Das Gehirn der Welt: 1912
Seite 7: Fernziele
Neben Weltformat, Weltregistratur und Organisatorenkollegium hatten einige andere Ziele der Brücke direkte Anknüpfungspunkte im Alltag des Wissenschaftlers Wilhelm Ostwald. Dem Naturwissenschaftler lagen die Vereinheitlichungen der Masse und Gewichte in aller Welt nahe, und mittels der Brücke hätte das metrische System der Längen, Flächen und Volumina wohl noch schneller eingeführt werden können - am Ende des 20. Jahrhunderts fahren angelsächsische Autos noch Meilen pro Stunde schnell, legen Schiffe ihre Distanzen in Knoten zurück, und Gold wird an der Börse per Feinunze bewertet. In seinen Texten verwies Ostwald mehrfach auf die Bedeutung der Vereinheitlichung im Bereich der Elektrizität, die schon im 19. Jahrhundert einigermassen erfolgreich abgeschlossen war - sie bedurfte nur einiger Nachbesserungen und Nominierungen in den achtziger Jahren unseres Jahrhunderts. Im Todesjahr des Wissenschaftlers einigte sich eine grosse Ingenieurskonferenz in Paris auf die rechnerische Fixierung der Spektralfarben und ihrer Wahrnehmung in der CIE-Figur; wenn er die Nachricht noch erfahren hat, dürfte sie ihn mit grosser Befriedigung erfüllt haben.
Nur kursorisch in seinem "Brücke"-Text erwähnt ist das Projekt, das Wilhelm Ostwald ab 1914 bis zu seinem Tod vollständig in Bewegung hielt und letztlich unvollendet blieb : der Farbenatlas. Heute ist der Ostwald’sche Farbkreis die Sicherung seines Nachruhms ausserhalb der technischen Chemie schlechthin; und niemand, der einen Monitor kalibrieren, eine Bildverarbeitungs-Software nutzen oder auch nur ein komplexes Spiel auf dem heimischen Computer installieren will, kommt um (additive) RGB- oder (subtraktive, für den Ausdruck) CMYK-Farbräume herum, die allesamt auf Ostwalds Farbkreis-Untersuchungen basieren. Neben Albert Henry Munsell, dessen 1916 publizierter Farbkörper die Grundlage der HSL-Programmierung bildet und in engem Kontakt zu Ostwald stand, bildeten diese Untersuchungen bis weit in die siebziger Jahre die weltweit einzige Basis für Farbnormierungen.17 Im Kontext weltumspannender Systeme zur Ordnung und Organisierung von Wissen stellen Farbtheorien eine wichtige Schnittstelle zwischen individueller, letztlich unkommunikabler Wahrnehmung und quantifizierbaren Elementen industrieller Produktion wie wissenschaftlicher Verständigung dar.
Eines der Ostwald’schen Fernziele hat derzeit hohe Konjunktur : die Weltmünze. Dass der Dollar die Funktion einer Leitwährung der Welt übernehmen würde, war vor dem Ersten Weltkrieg sicher nicht abzusehen; und dass heute dem Euro eine ähnliche Karriere bevorstünde, ist fromme Spekulation all derer, die Europa noch für einen produktiven Kontinent halten. Im Zusammenhang aller Brücke-Projekte kann eigentlich nur das digitale Geld, eCash gemeint sein - ein allgegenwärtiges, in jede andere Währung, Dienstleistung oder Kompensation tauschbares Zahlungsmittel ohne jede Schwankung in sich selbst. Die Weltmünze ist vollends virtuell, sonst hiesse sie nicht so.
In einem Punkt allerdings irrte der grosse Wissenschaftler, und an ihm hat er länger festgehalten als an anderen des Brücke-Projekts : die Weltsprache. Schon im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts setzte sich Wilhelm Ostwald für eine relativ unbekannte ‘Welthilfssprache’ namens Ido ein, die gegen die seinerzeit bekannteren Varianten Esperanto und Volapük kaum eine Chance hatte. Ihm werden auch die heftigen Debatten nicht unbekannt geblieben sein, die die 1907 von einer Linguistenkonferenz getroffene Entscheidung, keine dieser Hilfssprachen international anzuerkennen, ausgelöst hatten.18 Dennoch hielt er an der einmal getroffenen Entscheidung fest, fertigte um 1910 ein Fachwörterbuch für die Chemie in ‘Ido’ an und veröffentlichte seinen "Brücke"-Text wie die "Weltformate" in ebensolchen Übersetzungen. Das Interesse an einer - wie er es in allen Texten nannte - ‘Welthilfssprache’ belegt jedoch die Kenntnis der Grundlage aller Brücke-Ideen in sprachlicher Fixierung und linguistischer Repräsentation. Auch sie ist durchgesetzt : Die Sprache des Internets ist ein nahezu auf Nomina reduziertes, in der Orthographie hochkomplexes, dafür grammatikalisch weitgehend verkümmertes Englisch. In dieser Funktion ist es endgültig zur Weltsprache geworden, wie der US-Dollar zur Weltmünze.
Die Summe seiner Nah- und Fernziele mit der Brücke hat Wilhelm Ostwald in einem Text für das Jahrbuch des Deutschen Werkbundes gezogen, dessen Gründungsmitglied er gewesen war.19 Ursprünglich wohl als weitere Werbung für die Brücken-Idee gedacht, bleibt nach Eliminierung des Begriffs allein "der große Schritt, welcher unserer Zeit vorbehalten ist, [...] vom Individualismus zur Organisation". Auch das Zentralorgan, das die Brücke sein sollte, ist noch im Text zu finden - es trägt halt keinen Namen mehr. Was Ostwald in diesem Text selten klar formuliert, ist die Herleitung seiner Ideen, die er nunmehr unter dem Stichwort ‘Norm’ oder zuvor ‘Normierung’ zusammenfasst. Ihm geht es um die vermeintliche Freiheit der Kunst, die sich in romantischer Weise als völlig ungebundener Individualismus verabsolutiert habe und die nunmehr als Epoche zu Ende ginge. Allgemeinste Formen und Gegenstände stünden als Konventionen dem persönlichen Ausdruck individueller Kunst in keiner Weise entgegen, sondern hülfen allein einer neueren, für ihn immer höheren Kultur zur Realisation. "Die Kunst ist durchaus ein soziales Produkt." Geschrieben um die Jahreswende 1913/14, ohne persönliche Kenntnis späterer Avantgardisten und Agitprop-Künstler, ist dieses Axiom Ostwald’scher Verbindung von Kunst und Wissenschaft seiner Zeit weit voraus. Was er von der Bedeutung der Konvention, Norm, Organisation und damit auch Brücke schreibt, lässt sich unter heutigen Auspizien, auch und gerade im Netz der Informationen, im Begriff des Designs zusammenfassen.