die beiden Münchner zu sich nach Groß-Bothen einlud.9 Was den renommierten Wissenschaftler bewogen haben mag, diesen Unbekannten so schnell Gehör und Vertrauen zu schenken, ist wohl kaum zu klären - erstaunlich ist es damals wie heute, selbst angesichts seiner damals enorm weitverzweigten Aktivitäten und Beziehungen.

Wilhelm Ostwald kam noch im Frühjahr 1911 nach München und leitete dort eine Gründungsversammlung der Brücke, bei der eine Satzung beschlossen wurde, die zum 15. Juni 1911 rechtskräftig werden konnte. Neben den Zwecken und Zielen des Unterfangens - die weiter unten im einzelnen geschildert werden - sowie den üblichen Präliminarien eines deutschen Vereins - von den Stufen der Mitgliedschaft über die Wahl der Vorstände und die Arbeit einer Geschäftsführung bis hin zu Rechnungsstellungen - war der entscheidende Passus als "Übergangsbestimmung" im letzten Abschnitt getarnt: In Form einer Stiftung sollte die Brücke erst dann öffentlich aktiv werden, wenn das Grundkapital eine Million Reichsmark betrug; sollte dieses Ziel nicht binnen drei Jahren erreicht sein, ist die ganze Aktion hinfällig. So kam es denn auch; im Juni 1914 übernahmen die Gerichtsvollzieher das Münchner Büro, und die Brücke war endgültig Geschichte geworden.

Zunächst liess sich das Unternehmen jedoch gut an. Wilhelm Ostwald formulierte einen Aufruf "An die Nobel-Preisträger" zum Beitritt, zeichnete aus seinem Nobelpreis einen Betrag von hunderttausend Reichsmark (in jährlichen Raten à zehntausend), und der Brüsseler Bergbau-Unternehmer Solvay stiftete einen ähnlich hohen Betrag zur Anschubfinanzierung. Damit liess sich ein Geschäftsführer finanzieren, ein Büro eröffnen und erhalten, und vor allem konnten erste Druckschriften verfaßt, gedruckt und in alle Welt, mindestens die deutschsprachige, versandt werden. Im Herbst 1911 und Frühjahr 1912 ergoß sich eine wahre Flut von Brücke-Schriften über die interessierte deutsche Öffentlichkeit, und es scheint auch einige positive Resonanz gegeben zu haben. Überregionale Blätter berichteten freundlich und übernahmen einzelne Beiträge vor allem von Wilhelm Ostwald. Manche Unternehmen und Verbände beschlossen, Anregungen der Brücke wie die "Weltformate" in ihre Arbeit zu integrieren; andere wiederum gaben Empfehlungen aus, mittelfristig über derlei Vorhaben nachzudenken.

1912 mietete die Brücke einen eigenen Stand auf der Bayerischen Gewerbeschau in München und zeigte dort Organisationsmittel für Büro und Handel. Der dortige Erfolg sollte sich als Pyrrhussieg erweisen, denn vom Interesse zahlreicher Kleinunternehmer stimuliert, begannen Bührer und Saager sich zu verzetteln. Es erschienen weitere Brücke-Schriften, die sich nun mit der "Kulturmission der Reklame" auseinandersetzten und mit der Gestaltung von Hotel-Drucksachen beschäftigten. Ein Ausschnitt-Archiv von Musikkritiken wurde als erster Teil des Brücke-Archivs angekauft, und K.W. Bührer begann, kleine und kleinste Werbedrucksachen in einer gigantischen Sammlung sogenannter "Kleingraphik" zusammenzuführen. Während Wilhelm Ostwald in Groß-Bothen von supranationalen Wissenschaftler-Vereinigungen, internationalen Hilfssprachen und "einem Zusammenschluss der geistigen Arbeit der gesamten Kulturmenschheit" träumte und die Brücke auch als eine weitere Basis möglicher Friedenssicherung jenseits der politischen Großwetterlage in Europa sah, beschäftigten sich seine Münchner Statthalter mit dem peniblen Aufkleben von Brief-, Rabatt- und Wertmarken auf "Weltformat"-Archivkartons.

Im März 1913 fand eine erste Jahresversammlung der Brücke statt; zu diesem Anlass wurde auch ein Mitgliederverzeichnis herausgegeben. Dieses demonstriert bereits ein erstes Mißverhältnis: Unter 600 Mitgliedern waren weniger als 285 zahlende, und auch deren Beiträge flossen durchaus spärlich, wie gelegentliche Aufrufe in der 1913 herausgegebenen "Brücken-Zeitung" ahnen lassen. Adolf Saager firmierte in Einladung und Mitgliederliste schon nicht mehr als Geschäftsführer, sondern als einfaches Mitglied und Redakteur der Illustrierten ‘Zeit im Bild’. Seiner Darstellung nach muss die Mitgliederversammlung ebenfalls ein relativer Mißerfolg gewesen sein, aber unendlich viel Geld gekostet haben. Zudem wurde im Frühjahr 1913 für die aufwendige "Brücken-Zeitung" und ihre kostenlose Verteilung viel Geld ausgegeben. Karl W. Bührer, vom Zweiten Vorsitzenden zum Geschäftsführer abgestiegen, war inzwischen allein für die tägliche Arbeit der Brücke verantwortlich, und sein anfänglich sehr gutes Verhältnis zu Wilhelm Ostwald dürfte im Verlauf des Jahres 1913 merklich abgekühlt sein. Dennoch war man offiziell weiterhin guten Mutes und plante diverse Ausstellungs- sowie Messebeteiligungen, mit deren Hilfe man die Idee und ihre praktischen Auswirkungen jedermann nahebringen wollte.

Ihr Armageddon erlebte die Brücke im Sommer 1913 bei einer weiteren Bayerischen Gewerbeschau unter dem Thema ‘Büro und Geschäftshaus’ in München. Dort präsentierte das Institut die Bührer’schen Sammlungen von Werbe-, Rabatt- und Briefmarken als gelungene Beispiele der "Organisation geistiger Arbeit" - selbst wenn ein Bonmot des bayerischen Prinzregenten, dann könne man ja auch Champagnerpropfen sammeln, in den Bereich der Legende gehörte, war damit die weltumspannende, kulturübergreifende Idee des Unternehmens genügend diskreditiert. Schlagartig wurde es ruhig um die Brücke; es erschien keine weitere Druckschrift mehr, alle Ausstellungsbeteiligungen wurden abgesagt, die Stiftungsgelder und -zusagen zurückgezogen. Im Juni 1914 versiegelte ein Gerichtsvollzieher das Münchner Büro; und Wilhelm Ostwald, der einen Monat später die Brücke auf der grossen Werkbund-Tagung wie -Ausstellung in Köln hatte präsentieren wollen, musste sich mit einem Redebeitrag zugunsten Hermann Muthesius in der berühmten Typisierungs-Debatte begnügen.10 Weder der Erste Weltkrieg noch eine andere Katastrophe beendete das grossangelegte Unterfangen; das schlichte Unvermögen der beiden Gründer sorgte für einen vorzeitigen und banalen Tod. Wären da nicht die weitgehend von Wilhelm Ostwald formulierten Vorhaben und Ziele gewesen, könnte auch die Idee vergessen werden. So aber lohnt sich aus heutiger Sicht - auch im Sinne einer perspektivischen Verlängerung in die nächste Zukunft - ein genauerer Blick auf die eigentlichen Arbeitsbereiche und Konzepte, für die der Name der Brücke historisch stehen sollte.