Das Gehirn der Welt: 1912
Seite 3: Vorhaben
Es scheint, als habe die Brücken-Idee und -Nomination der beiden Münchner bei Wilhelm Ostwald eine Schleuse geöffnet, so heftig ist sein Ausstoss an Vorschlägen und Publikationen in den Jahren 1911 und 1912. Dabei werden, wie wohl in allen Arbeitsbereichen Ostwalds, Theorie und Praxis unentwirrbar miteinander vermengt und makroökonomische Ideen unter mikroskopischen Perspektiven betrachtet. Dieser Anflug von Chaos im philosophischen Gebäude des Naturwissenschaftlers hat frühere Exegeten an den Rand der Verzweiflung gebracht, 11 erweist sich aber unter den Bedingungen wissenschaftlichen und anderen Datenverkehr am Ende dieses Jahrhunderts als enorm weitsichtig : Allein im pragmatischen Ansatz kann auf eine Hierarchie behandelter Themen und Gegenstände verzichtet werden, darf Kleines und Grosses, scheinbar Wichtiges und Unwichtiges ebenso bruch- wie übergangslos nebeneinander stehen bleiben. Das gilt auch für die Brücke selbst : Ostwald war zu jener Zeit noch in Dutzenden von Organsiationen engagiert, als Vorsitzender im Deutschen Monistenbund, mit Stimme in verschiedenen internationalen Chemikerverbänden wie Nobel-Kommittees, privat auch in eher randständigen Bereichen wie etwa der Kirchenaustritts-Bewegung.
Wilhelm Ostwald gibt gleich in der ersten Publikation der Brücke mit exakt diesem Titel einen Überblick über seine Interessenslagen am Unterfangen wie über die Möglichkeiten ihrer Realisierung. Vom zunehmenden Verkehr ausgehend beschwört Ostwald zunächst die Einheit der Menschheit, um aber sofort auf verschiedene Realisationsformen der Durchsetzung dieser Einheit weiterzugreifen. Prinzipiell sei geistige Arbeit - der Begriff ist mit dem derzeitig inflationären Gebrauch des Wortes Kultur gleichzusetzen - ohnehin internationaler als andere, dennoch seien entsprechende Überlegungen auch für den handwerklichen und vor allem künstlerischen Bereich nötig. Aus biologischen Überlegungen heraus - wobei die Zellteilung wie das Bienenvolk nicht unerwähnt bleiben 12 - entwickelt er einen Organisationsbegriff als Gegenüberstellung von Funktions- (gelegentlich auch Arbeits-)teilung und Funktions- (arbeits-)vereinigung. In letzterem Begriff, der den Zeitgenossen um 1910 offensichtlich nur schwer nahezubringen war, darf ohne weiteres jene Beschreibung kollektiven Verhaltens vermutet werden, die sich durch zahlreiche Theorien autopoiëtischer Prozesse zieht.13 Biomechanistische Modelle waren kurz vor dem Ersten Weltkrieg theoretische Grundlage vieler Aktivitäten, unter anderem auch eine Grundlage der technik-orientierten Avantgarde in den Zwanziger Jahren.14
Von hier aus ergibt sich für Wilhelm Ostwald schlüssig ein mehrstufiges Modell seiner Brücke : zunächst als Vermittlungsstelle für alle möglichen Fragen, Adressen und Arbeiten, "vergleichbar dem telephonischen Zentralamt in einer großen Stadt", dann aber als Basis für alle Formen der Vereinheitlichung von Normen, Formaten und Sprachen. Hier waren sich Ostwald und seine beiden Mitstreiter einig, dass die wesentliche Leistung ihres Unterfangens in der Bereitstellung international gültiger Grundlagen für alle messbaren, also quantifizierbaren Gegenstände liegen sollte - und dies war im Selbstverständnis des positivistischen 19. Jahrhunderts eigentlich alles, worüber Menschen reflektieren und was sie feststellen oder erkennen konnten. Ostwald war jedoch klar, dass "das Organisierbare im unteren Gebiet der geistigen Arbeit zu suchen ist". Die Brücke sollte also das gerade Gegenstück zu den grossen Forschungsanstalten und wissenschaftlichen Laboratorien sein - in allen Brücke-Publikationen wird peinlichst jeder Hinweis auf die Institution der Universität vermieden - und nur die "einfachsten und elementarsten Vorgänge der geistigen Arbeit" organisieren. Es ist genau dieser Ansatz, der die Brücke zum diskursiven Vorläufer des Internet macht : die Festlegung unscheinbarer, sprachähnlicher Grundstrukturen als Basis oder Transfer-Protokoll eines nicht-hierarchischen, fachübergreifenden, chaotischen Austauschs von Wissenspartikeln und -referenzen. Einige diser Strukturen sind im Kontext der Brücke sehr ausführlich, andere allein in halben Nebensätzen thematisiert worden.