Das Gehirn der Welt: 1912
Seite 9: Wirkungen
Die Brücke ist gründlich vergessen worden, wirkungslos ist sie dennoch nicht geblieben. Auch war und ist es nicht allzu schwer, ihre Geschichte zu recherchieren, wovon dieser erste Versuch auch nur einen kleinen Teil präsentieren konnte. Das Weltformat ist in die DIN-Grössen der Druckindustrie eingeflossen, viele Details der Vereinheitlichung von Geld, Sprache, Massen und Gewichten sind bereits realisiert oder endgültig auf dem Weg dazu, Farben und Datentransferprotokolle - das ‘Organisatorische’ im Ostwald’schen Sinne - sind weltweit standardisiert. Wichtiger als diese tatsächlichen Entwicklungen auf der "untersten Kulturstufe" (Wilhelm Ostwald: Das Gehirn der Welt ), wie Ostwald selbst formuliert, sind die Rezeptionsebenen im epistemologischen Bereich.
Wissenschaft - und grosso modo auch Kunst, Literatur, Musik - als einen Bereich menschlichen Denkens und Handelns zu definieren, dessen Bewusstseinsstrukturen von aussen bestimmt werden, dessen Ränder die Terrains der möglichen Operationen abstecken : Hier liegt die eigentliche Leistung Wilhelm Ostwalds und der Brücke. Nicht mehr der individuelle Wissensdrang, nicht mehr die geniale Eingebung und Erfüllung des einsam Schaffenden, nicht mehr der privatistische Sammeltrieb garantieren den Fortschritt menschlichen Wirkens, sondern der Verkehr, die Transportsysteme, die Regeln des Austauschs. Die organisatorische Festlegung wirft zunächst alle bestehenden Wertkategorien, alle Hierarchien über den Haufen und ordnet dem Fluss der Informationen auch die individuelle Bearbeitung unter, mindestens zunächst und im Anfang einer jeden wissenschaftlichen oder künstlerischen Arbeit.
Der Ansatz - sei er nun Wilhelm Ostwald, seinen beiden Brücke-Mitstreitern oder gar der Autopoiesis ihrer Ideenfindungen geschuldet - ist die radikale Umkehrung einer Vorstellung, die sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg häufiger fand und sich im Wagner’schen Begriff des Gesamtkunstwerks am besten fassen lässt.23 Nicht die grosse, nur auf Zeit praktikable und im Ritus gebundene Einheit der Künste und Wissenschaften ist es, was die Brücke suchte, sondern die einfachsten Übergänge zwischen den Inseln des Denkens und Wissens. Was der Einzelne damit machte, welchen Gewinn er daraus zog, war nur solange interessant, als die Nächsten daraus ebenfalls Nutzen ziehen konnten, ansonsten gab es weder Legitimationsdruck noch eine Bewertung des Interesses. Wer sich die verschiedenen Lebensreform-Vorhaben der Zeit um 1910 anschaut, kann sich keinen grösseren Gegensatz als den zur Brücke ausmalen.
Auffällig am Vorhaben und seinen Realisierungsversuchen war die Ferne zur den bestehenden Institutionen von Bildung, Wissenschaft und Kunst. Sicher trugen die Damen und Herren ihre akademischen Titel voller Stolz, doch kaum ein Seminar und schon gar keine Universität oder Akademie trat als Teil der Brücke auf. Für Wilhelm Ostwald, der kurz vor dem Empfang des Nobelpreises die Leipziger Universität und sein dortiges Ordinariat tief enttäuscht verlassen hatte, war das gesamte Bildungssystem des Zweiten Deutschen Kaiserreichs obsolet geworden, verkrustet und in der Gefahr, an der eigenen Bürokratie zu ersticken. Erst diese Distanz zu hierarchisch gegliederten Bildungs-, Vermittlungs-, Sammel- und Archivierungsstätten hat die Dynamik der Brücke-Idee von der Auskunft aller Auskünfte, vom umfassenden Adressen- und Bibliotheksarchiv, vom Gehirn der Welt entstehen lassen.
Hier vor allem liegt die Gemeinsamkeit zu den Internet-Ideen der frühen und mittleren neunziger Jahre: ein nicht-hierarchisches, leicht anarchistisch angehauchtes System der Vermittlung aller Referenzen, die Schaffung einer Gemeinschaft von Wissenden, denen kein Gedanke zu wertlos ist, um ihn nicht in die soziale Kommunikation einfließen zu lassen.24 1912 war dieser Gedanke so romantisch und verklärt wie 1992; und auch das Internet ist kein Allheilmittel für die steinzeitlichen Aggressionstriebe der Menschen untereinander. Aber jeder Schritt auf den ungehinderten, unzensierten, unbewerteten Austausch von Ideen, Informationen und Meinungen zu markiert ein Stück Mediengeschichte, dessen man sich in dem Sinne erinnern sollte, daß man heute nur realisieren kann, was andere zuvor konzipiert haben.