Das Gehirn der Welt: 1912
Seite 5: Weltregistratur
Für Wilhelm Ostwald gaben die Weltformate metaphorische Hintergründe für die Verbreitung von Wissen und Gestaltung ab, die vor allem im Bereich der Speicherung des Gewussten und der Erinnerung wirksam werden sollten. War das Gedruckte ohnehin einziger Garant der Veröffentlichung von Forschung, Meinung, Literatur oder Kunst, so repräsentierte es doch nur die eine Seite der Kommunikation, die der Produktion. Für Wissenschaftler und andere jedoch, die sich einem Wissensgebiet zuwandten, war die Beschaffung von Informationen grundlegend - und die war und ist von der Verfügbarkeit medialer Hilfe abhängig. Das Internet ist heute jene Metapher einer Referenz der Referenzen, die nicht jede Frage nach Informationen beantworten kann, aber für fast jede dieser Frage eine, und sei sie noch so fragwürdige, Referenz bereithält. Genau dies war für Ostwald erste Aufgabe der Brücke, die sie umso besser lösen konnte, je genormter und einfacher ihre organisatorischen - heute: programmierbaren - Grundlagen waren.
Während eines Chemiker-Kongresses in Brüssel kurz vor der Jahrhundertwende war er mit Paul Otlet zusammengekommen, dem Leiter des Internationalen Bibliographischen Instituts. Dieser wiederum hatte kurz zuvor das Schlagwortverzeichnis und -schema von Melvil Dewey übernommen, das - nach Massgabe der Kenntnisstände am Ende des 19. Jahrhunderts - die faszinierende Möglichkeit bot, nahezu alle denkbaen Schlagworte in ein System numerischer Zuordnungen zu bringen. Von Anfang an gehörte Otlet zu den Ehren-Mitgliedern der Brücke und zu seinem Organisatoren-Kollegium; und eine der ersten Taten des Teams Bührer / Saager bestand darin, die französische Verschlagwortung des Brüsseler Instituts ins Deutsche zu übertragen. Unter dem Titel "Die Welt-Registratur" wurde jedoch nicht nur dieses System recht ausführlich bis in einzelne Verästelungen vorgestellt, sondern auch ein Hilfsmittel angeführt, das die Bücherei-Karteikarte quasi gleich auf den Buchrücken projizierte. Ein ausgesprochen komplexes Registraturschema aus nicht weniger als neunzehn Einzelpunkten sollte sicherstellen, dass schon bei der Betrachtung der Rückseite einer Druckschrift sämtliche Ab- und Anfragen an den Inhalt beantwortet erschienen.
Die Dewey-Otlet’sche Registratur repräsentiert zunächst einmal den eurozentrischen Blick auf die Welt, was sich an unzähligen Einzelbeispielen vorführen lässt : Unter den Sprachen dieser Welt hat das Plattdeutsche die gleiche Ordnungsnummer wie das Japanische, und die künstlerischen Arbeiten afrikanischer wie australischer Völker finden schon gar keinen Platz im System. Die humanen Wissenschaften sind noch im Sinne des 19. Jahrhunderts geordnet : Da ist die Phrenologie noch der Psychologie gleichgestellt, und letztere ist mit ‘Okkultismus, Spiritismus, Geister, Hallucinationen, Prophetie, Zauberei’ in ein Fach geraten. In der Pädagogik steht die ‘Weibliche Erziehung’ neben allen Schulformen allein, und die ‘Frauenfrage’ ist dem ‘Volksleben’ untergeordnet, neben ‘Kriegsgebräuche (Waffen, Tänze u. ähnl.)’. Diese Systematik belegt wie alle anderen, dass es keine neutralen Ordnungsverfahren gibt - das gilt auch füdie Standards, die heutige Internet-Konferenzen festlegen.
Einiges vom Ansatz weltweiter Kommunikationflüsse heutiger Art nimmt jedoch die Registerkarte vorweg, deren Einzelabfragen gleichwertig nebeneinander stehen und somit beispielsweise dem Designer eines Buches denselben Stellenwert einräumen wie dem Autor. Weitsichtig ist die Bereitstellung zweier Gegenstände und dreier Verknüpfungen, die ziemlich exakt dem durchschnittlichen wissenschaftlichen Gebrauch heutiger Meta-Suchmaschinen entspricht. Auch dem Buchhandel ist Genüge getan : Was derzeit für die Barcode-Inventur nötig ist, fassen die sechs unteren Fächer des Schemas zusammen, inklusive der Preisangabe. Wilhelm Ostwald könnte in diesem System schon eine mögliche Basis für alle Art Fragenkataloge gesehen haben, einen ersten Schritt zum Gehirn der Welt also.
Darauf deutete auch eine weiterer Bestandteil des Bändchens zur Weltregistratur hin; unter dem Titel "Bibliothekenverzeichnis der 325 Grossbibliotheken der Erde" wurde er auch einzeln verkauft. Zur Definition der Grossbibliothek wurde ein Buchbestand von mehr 100.000 Stück angesetzt; die Sortierung erfolgte nach Ländern und Städten, allerdings nicht in der vom Weltregistratur-Schema vorgegebenen Reihenfolge. Adressbücher in dieser Art hätten nach dem Willen der Brücken-Gründer noch zahlreiche erscheinen können und müssen, jedoch waren die Vorschläge Karl W. Bührers für weitere Themen schon ein wenig abseitig. Überhaupt waren die Elaborate der Mitstreiter Ostwalds nicht dazu angetan, die epistemologische Bedeutung einer umfassenden Registratur herauszuarbeiten. Adolf Saager mühte sich redlich, gemeinsam mit Karl W. Bührer die "Organisierung des Druckwerks" auf eine den biederen Handwerkern im Druckgewerbe wie den hochfliegenden Kunstgewerblern des späten Jugendstils gleichermassen passende Ebene zu stellen, was gründlich misslingen musste. Dabei wurden auch noch Kosten-Nutzen-Rechnungen aufgestellt, die den Zeitgenossen ebenso übertrieben wie im Zeitrahmen unbrauchbar erscheinen mussten.
Weitere Beispiele einer Welt-Registratur waren zudem alles andere als vertrauensbildend. Die Brücke begann bereits 1911 mit dem Aufbau eines Brücken-Archivs, das nach dem Willen von Bührer und Saager mehr sein sollte als nur eine Adressenkartei. So wurden im Herbst 1911 zwei Ausschnittsammlungen von Theater- und Musikkritiken gekauft und im Heft "Das Brücken-Archiv I. Allgemeine Gesichtspunkte. Das Keller’sche Musikarchiv" als beispielhafte Grundlagen eines Weltarchivs auf der Basis der Weltregistratur geschildert. Karl W. Bührer begann mit dem Aufbau der geschilderten Sammlung von Rabatt- und Werbemarken und fertigte gemeinsam mit dem Berner Verkehrsamts-Direktor eine umfängliche Liste zur "Organisierung der Hotel-Drucksachen" an, damit die Prospekte von Gasthöfen und Hotels miteinander vergleichbar würden. Auch die Saager’sche "Kulturmission der Reklame" bestand neben der Finanzierung der Brücke vor allem in der Einführung vergleichbarer und damit hoffentlich ehrlicher Kriterien zur Bewerbung von Produkten und Dienstleistungen. Was die wackeren Brücke-Streiter nicht ahnen konnten : Sie leisteten damit genau jenem Overflow an Werbung Vorschub, der die Arbeit und das Spiel im Internet ebenso langweilig macht wie das Zappen durch dreissig privatwirtschaftliche Fernsehkanäle.